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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Unsre Sozialpolitik

des Reichstags künftighin mehr eingedämmt werden könnte. Herr von Bethmann-
Hollweg hat in einer seiner letzten Reichstagsreden auch dargelegt, welche Übeln
Konsequenzen sich aus dem Vorwärtsdrängen und der Überhastung auf dem
Gebiete der Sozialreform ergäben. Der Reichstag habe es mit der Verab¬
schiedung neuer sozialpolitischer Vorschriften bisweilen so eilig, daß er sich
kaum gedulden wolle, bis die Interessenten ausgiebig zu Worte gekommen
wären, sei in seinem eifernden Aktionsdrange unter Umständen sogar geneigt,
Verhältnisse über denselben gesetzgeberischen Leisten zu schlagen, denen gegenüber
eine individualisierende Behandlung am Platze gewesen wäre. Dadurch wäre
Beunruhigung, die sich andernfalls wohl hätte vermeiden lassen, in den Kreisen
derer hervorgerufen worden, die sich mit den neuen Gesetzesparagraphen in
der Praxis abfinden müßten; andrerseits hätte sich in weitern Kreisen die
Illusion festgesetzt, daß sich durch ein wiederholtes dringliches Anrufen der
Parlamentarischen Maschinerie auch solche Hindernisse der Erwerbsbetätigung
oder soziale Übelstände hinwegräumen ließen, für die nur eine Gesetzgebung
zuständig wäre, die alle Gegensätze und Reibungen in Harmonien aufzulösen
vermöchte.

Der tiefere Sinn dieser Ausführungen deutet nach unserm Dafürhalten
darauf hin, daß der Staatssekretär von Bethmann-Hollweg die sozialpolitischen
Wege mit größerm Bedacht zu beschreiten gedenkt, als es in neuerer Zeit bis¬
weilen geschehen ist. In seinem Wollen steckt, von der Allgemeinheit vielleicht
unerkannt, ein Programm, das sich nicht in knappe Leitsätze fassen läßt,
sondern durch dauernde praktische Handhabung erwiesen werden muß. Daher
wird sich auch nicht klar und deutlich feststellen lassen, worin die Unterscheidungs¬
merkmale der vom gegenwärtigen Staatssekretär vertretnen Sozialpolitik zu
der seines Borgängers bestehn.

Von Posadowsky zu Bethmann-Hollweg! Als Graf Posadowsky im
Sommer des Jahres 1907 die Bürde seines Amtes niederlegte, erfaßte ein
gelindes Bangen alle politischen Parteien, denen an einem ununterbrochnem
Fortschreiten der Sozialreform auf den bisherigen Bahnen ernstlich gelegen
war. Der Graf im Barte hatte ihr volles Vertrauen gehabt, weil man von
ihm wußte, daß er aus ehrlichster Überzeugung der Bannerträger einer un¬
verdrossen anfwärtssteigenden sozialpolitischen Entwicklung gewesen war. Mit
dem im Reichsamt des Innern vollzognen Ministerwechsel schien manchem
die Möglichkeit nahegerückt, daß sich mit dem neuen Herrn auch ein neuer
Geist in der Behandlung der Sozialreform geltendmachen könnte. Daß etwa
das Tempo der sozialen Gesetzgebung nun noch beschleunigt werden könne,
daran dachte niemand, die Besorgnisse liefen vielmehr einzig darauf hinaus,
daß ein Stillstand, wenn nicht gar eine Rückwärtsrevidierung in unsrer Sozial¬
politik platzgreifen könnte. Gerade die Möglichkeit eines solchen Umschwungs
erfüllte andrerseits die Kreise mit hoffnungsvollen Erwartungen, die mit
wachsender Verstimmung die sozialpolitischen Gesetzesvorschläge zu einer Hochflut
hatten anwachsen sehen. Die Unternehmer, die ihr nnverhohlnes Mißvergnügen


Unsre Sozialpolitik

des Reichstags künftighin mehr eingedämmt werden könnte. Herr von Bethmann-
Hollweg hat in einer seiner letzten Reichstagsreden auch dargelegt, welche Übeln
Konsequenzen sich aus dem Vorwärtsdrängen und der Überhastung auf dem
Gebiete der Sozialreform ergäben. Der Reichstag habe es mit der Verab¬
schiedung neuer sozialpolitischer Vorschriften bisweilen so eilig, daß er sich
kaum gedulden wolle, bis die Interessenten ausgiebig zu Worte gekommen
wären, sei in seinem eifernden Aktionsdrange unter Umständen sogar geneigt,
Verhältnisse über denselben gesetzgeberischen Leisten zu schlagen, denen gegenüber
eine individualisierende Behandlung am Platze gewesen wäre. Dadurch wäre
Beunruhigung, die sich andernfalls wohl hätte vermeiden lassen, in den Kreisen
derer hervorgerufen worden, die sich mit den neuen Gesetzesparagraphen in
der Praxis abfinden müßten; andrerseits hätte sich in weitern Kreisen die
Illusion festgesetzt, daß sich durch ein wiederholtes dringliches Anrufen der
Parlamentarischen Maschinerie auch solche Hindernisse der Erwerbsbetätigung
oder soziale Übelstände hinwegräumen ließen, für die nur eine Gesetzgebung
zuständig wäre, die alle Gegensätze und Reibungen in Harmonien aufzulösen
vermöchte.

Der tiefere Sinn dieser Ausführungen deutet nach unserm Dafürhalten
darauf hin, daß der Staatssekretär von Bethmann-Hollweg die sozialpolitischen
Wege mit größerm Bedacht zu beschreiten gedenkt, als es in neuerer Zeit bis¬
weilen geschehen ist. In seinem Wollen steckt, von der Allgemeinheit vielleicht
unerkannt, ein Programm, das sich nicht in knappe Leitsätze fassen läßt,
sondern durch dauernde praktische Handhabung erwiesen werden muß. Daher
wird sich auch nicht klar und deutlich feststellen lassen, worin die Unterscheidungs¬
merkmale der vom gegenwärtigen Staatssekretär vertretnen Sozialpolitik zu
der seines Borgängers bestehn.

