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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

zusammenbrechen. Wie sehr die Leidenschaft an Stelle der Vernunft mitspricht, hat
sich auch darin gezeigt, daß ein Mann wie Professor Adolf Wagner in der General¬
versammlung des Vereins der Steuer- und Wirtschaftsreformer eine geradezu un¬
würdige Behandlung erfuhr, weil er -- selbst ein berühmter und erprobter Vor¬
kämpfer agrarischer Ideen -- die Nachlaßsteuer mutig verteidigte.

Die Versuche, die Reichsfinanzreform auf der Grundlage der bisherigen Kom¬
missionsarbeiten in Sicherheit zu bringen, können wohl als völlig gescheitert gelten.
Man hatte, wie wir schon vor acht Tagen erwähnen konnten, einen sogenannten
Kompromißvorschlag ausgearbeitet, der im wesentlichen darin bestand, daß sich Kon¬
servative und Zentrum darüber geeinigt hatten, die gewünschte Besteuerung des Be¬
sitzes in der Weise eintreten zu lassen, daß eine von den Einzelstaaten zu erhebende
und an das Reich abzuführende Steuer eingeführt würde, die an die Stelle der
Nachlaß- und Erbschaftssteuer treten und auch die Gas- und Elektrizitätssteuer unnötig
machen sollte. Mit andern Worten eine verschleierte Erhöhung der Matrikular-
beiträge, nur in einer Form, die in geradezu raffinierter Weise unter dem Schein
einer stttrkern Betonung des föderalistischen Prinzips im Reiche in Wahrheit einen
entschiednen Eingriff in wohlbegründete Finanzhoheitsrechte der Einzelstaaten dar¬
stellte. Das war echte Zentrumsmache, die von der richtigen Berechnung ausging,
daß den Konservativen jedes Mittel recht sein würde, um von der Nachlaßsteuer
loszukommen und die Liberalen zu majorisieren, und daß sie um diesen Preis auch
ihre eignen Traditionen und Prinzipien -- denn die strenge Wahrung des in der
Reichsverfassung festgelegten Verhältnisses zwischen Reich und Einzelstaaten ist kon¬
servative Tradition -- kaltblütig verleugnen würden. Seltsamerweise schien auch bei
den freisinnigen Kommissionsmitgliedern die Neigung zu bestehn, sich übertölpeln
zu lassen, vielleicht weil sie durch einen allerdings kaum zu verstehenden Irrtum
in der vvrgeschlagnen "Besitzsteuer" ihr Lieblingskind, die Reichsvermögenssteuer,
wiederzuerkennen glaubten. Glücklicherweise leisteten die Nationalliberalen diesmal
Widerstand. Die Taktik dieser Partei in der Blockpolitik läßt sich vielleicht am
deutlichsten dahin kennzeichnen, daß sie jedesmal den Mund zugemacht hat, wenn
ihr die gebratnen Tauben hineinfliegen wollten. Es ist wohl noch nicht da¬
gewesen, daß eine Partei, die durch die Zeitumstände geradezu berufen schien, die
Führung zu übernehmen, sich diese Stellung durch Verständnislosigkeit, Unklarheit
und Disziplinlosigkeit so vielfach gründlich verscherzt hat. Sie hätte bei der Neichs-
sinanzreform eigentlich der Kristallisationspunkt werden müssen. Nun hat sie
wenigstens ihre Sünden dadurch gebüßt, daß sie ein Kompromiß verhindert hat,
das zwar den Block gesprengt, aber die Reichsfinanzreform in eine Sackgasse ge¬
fahren hätte. Denn eine Einigung der Parteien über eine Lösung, die für die
verbündeten Regierungen von vornherein unannehmbar war, wäre das Schlimmste
von allem gewesen. Durch das Scheitern des Kompromisses der Kommission ist
für ein Eingreifen des Reichskanzlers und für neue direkte Verhandlungen rin den
Blockparteien Raum geschaffen worden. Ein brauchbares Kompromiß wird hoffentlich
Vorliegen, wenn diese Zeilen den Lesern vor Augen kommen.

In der auswärtigen Lage ist endlich eine weitere Beruhigung auch in bezug
auf die Balkankrisis eingetreten. Die Verhandlungen zwischen der Türkei und
Bulgarien sind freilich noch in der Schwebe. Bulgarien hat mit großer Gewandtheit
die Lage auszunutzen versucht, um aus dem Bedürfnis Rußlands, als Protektor der
Balkanstaaten aufzutreten, Nutzen zu ziehen, ohne sich zu verpflichten. Die Reise des
Fürsten Ferdinand nach Se. Petersburg diente demselben Zweck. Der russische Hof
hatte dem Fürsten die königlichen Ehren zugestanden, sah sich aber mit Rücksicht


Maßgebliches und Unmaßgebliches

zusammenbrechen. Wie sehr die Leidenschaft an Stelle der Vernunft mitspricht, hat
sich auch darin gezeigt, daß ein Mann wie Professor Adolf Wagner in der General¬
versammlung des Vereins der Steuer- und Wirtschaftsreformer eine geradezu un¬
würdige Behandlung erfuhr, weil er — selbst ein berühmter und erprobter Vor¬
kämpfer agrarischer Ideen — die Nachlaßsteuer mutig verteidigte.

