Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.Unsre Sozialpolitik dort noch im alten Jahre erledigt worden, während die Kommissionsberatungen Ein Jahr ist seitdem vergangen, und wiederum hat sich dem Reichstag Unsre Sozialpolitik dort noch im alten Jahre erledigt worden, während die Kommissionsberatungen Ein Jahr ist seitdem vergangen, und wiederum hat sich dem Reichstag <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0580" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312931"/> <fw type="header" place="top"> Unsre Sozialpolitik</fw><lb/> <p xml:id="ID_2380" prev="#ID_2379"> dort noch im alten Jahre erledigt worden, während die Kommissionsberatungen<lb/> über den zweiten Teil zurzeit noch fortdauern. Dieser vom Zentrum ge-<lb/> wundne neue sozialpolitische Strauß wird also vermutlich noch dem Reichs¬<lb/> tage in absehbarer Zeit überreicht werdeu; aus der Blütenlese seien folgende<lb/> Forderungen zur Jllustrierung des hastigen Vorwärtsdrängens mancher Rcform-<lb/> ciferer hervorgehoben: Einführung des Zehnstundentages für alle erwachsnen<lb/> Arbeiter in Fabriken, obligatorische Arbeiterausschüsse in allen Betrieben mit<lb/> mehr als zwanzig Arbeitern, Beschränkung der Arbeitszeit in Kondoren, Er¬<lb/> weiterung der Schutzvorschriften und Verbot der Sonntagsarbeit für die Haus¬<lb/> industrie u. a. in. Daß bei einer solchen Überfülle von An- und Aufträgen<lb/> eine gründliche Durchackerung aller einschlägigen Fragen kaum möglich sei, ist<lb/> im Reichstage offen zugestanden worden. Daher tauchte auch erneut der schon<lb/> früher Verlautbarte Plan einer Kontingentierung der Sozialpolitik auf, d. h. ein<lb/> Ausschuß aus allen Parteien feststellen sollte, welche Reformen als die dringlichsten<lb/> anzusehen und demgemäß zunächst in Angriff zu nehmen wären. Bei der löb¬<lb/> lichen Absicht ist es vorläufig geblieben, ihre Verwirklichung würde wahrscheinlich<lb/> außerhalb des Blocks auch auf heftigen Widerspruch stoßen, da das Zentrum,<lb/> wie dessen Parteiorgan rühmend hervorhob, durch sein Auftrumpfen vor aller<lb/> Welt bezeugen wollte, daß die stärkste Fraktion des Reichstags nicht gesonnen<lb/> sei, sich unter dem Zeichen der Blockpolitik „ausschließen" zu lassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2381" next="#ID_2382"> Ein Jahr ist seitdem vergangen, und wiederum hat sich dem Reichstag<lb/> Gelegenheit geboten, in der Generaldebatte zum Etat des Reichsamts des<lb/> Innern seinem bekümmerten sozialpolitischen Herzen Luft zu machen. Diesmal<lb/> aber hat sich der Reichstag in seinen Anträgen und Resolutionen einer be¬<lb/> merkenswerten Zurückhaltung befleißigt. Dem Block im besondern gebührt<lb/> das Verdienst, daß aussichtslose und unzeitgemäße Triebe, die das Zentrum<lb/> und die Sozialdemokratie auf den Baum der Reichstagsinitiative verpflanzen<lb/> wollten, wie das Neichsberggesetz unter anderm, abgetan wurden. In andern<lb/> Fragen, zum Beispiel über die Regelung der Arbeitsverhältnisse in der Gro߬<lb/> eisenindustrie, begnügte man sich, auf weitere Klärung der Materie zu dringen,<lb/> anstatt kurzerhand „die Klinke der Gesetzgebung" zu ergreifen. Dieses ma߬<lb/> volle Verhalten der Reichstagsmehrheit muß erwähnt werden, weil sich aus<lb/> ihm im Verein mit andern Symptomen, wie wir meinen, folgern läßt, daß<lb/> der Reichstag gewillt ist, sich mehr als bisher der Führung der Negierung in<lb/> der Sozialpolitik anzuvertrauen. Eine solche Aunciheruug würde beiden Teilen<lb/> zum Vorteil gereichen. Die Negierung würde dadurch, daß der Reichstag ihr<lb/> mehr freie Hand läßt und sie nicht fortgesetzt mit neuen Arbeitsaufgaben be¬<lb/> drängt, instandgesetzt werden, den Ausbau der Sozialreform mit mehr System<lb/> zu betreiben, während zugleich der Vorwurf gegen den Reichstag, daß er sich<lb/> unbedachter Gesetzesmacherei hingebe, hinfällig werden müßte. Jedenfalls darf<lb/> man nach den offenherzigen Erklärungen des Staatssekretärs des Innern<lb/> überzeugt sein, daß dem Reichsamt des Innern ein großer Dienst erwiesen<lb/> würde, wenn die Flut der sozialpolitischen Forderungen und Anregungen seitens</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0580]