Von Posadowsky zu Bethmann-Hollweg! Als Graf Posadowsky im
Sommer des Jahres 1907 die Bürde seines Amtes niederlegte, erfaßte ein
gelindes Bangen alle politischen Parteien, denen an einem ununterbrochnem
Fortschreiten der Sozialreform auf den bisherigen Bahnen ernstlich gelegen
war. Der Graf im Barte hatte ihr volles Vertrauen gehabt, weil man von
ihm wußte, daß er aus ehrlichster Überzeugung der Bannerträger einer un¬
verdrossen anfwärtssteigenden sozialpolitischen Entwicklung gewesen war. Mit
dem im Reichsamt des Innern vollzognen Ministerwechsel schien manchem
die Möglichkeit nahegerückt, daß sich mit dem neuen Herrn auch ein neuer
Geist in der Behandlung der Sozialreform geltendmachen könnte. Daß etwa
das Tempo der sozialen Gesetzgebung nun noch beschleunigt werden könne,
daran dachte niemand, die Besorgnisse liefen vielmehr einzig darauf hinaus,
daß ein Stillstand, wenn nicht gar eine Rückwärtsrevidierung in unsrer Sozial¬
politik platzgreifen könnte. Gerade die Möglichkeit eines solchen Umschwungs
erfüllte andrerseits die Kreise mit hoffnungsvollen Erwartungen, die mit
wachsender Verstimmung die sozialpolitischen Gesetzesvorschläge zu einer Hochflut
hatten anwachsen sehen. Die Unternehmer, die ihr nnverhohlnes Mißvergnügen


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[0581] Unsre Sozialpolitik des Reichstags künftighin mehr eingedämmt werden könnte. Herr von Bethmann- Hollweg hat in einer seiner letzten Reichstagsreden auch dargelegt, welche Übeln Konsequenzen sich aus dem Vorwärtsdrängen und der Überhastung auf dem Gebiete der Sozialreform ergäben. Der Reichstag habe es mit der Verab¬ schiedung neuer sozialpolitischer Vorschriften bisweilen so eilig, daß er sich kaum gedulden wolle, bis die Interessenten ausgiebig zu Worte gekommen wären, sei in seinem eifernden Aktionsdrange unter Umständen sogar geneigt, Verhältnisse über denselben gesetzgeberischen Leisten zu schlagen, denen gegenüber eine individualisierende Behandlung am Platze gewesen wäre. Dadurch wäre Beunruhigung, die sich andernfalls wohl hätte vermeiden lassen, in den Kreisen derer hervorgerufen worden, die sich mit den neuen Gesetzesparagraphen in der Praxis abfinden müßten; andrerseits hätte sich in weitern Kreisen die Illusion festgesetzt, daß sich durch ein wiederholtes dringliches Anrufen der Parlamentarischen Maschinerie auch solche Hindernisse der Erwerbsbetätigung oder soziale Übelstände hinwegräumen ließen, für die nur eine Gesetzgebung zuständig wäre, die alle Gegensätze und Reibungen in Harmonien aufzulösen vermöchte. Der tiefere Sinn dieser Ausführungen deutet nach unserm Dafürhalten darauf hin, daß der Staatssekretär von Bethmann-Hollweg die sozialpolitischen Wege mit größerm Bedacht zu beschreiten gedenkt, als es in neuerer Zeit bis¬ weilen geschehen ist. In seinem Wollen steckt, von der Allgemeinheit vielleicht unerkannt, ein Programm, das sich nicht in knappe Leitsätze fassen läßt, sondern durch dauernde praktische Handhabung erwiesen werden muß. Daher wird sich auch nicht klar und deutlich feststellen lassen, worin die Unterscheidungs¬ merkmale der vom gegenwärtigen Staatssekretär vertretnen Sozialpolitik zu der seines Borgängers bestehn. Von Posadowsky zu Bethmann-Hollweg! Als Graf Posadowsky im Sommer des Jahres 1907 die Bürde seines Amtes niederlegte, erfaßte ein gelindes Bangen alle politischen Parteien, denen an einem ununterbrochnem Fortschreiten der Sozialreform auf den bisherigen Bahnen ernstlich gelegen war. Der Graf im Barte hatte ihr volles Vertrauen gehabt, weil man von ihm wußte, daß er aus ehrlichster Überzeugung der Bannerträger einer un¬ verdrossen anfwärtssteigenden sozialpolitischen Entwicklung gewesen war. Mit dem im Reichsamt des Innern vollzognen Ministerwechsel schien manchem die Möglichkeit nahegerückt, daß sich mit dem neuen Herrn auch ein neuer Geist in der Behandlung der Sozialreform geltendmachen könnte. Daß etwa das Tempo der sozialen Gesetzgebung nun noch beschleunigt werden könne, daran dachte niemand, die Besorgnisse liefen vielmehr einzig darauf hinaus, daß ein Stillstand, wenn nicht gar eine Rückwärtsrevidierung in unsrer Sozial¬ politik platzgreifen könnte. Gerade die Möglichkeit eines solchen Umschwungs erfüllte andrerseits die Kreise mit hoffnungsvollen Erwartungen, die mit wachsender Verstimmung die sozialpolitischen Gesetzesvorschläge zu einer Hochflut hatten anwachsen sehen. Die Unternehmer, die ihr nnverhohlnes Mißvergnügen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/581>, abgerufen am 12.12.2024.