Die Versuche, die Reichsfinanzreform auf der Grundlage der bisherigen Kom¬
missionsarbeiten in Sicherheit zu bringen, können wohl als völlig gescheitert gelten.
Man hatte, wie wir schon vor acht Tagen erwähnen konnten, einen sogenannten
Kompromißvorschlag ausgearbeitet, der im wesentlichen darin bestand, daß sich Kon¬
servative und Zentrum darüber geeinigt hatten, die gewünschte Besteuerung des Be¬
sitzes in der Weise eintreten zu lassen, daß eine von den Einzelstaaten zu erhebende
und an das Reich abzuführende Steuer eingeführt würde, die an die Stelle der
Nachlaß- und Erbschaftssteuer treten und auch die Gas- und Elektrizitätssteuer unnötig
machen sollte. Mit andern Worten eine verschleierte Erhöhung der Matrikular-
beiträge, nur in einer Form, die in geradezu raffinierter Weise unter dem Schein
einer stttrkern Betonung des föderalistischen Prinzips im Reiche in Wahrheit einen
entschiednen Eingriff in wohlbegründete Finanzhoheitsrechte der Einzelstaaten dar¬
stellte. Das war echte Zentrumsmache, die von der richtigen Berechnung ausging,
daß den Konservativen jedes Mittel recht sein würde, um von der Nachlaßsteuer
loszukommen und die Liberalen zu majorisieren, und daß sie um diesen Preis auch
ihre eignen Traditionen und Prinzipien — denn die strenge Wahrung des in der
Reichsverfassung festgelegten Verhältnisses zwischen Reich und Einzelstaaten ist kon¬
servative Tradition — kaltblütig verleugnen würden. Seltsamerweise schien auch bei
den freisinnigen Kommissionsmitgliedern die Neigung zu bestehn, sich übertölpeln
zu lassen, vielleicht weil sie durch einen allerdings kaum zu verstehenden Irrtum
in der vvrgeschlagnen „Besitzsteuer" ihr Lieblingskind, die Reichsvermögenssteuer,
wiederzuerkennen glaubten. Glücklicherweise leisteten die Nationalliberalen diesmal
Widerstand. Die Taktik dieser Partei in der Blockpolitik läßt sich vielleicht am
deutlichsten dahin kennzeichnen, daß sie jedesmal den Mund zugemacht hat, wenn
ihr die gebratnen Tauben hineinfliegen wollten. Es ist wohl noch nicht da¬
gewesen, daß eine Partei, die durch die Zeitumstände geradezu berufen schien, die
Führung zu übernehmen, sich diese Stellung durch Verständnislosigkeit, Unklarheit
und Disziplinlosigkeit so vielfach gründlich verscherzt hat. Sie hätte bei der Neichs-
sinanzreform eigentlich der Kristallisationspunkt werden müssen. Nun hat sie
wenigstens ihre Sünden dadurch gebüßt, daß sie ein Kompromiß verhindert hat,
das zwar den Block gesprengt, aber die Reichsfinanzreform in eine Sackgasse ge¬
fahren hätte. Denn eine Einigung der Parteien über eine Lösung, die für die
verbündeten Regierungen von vornherein unannehmbar war, wäre das Schlimmste
von allem gewesen. Durch das Scheitern des Kompromisses der Kommission ist
für ein Eingreifen des Reichskanzlers und für neue direkte Verhandlungen rin den
Blockparteien Raum geschaffen worden. Ein brauchbares Kompromiß wird hoffentlich
Vorliegen, wenn diese Zeilen den Lesern vor Augen kommen.

