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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat

liegt in dem ausgesprochen anarchischen Charakter der ersten und in dem
streng demokratisch-nationalen der zweiten. Im Jahre 1848 spielten
Männer wie der russische Nihilist Bakunin eine hervorragende Rolle, während
es der polnische Marquis Wielepolski nicht wagen durfte, sich öffentlich zu
zeigen -- auf dem ^letzten Slawenkongreß hielt sich im Gegensatz der tschechische
Sozialist Mazaryk abseits, und strenge Nationalisten aus dem Bürgertum wie
der Russe Bobrinski, der Pole Dmowski und der Tscheche Kramarz waren
Wortführer. Hinter diesem Unterschiede steckt natürlich mehr als ein Personen¬
oder Parteiwechsel, dahinter steht eine gewaltige kraftstrahlende Entwicklung,
dahinter steht ein sittliches und politisches Gesunden und Gereiftsein, die die
Achtung und darum auch die Beachtung der gesamten Kulturwelt heraus¬
fordern. Ich betrachte es nun nicht als meine Aufgabe, die an sich sehr inter¬
essante kulturelle Seite der Entwicklung darzustellen, sondern die für uns
augenblicklich wichtigere politische.

Nur auf ein Symptom des Kulturfortschritts sei hingewiesen, auf die
Entwicklung der slawischen Sprachen. Auf dem letzten Slawenkongreß,
dem ich durch Vermittlung russischer Freunde als Gast beiwohnen durfte, wurde
ausschließlich in slawischen Sprachen geredet, und nur gelegentlich wurde von
Slowenen eine deutsche Wendung eingeflochten, um den Sinn dieses oder jenes
schwerer verständlichen Satzes ihrer Sprache genau zu präzisieren. Auf dem
ersten Slawenkongreß wurde dagegen vorwiegend deutsch gesprochen, ebenso wie
auf den meisten dazwischenliegenden Versammlungen. Die Brücke der Ver¬
ständigung, eine allen zugängliche slawische Sprache, die vor sechzig Jahren
fehlte, ist somit heute wenigstens für die Gebildeten der einzelnen Stämme
in den Anfängen vorhanden. Verdanken die Slawen diesen Fortschritt vor¬
wiegend auch deutschem Fleiß -- denn die vergleichende Sprachforschung ist
von deutschen Gelehrten geschaffen worden --, so ist damit doch ein Mittel
gegeben, das wohl geeignet wäre, den politischen Zusammenschluß zu fördern-
Jede der in Betracht kommenden Sprachen hat an die andern Konzessionen
gemacht. In die russische sind polnische und tschechische Wortbildungen über¬
gegangen, und in alle Sprachen und Dialekte siud russische, französische und
sehr zahlreiche deutsche Worte und Wendungen eingedrungen, ohne Kampf,
ohne Auseinandersetzungen, lediglich auf dem Wege des täglichen Verkehrs,
den Handel und Wandel gegenwärtig - so überaus nah und schnell gestaltet
haben. Eisenbahnen, Telegraphen, Handlungsreisende haben die Annäherung
der Sprachen praktisch mehr gefördert als Gelehrte, und Parlamente und Presse
haben ihr täglich neue Ausdrücke zugeführt. Wie verschlechternd gerade die
Parlamente auf die Sprache wirken können, beweist uns täglich die deutsche
Presse in Wien und Petersburg. Der Sprachforscher, insonderheit der^ sla¬
wische Sprachforscher, wird nun den eingegangnen Verbindungen nach und
nach die wissenschaftliche Weihe geben.


Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat

liegt in dem ausgesprochen anarchischen Charakter der ersten und in dem
streng demokratisch-nationalen der zweiten. Im Jahre 1848 spielten
Männer wie der russische Nihilist Bakunin eine hervorragende Rolle, während
es der polnische Marquis Wielepolski nicht wagen durfte, sich öffentlich zu
zeigen — auf dem ^letzten Slawenkongreß hielt sich im Gegensatz der tschechische
Sozialist Mazaryk abseits, und strenge Nationalisten aus dem Bürgertum wie
der Russe Bobrinski, der Pole Dmowski und der Tscheche Kramarz waren
Wortführer. Hinter diesem Unterschiede steckt natürlich mehr als ein Personen¬
oder Parteiwechsel, dahinter steht eine gewaltige kraftstrahlende Entwicklung,
dahinter steht ein sittliches und politisches Gesunden und Gereiftsein, die die
Achtung und darum auch die Beachtung der gesamten Kulturwelt heraus¬
fordern. Ich betrachte es nun nicht als meine Aufgabe, die an sich sehr inter¬
essante kulturelle Seite der Entwicklung darzustellen, sondern die für uns
augenblicklich wichtigere politische.

