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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Irrenärztliche Wünsche zur neuen Strafprozeßordnung

in eine Irrenanstalt zur Beobachtung und Begutachtung seines Geistes¬
zustandes geordnet ist. Und auch für die Allgemeinheit ist die gesetzliche
Regelung einer so einschneidenden Maßregel nicht gleichgiltig. Paragraph 80
des Entwurfs, der den in Rede stehenden Stoff behandelt, hat folgenden, im
Vergleich zu den jetzt geltenden Bestimmungen wesentlich geänderten Wortlaut:

"Ist zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Be¬
schuldigten nach der Erklärung des Sachverständigen eine längere Beobachtung
erforderlich, so hat der Richter dem Sachverständigen, soweit tunlich, hierzu
Gelegenheit zu geben.

Erklärt der Sachverständige, daß die erforderliche Beobachtung außerhalb
einer Irrenanstalt nicht ausführbar ist, und wird sie demi Sachverständigen auch
nicht dadurch ermöglicht, daß sich der Beschuldigte freiwillig in eine solche
Anstalt aufnehmen läßt, so kann, sofern die öffentliche Klage schon erhoben
ist, das Gericht anordnen, daß der Angeschuldigte in einer öffentlichen Irren¬
anstalt unterzubringen ist; die Anstalt ist vom Gericht zu bezeichnen. Vor der
Anordnung ist der Verteidiger zu hören; hat der Beschuldigte keinen Verteidiger,
so ist ihm ein solcher für das Verfahren über die Unterbringung zu bestellen.
Gegen die Anordnung ist sofort Beschwerde zulässig; die Beschwerde hat auf¬
schiebende Wirkung.

Sobald die Beobachtungen zur Abgabe des Gutachtens ausreiche", hat
der Sachverständige dem Gericht Anzeige zu machen. Die Unterbringung in
der Anstalt darf, auch wenn sie in demselben Verfahren oder in einem andern
Verfahren, das dieselbe Tat zum Gegenstande hat, wiederholt angeordnet wird,
ohne Einwilligung des Angeschuldigten in ihrer Gesamtdauer sechs Wochen
nicht überschreiten.

Die Vorschriften der Absätze 2, 3 finden keine Anwendung im Verfahren
auf Privatklage und in Sachen, die in erster Instanz von den Amtsgerichten
ohne Schöffen zu verhandeln sind."

Man erkennt aus diesem Paragraphen, daß man in Zukunft die Unter¬
bringung in einer öffentlichen Irrenanstalt auf solche Fälle beschränke" will,
in denen diese Maßregel nicht durch andre Vorkehrungen ersetzt werden kann.
Nicht selten wird sich, wie in der amtlichen Begründung des Entwurfs richtig
hervorgehoben ist, nur eine längere Beobachtung nötig machen, um auch in
kompliziertem Fällen ein Gutachten fertigstellen zu können. Daß der Richter
in Zukunft gehalten sein soll, dem Sachverständigen nötigenfalls Gelegenheit
zu längerer Beobachtung für die Vorbereitung des Gutachtens zu geben, ist
ein erfreulicher Fortschritt. ES gibt Richter, die den Umfang und die Schwierig¬
keit mancher psychiatrischen Beobachtung offenbar nicht kennen, die ungestüm
auf die Ablieferung verantwortlicher Gutachten bis zu einem bestimmten, kurz¬
fristigen Termine drängen; Gutachten mit beschränkter Lieferungsfrist können
aber nicht sorgfältig genug nach allen Richtungen erwogen werden. Zuweilen
wird, wie die amtliche Begründung des Entwurfs ebenfalls hervorhebt, die


Irrenärztliche Wünsche zur neuen Strafprozeßordnung

in eine Irrenanstalt zur Beobachtung und Begutachtung seines Geistes¬
zustandes geordnet ist. Und auch für die Allgemeinheit ist die gesetzliche
Regelung einer so einschneidenden Maßregel nicht gleichgiltig. Paragraph 80
des Entwurfs, der den in Rede stehenden Stoff behandelt, hat folgenden, im
Vergleich zu den jetzt geltenden Bestimmungen wesentlich geänderten Wortlaut:

„Ist zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Be¬
schuldigten nach der Erklärung des Sachverständigen eine längere Beobachtung
erforderlich, so hat der Richter dem Sachverständigen, soweit tunlich, hierzu
Gelegenheit zu geben.