In der auswärtigen Lage ist endlich eine weitere Beruhigung auch in bezug
auf die Balkankrisis eingetreten. Die Verhandlungen zwischen der Türkei und
Bulgarien sind freilich noch in der Schwebe. Bulgarien hat mit großer Gewandtheit
die Lage auszunutzen versucht, um aus dem Bedürfnis Rußlands, als Protektor der
Balkanstaaten aufzutreten, Nutzen zu ziehen, ohne sich zu verpflichten. Die Reise des
Fürsten Ferdinand nach Se. Petersburg diente demselben Zweck. Der russische Hof
hatte dem Fürsten die königlichen Ehren zugestanden, sah sich aber mit Rücksicht


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[0524] Maßgebliches und Unmaßgebliches zusammenbrechen. Wie sehr die Leidenschaft an Stelle der Vernunft mitspricht, hat sich auch darin gezeigt, daß ein Mann wie Professor Adolf Wagner in der General¬ versammlung des Vereins der Steuer- und Wirtschaftsreformer eine geradezu un¬ würdige Behandlung erfuhr, weil er — selbst ein berühmter und erprobter Vor¬ kämpfer agrarischer Ideen — die Nachlaßsteuer mutig verteidigte. Die Versuche, die Reichsfinanzreform auf der Grundlage der bisherigen Kom¬ missionsarbeiten in Sicherheit zu bringen, können wohl als völlig gescheitert gelten. Man hatte, wie wir schon vor acht Tagen erwähnen konnten, einen sogenannten Kompromißvorschlag ausgearbeitet, der im wesentlichen darin bestand, daß sich Kon¬ servative und Zentrum darüber geeinigt hatten, die gewünschte Besteuerung des Be¬ sitzes in der Weise eintreten zu lassen, daß eine von den Einzelstaaten zu erhebende und an das Reich abzuführende Steuer eingeführt würde, die an die Stelle der Nachlaß- und Erbschaftssteuer treten und auch die Gas- und Elektrizitätssteuer unnötig machen sollte. Mit andern Worten eine verschleierte Erhöhung der Matrikular- beiträge, nur in einer Form, die in geradezu raffinierter Weise unter dem Schein einer stttrkern Betonung des föderalistischen Prinzips im Reiche in Wahrheit einen entschiednen Eingriff in wohlbegründete Finanzhoheitsrechte der Einzelstaaten dar¬ stellte. Das war echte Zentrumsmache, die von der richtigen Berechnung ausging, daß den Konservativen jedes Mittel recht sein würde, um von der Nachlaßsteuer loszukommen und die Liberalen zu majorisieren, und daß sie um diesen Preis auch ihre eignen Traditionen und Prinzipien — denn die strenge Wahrung des in der Reichsverfassung festgelegten Verhältnisses zwischen Reich und Einzelstaaten ist kon¬ servative Tradition — kaltblütig verleugnen würden. Seltsamerweise schien auch bei den freisinnigen Kommissionsmitgliedern die Neigung zu bestehn, sich übertölpeln zu lassen, vielleicht weil sie durch einen allerdings kaum zu verstehenden Irrtum in der vvrgeschlagnen „Besitzsteuer" ihr Lieblingskind, die Reichsvermögenssteuer, wiederzuerkennen glaubten. Glücklicherweise leisteten die Nationalliberalen diesmal Widerstand. Die Taktik dieser Partei in der Blockpolitik läßt sich vielleicht am deutlichsten dahin kennzeichnen, daß sie jedesmal den Mund zugemacht hat, wenn ihr die gebratnen Tauben hineinfliegen wollten. Es ist wohl noch nicht da¬ gewesen, daß eine Partei, die durch die Zeitumstände geradezu berufen schien, die Führung zu übernehmen, sich diese Stellung durch Verständnislosigkeit, Unklarheit und Disziplinlosigkeit so vielfach gründlich verscherzt hat. Sie hätte bei der Neichs- sinanzreform eigentlich der Kristallisationspunkt werden müssen. Nun hat sie wenigstens ihre Sünden dadurch gebüßt, daß sie ein Kompromiß verhindert hat, das zwar den Block gesprengt, aber die Reichsfinanzreform in eine Sackgasse ge¬ fahren hätte. Denn eine Einigung der Parteien über eine Lösung, die für die verbündeten Regierungen von vornherein unannehmbar war, wäre das Schlimmste von allem gewesen. Durch das Scheitern des Kompromisses der Kommission ist für ein Eingreifen des Reichskanzlers und für neue direkte Verhandlungen rin den Blockparteien Raum geschaffen worden. Ein brauchbares Kompromiß wird hoffentlich Vorliegen, wenn diese Zeilen den Lesern vor Augen kommen. In der auswärtigen Lage ist endlich eine weitere Beruhigung auch in bezug auf die Balkankrisis eingetreten. Die Verhandlungen zwischen der Türkei und Bulgarien sind freilich noch in der Schwebe. Bulgarien hat mit großer Gewandtheit die Lage auszunutzen versucht, um aus dem Bedürfnis Rußlands, als Protektor der Balkanstaaten aufzutreten, Nutzen zu ziehen, ohne sich zu verpflichten. Die Reise des Fürsten Ferdinand nach Se. Petersburg diente demselben Zweck. Der russische Hof hatte dem Fürsten die königlichen Ehren zugestanden, sah sich aber mit Rücksicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/524>, abgerufen am 12.12.2024.