Nur auf ein Symptom des Kulturfortschritts sei hingewiesen, auf die
Entwicklung der slawischen Sprachen. Auf dem letzten Slawenkongreß,
dem ich durch Vermittlung russischer Freunde als Gast beiwohnen durfte, wurde
ausschließlich in slawischen Sprachen geredet, und nur gelegentlich wurde von
Slowenen eine deutsche Wendung eingeflochten, um den Sinn dieses oder jenes
schwerer verständlichen Satzes ihrer Sprache genau zu präzisieren. Auf dem
ersten Slawenkongreß wurde dagegen vorwiegend deutsch gesprochen, ebenso wie
auf den meisten dazwischenliegenden Versammlungen. Die Brücke der Ver¬
ständigung, eine allen zugängliche slawische Sprache, die vor sechzig Jahren
fehlte, ist somit heute wenigstens für die Gebildeten der einzelnen Stämme
in den Anfängen vorhanden. Verdanken die Slawen diesen Fortschritt vor¬
wiegend auch deutschem Fleiß — denn die vergleichende Sprachforschung ist
von deutschen Gelehrten geschaffen worden —, so ist damit doch ein Mittel
gegeben, das wohl geeignet wäre, den politischen Zusammenschluß zu fördern-
Jede der in Betracht kommenden Sprachen hat an die andern Konzessionen
gemacht. In die russische sind polnische und tschechische Wortbildungen über¬
gegangen, und in alle Sprachen und Dialekte siud russische, französische und
sehr zahlreiche deutsche Worte und Wendungen eingedrungen, ohne Kampf,
ohne Auseinandersetzungen, lediglich auf dem Wege des täglichen Verkehrs,
den Handel und Wandel gegenwärtig - so überaus nah und schnell gestaltet
haben. Eisenbahnen, Telegraphen, Handlungsreisende haben die Annäherung
der Sprachen praktisch mehr gefördert als Gelehrte, und Parlamente und Presse
haben ihr täglich neue Ausdrücke zugeführt. Wie verschlechternd gerade die
Parlamente auf die Sprache wirken können, beweist uns täglich die deutsche
Presse in Wien und Petersburg. Der Sprachforscher, insonderheit der^ sla¬
wische Sprachforscher, wird nun den eingegangnen Verbindungen nach und
nach die wissenschaftliche Weihe geben.


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[0536] Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat liegt in dem ausgesprochen anarchischen Charakter der ersten und in dem streng demokratisch-nationalen der zweiten. Im Jahre 1848 spielten Männer wie der russische Nihilist Bakunin eine hervorragende Rolle, während es der polnische Marquis Wielepolski nicht wagen durfte, sich öffentlich zu zeigen — auf dem ^letzten Slawenkongreß hielt sich im Gegensatz der tschechische Sozialist Mazaryk abseits, und strenge Nationalisten aus dem Bürgertum wie der Russe Bobrinski, der Pole Dmowski und der Tscheche Kramarz waren Wortführer. Hinter diesem Unterschiede steckt natürlich mehr als ein Personen¬ oder Parteiwechsel, dahinter steht eine gewaltige kraftstrahlende Entwicklung, dahinter steht ein sittliches und politisches Gesunden und Gereiftsein, die die Achtung und darum auch die Beachtung der gesamten Kulturwelt heraus¬ fordern. Ich betrachte es nun nicht als meine Aufgabe, die an sich sehr inter¬ essante kulturelle Seite der Entwicklung darzustellen, sondern die für uns augenblicklich wichtigere politische. Nur auf ein Symptom des Kulturfortschritts sei hingewiesen, auf die Entwicklung der slawischen Sprachen. Auf dem letzten Slawenkongreß, dem ich durch Vermittlung russischer Freunde als Gast beiwohnen durfte, wurde ausschließlich in slawischen Sprachen geredet, und nur gelegentlich wurde von Slowenen eine deutsche Wendung eingeflochten, um den Sinn dieses oder jenes schwerer verständlichen Satzes ihrer Sprache genau zu präzisieren. Auf dem ersten Slawenkongreß wurde dagegen vorwiegend deutsch gesprochen, ebenso wie auf den meisten dazwischenliegenden Versammlungen. Die Brücke der Ver¬ ständigung, eine allen zugängliche slawische Sprache, die vor sechzig Jahren fehlte, ist somit heute wenigstens für die Gebildeten der einzelnen Stämme in den Anfängen vorhanden. Verdanken die Slawen diesen Fortschritt vor¬ wiegend auch deutschem Fleiß — denn die vergleichende Sprachforschung ist von deutschen Gelehrten geschaffen worden —, so ist damit doch ein Mittel gegeben, das wohl geeignet wäre, den politischen Zusammenschluß zu fördern- Jede der in Betracht kommenden Sprachen hat an die andern Konzessionen gemacht. In die russische sind polnische und tschechische Wortbildungen über¬ gegangen, und in alle Sprachen und Dialekte siud russische, französische und sehr zahlreiche deutsche Worte und Wendungen eingedrungen, ohne Kampf, ohne Auseinandersetzungen, lediglich auf dem Wege des täglichen Verkehrs, den Handel und Wandel gegenwärtig - so überaus nah und schnell gestaltet haben. Eisenbahnen, Telegraphen, Handlungsreisende haben die Annäherung der Sprachen praktisch mehr gefördert als Gelehrte, und Parlamente und Presse haben ihr täglich neue Ausdrücke zugeführt. Wie verschlechternd gerade die Parlamente auf die Sprache wirken können, beweist uns täglich die deutsche Presse in Wien und Petersburg. Der Sprachforscher, insonderheit der^ sla¬ wische Sprachforscher, wird nun den eingegangnen Verbindungen nach und nach die wissenschaftliche Weihe geben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/536>, abgerufen am 23.07.2024.