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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Unsre Sozialpolitik

Verhalten einen "neuen" Kurs steuern, mag sich jeder nach Belieben selbst
beantworten.

Man sollte meinen, daß das erfreuliche Zielbewußtsein, mit dem Herr
von Bethmann-Hollweg an seine Aufgabe herantritt, ihm die vertrauensvolle
Zustimmung aller an der sozialpolitischen Entwicklung anteilnehmenden Faktoren
sichern müßte. Im Reichstage hat der Staatssekretär unleugbar an Boden ge¬
wonnen; denn ist es angesichts der bekannten parteipolitischer Zerklüftung nicht
ein außergewöhnlicher Erfolg, daß der grundlegende erste Paragraph der viel-
umstrittnen Arbeitskammervorlage in der vorberatenden Kommission einstimmig
angenommen wurde? Und zwar geschah das, obgleich eine ganze Reihe ma߬
gebender Jnteressenorganisationen der Arbeitgeber den Gedanken der Errichtung
paritätischer Arbeitskammern mit aller Entschiedenheit, ja teilweise mit Heller
Entrüstung als unglücklich und unheilstiftend abgewiesen hatte. Auch die
Sozialdemokratie will zwar von einer Einrichtung, die die Arbeiter und Unter¬
nehmer zu gemeinsamem Ratschlägen zusammenbringt, grundsätzlich nichts wissen,
aber aus einem Grunde, der die Gegenpartei eigentlich veranlassen müßte, den
Entwurf freundlich aufzunehmen. Wenn die berufsmäßigen AufHetzer der Ar¬
beiter der Meinung sind, daß die Arbeitskammern ihre Kreise stören könnten,
dann sollten die bürgerlichen Interessengruppen eine solche Organisation schon
deswegen ergreifen. stattdessen erleben wir aber gerade jetzt das wahrlich
nicht erheiternde Schauspiel, daß "die Männer der Praxis" außerhalb des
Parlaments in geschlossenen Reihen mit durchdringender Schärfe ihre Stimme
gegen einen Gesetzentwurf erheben, der nach den Absichten und Erwartungen
der Regierung sowohl wie des Reichstags dem sozialen Frieden einen neuen
Stützpunkt darbieten soll. Ein Zwiespalt hat sich hier aufgetan, den wir
nicht auf die leichte Achsel nehmen dürfen. Es ist für die Allgemeinheit keine
Angelegenheit von nebensächlicher Bedeutung, wenn die wichtigsten Interessen-
Verbände der Industrie und Dutzende von Handelskammern in öffentlichen
Kundgebungen laut Einsprache gegen "den sozialpolitischen Kurs" erheben, den
ihres Trachtens Regierung und Reichstag steuern. In vielen Fällen richten
sich diese Angriffe zwar nur gegen den auf der Tagesordnung stehenden
Arbeitskammergesetzentwnrf, das einzelne Objekt dient aber den Unmutigen
offenbar nur zur Zielscheibe, um ihren tiefgehenden Groll über "die ganze
Richtung" zu demonstrieren.

Die staatliche Sozialpolitik befindet sich in einer schwierigen Lage. Die
wirtschaftliche Entwicklung der Neuzeit führt stetig sich vergrößernde Scharen
von Arbeitern in die industriellen Betriebe. Dadurch treten die Kehrseiten
einer Masseuanhäufung arbeitender Individuen unter einem häufig unpersön¬
lichen Kapitalistenregime grell in Erscheinung. Die rein materiellen Erwerbs¬
interessen gewinnen unter solchen Umständen gar leicht die Oberhand über alle
ethischen Rücksichten und verschärfen dadurch die ohnehin vorhandnen, natur¬
gemäß gegebnen Gegensätze zwischen "unten" und "oben". Die Pflicht der


Unsre Sozialpolitik

Verhalten einen „neuen" Kurs steuern, mag sich jeder nach Belieben selbst
beantworten.

Man sollte meinen, daß das erfreuliche Zielbewußtsein, mit dem Herr
von Bethmann-Hollweg an seine Aufgabe herantritt, ihm die vertrauensvolle
Zustimmung aller an der sozialpolitischen Entwicklung anteilnehmenden Faktoren
sichern müßte. Im Reichstage hat der Staatssekretär unleugbar an Boden ge¬
wonnen; denn ist es angesichts der bekannten parteipolitischer Zerklüftung nicht
ein außergewöhnlicher Erfolg, daß der grundlegende erste Paragraph der viel-
umstrittnen Arbeitskammervorlage in der vorberatenden Kommission einstimmig
angenommen wurde? Und zwar geschah das, obgleich eine ganze Reihe ma߬
gebender Jnteressenorganisationen der Arbeitgeber den Gedanken der Errichtung
paritätischer Arbeitskammern mit aller Entschiedenheit, ja teilweise mit Heller
Entrüstung als unglücklich und unheilstiftend abgewiesen hatte. Auch die
Sozialdemokratie will zwar von einer Einrichtung, die die Arbeiter und Unter¬
nehmer zu gemeinsamem Ratschlägen zusammenbringt, grundsätzlich nichts wissen,
aber aus einem Grunde, der die Gegenpartei eigentlich veranlassen müßte, den
Entwurf freundlich aufzunehmen. Wenn die berufsmäßigen AufHetzer der Ar¬
beiter der Meinung sind, daß die Arbeitskammern ihre Kreise stören könnten,
dann sollten die bürgerlichen Interessengruppen eine solche Organisation schon
deswegen ergreifen. stattdessen erleben wir aber gerade jetzt das wahrlich
nicht erheiternde Schauspiel, daß „die Männer der Praxis" außerhalb des
Parlaments in geschlossenen Reihen mit durchdringender Schärfe ihre Stimme
gegen einen Gesetzentwurf erheben, der nach den Absichten und Erwartungen
der Regierung sowohl wie des Reichstags dem sozialen Frieden einen neuen
Stützpunkt darbieten soll. Ein Zwiespalt hat sich hier aufgetan, den wir
nicht auf die leichte Achsel nehmen dürfen. Es ist für die Allgemeinheit keine
Angelegenheit von nebensächlicher Bedeutung, wenn die wichtigsten Interessen-
Verbände der Industrie und Dutzende von Handelskammern in öffentlichen
Kundgebungen laut Einsprache gegen „den sozialpolitischen Kurs" erheben, den
ihres Trachtens Regierung und Reichstag steuern. In vielen Fällen richten
sich diese Angriffe zwar nur gegen den auf der Tagesordnung stehenden
Arbeitskammergesetzentwnrf, das einzelne Objekt dient aber den Unmutigen
offenbar nur zur Zielscheibe, um ihren tiefgehenden Groll über „die ganze
Richtung" zu demonstrieren.