Unsre Sozialpolitik
dort noch im alten Jahre erledigt worden, während die Kommissionsberatungen
über den zweiten Teil zurzeit noch fortdauern. Dieser vom Zentrum ge-
wundne neue sozialpolitische Strauß wird also vermutlich noch dem Reichs¬
tage in absehbarer Zeit überreicht werdeu; aus der Blütenlese seien folgende
Forderungen zur Jllustrierung des hastigen Vorwärtsdrängens mancher Rcform-
ciferer hervorgehoben: Einführung des Zehnstundentages für alle erwachsnen
Arbeiter in Fabriken, obligatorische Arbeiterausschüsse in allen Betrieben mit
mehr als zwanzig Arbeitern, Beschränkung der Arbeitszeit in Kondoren, Er¬
weiterung der Schutzvorschriften und Verbot der Sonntagsarbeit für die Haus¬
industrie u. a. in. Daß bei einer solchen Überfülle von An- und Aufträgen
eine gründliche Durchackerung aller einschlägigen Fragen kaum möglich sei, ist
im Reichstage offen zugestanden worden. Daher tauchte auch erneut der schon
früher Verlautbarte Plan einer Kontingentierung der Sozialpolitik auf, d. h. ein
Ausschuß aus allen Parteien feststellen sollte, welche Reformen als die dringlichsten
anzusehen und demgemäß zunächst in Angriff zu nehmen wären. Bei der löb¬
lichen Absicht ist es vorläufig geblieben, ihre Verwirklichung würde wahrscheinlich
außerhalb des Blocks auch auf heftigen Widerspruch stoßen, da das Zentrum,
wie dessen Parteiorgan rühmend hervorhob, durch sein Auftrumpfen vor aller
Welt bezeugen wollte, daß die stärkste Fraktion des Reichstags nicht gesonnen
sei, sich unter dem Zeichen der Blockpolitik „ausschließen" zu lassen.
Ein Jahr ist seitdem vergangen, und wiederum hat sich dem Reichstag
Gelegenheit geboten, in der Generaldebatte zum Etat des Reichsamts des
Innern seinem bekümmerten sozialpolitischen Herzen Luft zu machen. Diesmal
aber hat sich der Reichstag in seinen Anträgen und Resolutionen einer be¬
merkenswerten Zurückhaltung befleißigt. Dem Block im besondern gebührt
das Verdienst, daß aussichtslose und unzeitgemäße Triebe, die das Zentrum
und die Sozialdemokratie auf den Baum der Reichstagsinitiative verpflanzen
wollten, wie das Neichsberggesetz unter anderm, abgetan wurden. In andern
Fragen, zum Beispiel über die Regelung der Arbeitsverhältnisse in der Gro߬
eisenindustrie, begnügte man sich, auf weitere Klärung der Materie zu dringen,
anstatt kurzerhand „die Klinke der Gesetzgebung" zu ergreifen. Dieses ma߬
volle Verhalten der Reichstagsmehrheit muß erwähnt werden, weil sich aus
ihm im Verein mit andern Symptomen, wie wir meinen, folgern läßt, daß
der Reichstag gewillt ist, sich mehr als bisher der Führung der Negierung in
der Sozialpolitik anzuvertrauen. Eine solche Aunciheruug würde beiden Teilen
zum Vorteil gereichen. Die Negierung würde dadurch, daß der Reichstag ihr
mehr freie Hand läßt und sie nicht fortgesetzt mit neuen Arbeitsaufgaben be¬
drängt, instandgesetzt werden, den Ausbau der Sozialreform mit mehr System
zu betreiben, während zugleich der Vorwurf gegen den Reichstag, daß er sich
unbedachter Gesetzesmacherei hingebe, hinfällig werden müßte. Jedenfalls darf
man nach den offenherzigen Erklärungen des Staatssekretärs des Innern
überzeugt sein, daß dem Reichsamt des Innern ein großer Dienst erwiesen
würde, wenn die Flut der sozialpolitischen Forderungen und Anregungen seitens
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