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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Unsre Sozialpolitik

Selbsterhaltung, ganz abgesehen von den Erfordernissen sozialer Kultivierung,
gebietet der Staatsgewalt, daß sie sich zu den unvermeidlichen Konflikten
zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht teilnahmlos verhalte. Wie
weit aber gesetzgeberische Eingriffe zur Regelung der Arbeitsverhältnisse,
Sicherung des Arbeiterschutzes und Förderung der allgemeinen Wohlfahrt zu
gestatten sind, ist eine Frage, deren Beantwortung niemals einheitlich wird
erfolgen können. Im allgemeinen wird das nationale Interesse die Richtschnur
und die ausgleichende Gerechtigkeit den Maßstab der Reglementierung abgeben
müssen. Bei jeder derartigen Abgrenzung der Rechte und Pflichten zwischen
Unternehmern und Arbeitern läuft man aber um so eher Gefahr, auf starken
Widerstand der einen oder der andern Seite zu stoßen, wenn die Sozialreform
im Laufe einer langen Zeit ihre die individuelle Bewegungsfreiheit behindernden
Schranken schon nach verschiednen Richtungen hin aufgerichtet hat. Man be¬
greift, daß selbst solche Arbeitgeber, die einen reichlichen Anteil der allgemeinen
Soziallasten willig auf sich genommen haben und tragen, schließlich mürrisch
und aufsässig werden müssen, wenn unter sozialpolitischer Flagge immer neue
Opfer finanzieller und ehrenamtlicher Art an sie herantreten und ihren Be¬
trieben neue gesetzgeberische Rahmen auferlegt werden. Die Verdrossenheit
wird verstärkt durch die betrübende Wahrnehmung, daß die sozialpolitischen
Benefizien jeder Gattung nicht dazu beigetragen haben, Arbeitskümpfe der or¬
ganisierten Arbeiterschaft hintanzuhalten. Kommt nun dann noch hinzu, daß
der Reichstag -- aus welchen Motiven es auch sein mag! -- die Sozialreform
längere Zeit hindurch als sein bevorzugtes Paradepferd anzusehen beliebt, mit
dem man gelegentlich auch recht gewagte Touren glaubt ausführen zu dürfen,
so wird durch das Zusammenwirken der verschiednen ursächlichen Dinge jene
Unwillenswoge emporgetrieben, aus der der schroffe Ruf emporklingt: "Nur
keine Sozialreform mehr!"

Daß der sozialpolitische Überschwang, dem sich der Reichstag seit Jahren
hingegeben hat, über kurz oder laug die Industrie zu organisierten Wider¬
spruch reizen müsse, war vorauszusehen. Die geschäftige Vielrederei über¬
eifriger Sozialreformer zum Fenster hinaus glaubte man als unschädlich hin¬
nehmen zu können, die wiederholten Anläufe hingegen, die soziale Gesetzgebung
einseitig auf die Interessen der Arbeitnehmer zuzuschneiden, brachten das Unter¬
nehmertum in Harnisch. Die Arbeitgeber haben sich durch umfassende Aus¬
bildung ihre Koalitionen so stark gemacht, daß sie es auf eine Machtprobe
gegen die Arbeiterorganisationen heute getrost ankommen lassen können. Im
Bewußtsein dieser Stärke versuchen sie nunmehr auch gegen die "Gesetzes-
macherei" und das "Paragraphengcstrüpp" des Reichstags aktiv aufzutreten,
die schroffsten Elemente verraten'sogar Neigung, durch passive Resistenz die
Gesetzgeber zu brüskieren. Für diese nach anßen drängende verbitterte Stimmung
Kegen mannigfache Beispiele vor. Es sei erinnert an das sozialpolitische Pro¬
gramm des Vereins deutscher Arbeitgcberverbände mit seinen mindestens eigen-.


Grenzboten 1 1909 7S
Unsre Sozialpolitik

Selbsterhaltung, ganz abgesehen von den Erfordernissen sozialer Kultivierung,
gebietet der Staatsgewalt, daß sie sich zu den unvermeidlichen Konflikten
zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht teilnahmlos verhalte. Wie
weit aber gesetzgeberische Eingriffe zur Regelung der Arbeitsverhältnisse,
Sicherung des Arbeiterschutzes und Förderung der allgemeinen Wohlfahrt zu
gestatten sind, ist eine Frage, deren Beantwortung niemals einheitlich wird
erfolgen können. Im allgemeinen wird das nationale Interesse die Richtschnur
und die ausgleichende Gerechtigkeit den Maßstab der Reglementierung abgeben
müssen. Bei jeder derartigen Abgrenzung der Rechte und Pflichten zwischen
Unternehmern und Arbeitern läuft man aber um so eher Gefahr, auf starken
Widerstand der einen oder der andern Seite zu stoßen, wenn die Sozialreform
im Laufe einer langen Zeit ihre die individuelle Bewegungsfreiheit behindernden
Schranken schon nach verschiednen Richtungen hin aufgerichtet hat. Man be¬
greift, daß selbst solche Arbeitgeber, die einen reichlichen Anteil der allgemeinen
Soziallasten willig auf sich genommen haben und tragen, schließlich mürrisch
und aufsässig werden müssen, wenn unter sozialpolitischer Flagge immer neue
Opfer finanzieller und ehrenamtlicher Art an sie herantreten und ihren Be¬
trieben neue gesetzgeberische Rahmen auferlegt werden. Die Verdrossenheit
wird verstärkt durch die betrübende Wahrnehmung, daß die sozialpolitischen
Benefizien jeder Gattung nicht dazu beigetragen haben, Arbeitskümpfe der or¬
ganisierten Arbeiterschaft hintanzuhalten. Kommt nun dann noch hinzu, daß
der Reichstag — aus welchen Motiven es auch sein mag! — die Sozialreform
längere Zeit hindurch als sein bevorzugtes Paradepferd anzusehen beliebt, mit
dem man gelegentlich auch recht gewagte Touren glaubt ausführen zu dürfen,
so wird durch das Zusammenwirken der verschiednen ursächlichen Dinge jene
Unwillenswoge emporgetrieben, aus der der schroffe Ruf emporklingt: „Nur
keine Sozialreform mehr!"