Die staatliche Sozialpolitik befindet sich in einer schwierigen Lage. Die
wirtschaftliche Entwicklung der Neuzeit führt stetig sich vergrößernde Scharen
von Arbeitern in die industriellen Betriebe. Dadurch treten die Kehrseiten
einer Masseuanhäufung arbeitender Individuen unter einem häufig unpersön¬
lichen Kapitalistenregime grell in Erscheinung. Die rein materiellen Erwerbs¬
interessen gewinnen unter solchen Umständen gar leicht die Oberhand über alle
ethischen Rücksichten und verschärfen dadurch die ohnehin vorhandnen, natur¬
gemäß gegebnen Gegensätze zwischen „unten" und „oben". Die Pflicht der


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[0584] Unsre Sozialpolitik Verhalten einen „neuen" Kurs steuern, mag sich jeder nach Belieben selbst beantworten. Man sollte meinen, daß das erfreuliche Zielbewußtsein, mit dem Herr von Bethmann-Hollweg an seine Aufgabe herantritt, ihm die vertrauensvolle Zustimmung aller an der sozialpolitischen Entwicklung anteilnehmenden Faktoren sichern müßte. Im Reichstage hat der Staatssekretär unleugbar an Boden ge¬ wonnen; denn ist es angesichts der bekannten parteipolitischer Zerklüftung nicht ein außergewöhnlicher Erfolg, daß der grundlegende erste Paragraph der viel- umstrittnen Arbeitskammervorlage in der vorberatenden Kommission einstimmig angenommen wurde? Und zwar geschah das, obgleich eine ganze Reihe ma߬ gebender Jnteressenorganisationen der Arbeitgeber den Gedanken der Errichtung paritätischer Arbeitskammern mit aller Entschiedenheit, ja teilweise mit Heller Entrüstung als unglücklich und unheilstiftend abgewiesen hatte. Auch die Sozialdemokratie will zwar von einer Einrichtung, die die Arbeiter und Unter¬ nehmer zu gemeinsamem Ratschlägen zusammenbringt, grundsätzlich nichts wissen, aber aus einem Grunde, der die Gegenpartei eigentlich veranlassen müßte, den Entwurf freundlich aufzunehmen. Wenn die berufsmäßigen AufHetzer der Ar¬ beiter der Meinung sind, daß die Arbeitskammern ihre Kreise stören könnten, dann sollten die bürgerlichen Interessengruppen eine solche Organisation schon deswegen ergreifen. stattdessen erleben wir aber gerade jetzt das wahrlich nicht erheiternde Schauspiel, daß „die Männer der Praxis" außerhalb des Parlaments in geschlossenen Reihen mit durchdringender Schärfe ihre Stimme gegen einen Gesetzentwurf erheben, der nach den Absichten und Erwartungen der Regierung sowohl wie des Reichstags dem sozialen Frieden einen neuen Stützpunkt darbieten soll. Ein Zwiespalt hat sich hier aufgetan, den wir nicht auf die leichte Achsel nehmen dürfen. Es ist für die Allgemeinheit keine Angelegenheit von nebensächlicher Bedeutung, wenn die wichtigsten Interessen- Verbände der Industrie und Dutzende von Handelskammern in öffentlichen Kundgebungen laut Einsprache gegen „den sozialpolitischen Kurs" erheben, den ihres Trachtens Regierung und Reichstag steuern. In vielen Fällen richten sich diese Angriffe zwar nur gegen den auf der Tagesordnung stehenden Arbeitskammergesetzentwnrf, das einzelne Objekt dient aber den Unmutigen offenbar nur zur Zielscheibe, um ihren tiefgehenden Groll über „die ganze Richtung" zu demonstrieren. Die staatliche Sozialpolitik befindet sich in einer schwierigen Lage. Die wirtschaftliche Entwicklung der Neuzeit führt stetig sich vergrößernde Scharen von Arbeitern in die industriellen Betriebe. Dadurch treten die Kehrseiten einer Masseuanhäufung arbeitender Individuen unter einem häufig unpersön¬ lichen Kapitalistenregime grell in Erscheinung. Die rein materiellen Erwerbs¬ interessen gewinnen unter solchen Umständen gar leicht die Oberhand über alle ethischen Rücksichten und verschärfen dadurch die ohnehin vorhandnen, natur¬ gemäß gegebnen Gegensätze zwischen „unten" und „oben". Die Pflicht der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/584>, abgerufen am 23.07.2024.