Daß der sozialpolitische Überschwang, dem sich der Reichstag seit Jahren
hingegeben hat, über kurz oder laug die Industrie zu organisierten Wider¬
spruch reizen müsse, war vorauszusehen. Die geschäftige Vielrederei über¬
eifriger Sozialreformer zum Fenster hinaus glaubte man als unschädlich hin¬
nehmen zu können, die wiederholten Anläufe hingegen, die soziale Gesetzgebung
einseitig auf die Interessen der Arbeitnehmer zuzuschneiden, brachten das Unter¬
nehmertum in Harnisch. Die Arbeitgeber haben sich durch umfassende Aus¬
bildung ihre Koalitionen so stark gemacht, daß sie es auf eine Machtprobe
gegen die Arbeiterorganisationen heute getrost ankommen lassen können. Im
Bewußtsein dieser Stärke versuchen sie nunmehr auch gegen die „Gesetzes-
macherei" und das „Paragraphengcstrüpp" des Reichstags aktiv aufzutreten,
die schroffsten Elemente verraten'sogar Neigung, durch passive Resistenz die
Gesetzgeber zu brüskieren. Für diese nach anßen drängende verbitterte Stimmung
Kegen mannigfache Beispiele vor. Es sei erinnert an das sozialpolitische Pro¬
gramm des Vereins deutscher Arbeitgcberverbände mit seinen mindestens eigen-.


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[0585] Unsre Sozialpolitik Selbsterhaltung, ganz abgesehen von den Erfordernissen sozialer Kultivierung, gebietet der Staatsgewalt, daß sie sich zu den unvermeidlichen Konflikten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht teilnahmlos verhalte. Wie weit aber gesetzgeberische Eingriffe zur Regelung der Arbeitsverhältnisse, Sicherung des Arbeiterschutzes und Förderung der allgemeinen Wohlfahrt zu gestatten sind, ist eine Frage, deren Beantwortung niemals einheitlich wird erfolgen können. Im allgemeinen wird das nationale Interesse die Richtschnur und die ausgleichende Gerechtigkeit den Maßstab der Reglementierung abgeben müssen. Bei jeder derartigen Abgrenzung der Rechte und Pflichten zwischen Unternehmern und Arbeitern läuft man aber um so eher Gefahr, auf starken Widerstand der einen oder der andern Seite zu stoßen, wenn die Sozialreform im Laufe einer langen Zeit ihre die individuelle Bewegungsfreiheit behindernden Schranken schon nach verschiednen Richtungen hin aufgerichtet hat. Man be¬ greift, daß selbst solche Arbeitgeber, die einen reichlichen Anteil der allgemeinen Soziallasten willig auf sich genommen haben und tragen, schließlich mürrisch und aufsässig werden müssen, wenn unter sozialpolitischer Flagge immer neue Opfer finanzieller und ehrenamtlicher Art an sie herantreten und ihren Be¬ trieben neue gesetzgeberische Rahmen auferlegt werden. Die Verdrossenheit wird verstärkt durch die betrübende Wahrnehmung, daß die sozialpolitischen Benefizien jeder Gattung nicht dazu beigetragen haben, Arbeitskümpfe der or¬ ganisierten Arbeiterschaft hintanzuhalten. Kommt nun dann noch hinzu, daß der Reichstag — aus welchen Motiven es auch sein mag! — die Sozialreform längere Zeit hindurch als sein bevorzugtes Paradepferd anzusehen beliebt, mit dem man gelegentlich auch recht gewagte Touren glaubt ausführen zu dürfen, so wird durch das Zusammenwirken der verschiednen ursächlichen Dinge jene Unwillenswoge emporgetrieben, aus der der schroffe Ruf emporklingt: „Nur keine Sozialreform mehr!" Daß der sozialpolitische Überschwang, dem sich der Reichstag seit Jahren hingegeben hat, über kurz oder laug die Industrie zu organisierten Wider¬ spruch reizen müsse, war vorauszusehen. Die geschäftige Vielrederei über¬ eifriger Sozialreformer zum Fenster hinaus glaubte man als unschädlich hin¬ nehmen zu können, die wiederholten Anläufe hingegen, die soziale Gesetzgebung einseitig auf die Interessen der Arbeitnehmer zuzuschneiden, brachten das Unter¬ nehmertum in Harnisch. Die Arbeitgeber haben sich durch umfassende Aus¬ bildung ihre Koalitionen so stark gemacht, daß sie es auf eine Machtprobe gegen die Arbeiterorganisationen heute getrost ankommen lassen können. Im Bewußtsein dieser Stärke versuchen sie nunmehr auch gegen die „Gesetzes- macherei" und das „Paragraphengcstrüpp" des Reichstags aktiv aufzutreten, die schroffsten Elemente verraten'sogar Neigung, durch passive Resistenz die Gesetzgeber zu brüskieren. Für diese nach anßen drängende verbitterte Stimmung Kegen mannigfache Beispiele vor. Es sei erinnert an das sozialpolitische Pro¬ gramm des Vereins deutscher Arbeitgcberverbände mit seinen mindestens eigen-. Grenzboten 1 1909 7S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/585>, abgerufen am 12.12.2024.