Erklärt der Sachverständige, daß die erforderliche Beobachtung außerhalb
einer Irrenanstalt nicht ausführbar ist, und wird sie demi Sachverständigen auch
nicht dadurch ermöglicht, daß sich der Beschuldigte freiwillig in eine solche
Anstalt aufnehmen läßt, so kann, sofern die öffentliche Klage schon erhoben
ist, das Gericht anordnen, daß der Angeschuldigte in einer öffentlichen Irren¬
anstalt unterzubringen ist; die Anstalt ist vom Gericht zu bezeichnen. Vor der
Anordnung ist der Verteidiger zu hören; hat der Beschuldigte keinen Verteidiger,
so ist ihm ein solcher für das Verfahren über die Unterbringung zu bestellen.
Gegen die Anordnung ist sofort Beschwerde zulässig; die Beschwerde hat auf¬
schiebende Wirkung.

Sobald die Beobachtungen zur Abgabe des Gutachtens ausreiche», hat
der Sachverständige dem Gericht Anzeige zu machen. Die Unterbringung in
der Anstalt darf, auch wenn sie in demselben Verfahren oder in einem andern
Verfahren, das dieselbe Tat zum Gegenstande hat, wiederholt angeordnet wird,
ohne Einwilligung des Angeschuldigten in ihrer Gesamtdauer sechs Wochen
nicht überschreiten.

Die Vorschriften der Absätze 2, 3 finden keine Anwendung im Verfahren
auf Privatklage und in Sachen, die in erster Instanz von den Amtsgerichten
ohne Schöffen zu verhandeln sind."

Man erkennt aus diesem Paragraphen, daß man in Zukunft die Unter¬
bringung in einer öffentlichen Irrenanstalt auf solche Fälle beschränke» will,
in denen diese Maßregel nicht durch andre Vorkehrungen ersetzt werden kann.
Nicht selten wird sich, wie in der amtlichen Begründung des Entwurfs richtig
hervorgehoben ist, nur eine längere Beobachtung nötig machen, um auch in
kompliziertem Fällen ein Gutachten fertigstellen zu können. Daß der Richter
in Zukunft gehalten sein soll, dem Sachverständigen nötigenfalls Gelegenheit
zu längerer Beobachtung für die Vorbereitung des Gutachtens zu geben, ist
ein erfreulicher Fortschritt. ES gibt Richter, die den Umfang und die Schwierig¬
keit mancher psychiatrischen Beobachtung offenbar nicht kennen, die ungestüm
auf die Ablieferung verantwortlicher Gutachten bis zu einem bestimmten, kurz¬
fristigen Termine drängen; Gutachten mit beschränkter Lieferungsfrist können
aber nicht sorgfältig genug nach allen Richtungen erwogen werden. Zuweilen
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[0500] Irrenärztliche Wünsche zur neuen Strafprozeßordnung in eine Irrenanstalt zur Beobachtung und Begutachtung seines Geistes¬ zustandes geordnet ist. Und auch für die Allgemeinheit ist die gesetzliche Regelung einer so einschneidenden Maßregel nicht gleichgiltig. Paragraph 80 des Entwurfs, der den in Rede stehenden Stoff behandelt, hat folgenden, im Vergleich zu den jetzt geltenden Bestimmungen wesentlich geänderten Wortlaut: „Ist zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Be¬ schuldigten nach der Erklärung des Sachverständigen eine längere Beobachtung erforderlich, so hat der Richter dem Sachverständigen, soweit tunlich, hierzu Gelegenheit zu geben. Erklärt der Sachverständige, daß die erforderliche Beobachtung außerhalb einer Irrenanstalt nicht ausführbar ist, und wird sie demi Sachverständigen auch nicht dadurch ermöglicht, daß sich der Beschuldigte freiwillig in eine solche Anstalt aufnehmen läßt, so kann, sofern die öffentliche Klage schon erhoben ist, das Gericht anordnen, daß der Angeschuldigte in einer öffentlichen Irren¬ anstalt unterzubringen ist; die Anstalt ist vom Gericht zu bezeichnen. Vor der Anordnung ist der Verteidiger zu hören; hat der Beschuldigte keinen Verteidiger, so ist ihm ein solcher für das Verfahren über die Unterbringung zu bestellen. Gegen die Anordnung ist sofort Beschwerde zulässig; die Beschwerde hat auf¬ schiebende Wirkung. Sobald die Beobachtungen zur Abgabe des Gutachtens ausreiche», hat der Sachverständige dem Gericht Anzeige zu machen. Die Unterbringung in der Anstalt darf, auch wenn sie in demselben Verfahren oder in einem andern Verfahren, das dieselbe Tat zum Gegenstande hat, wiederholt angeordnet wird, ohne Einwilligung des Angeschuldigten in ihrer Gesamtdauer sechs Wochen nicht überschreiten. Die Vorschriften der Absätze 2, 3 finden keine Anwendung im Verfahren auf Privatklage und in Sachen, die in erster Instanz von den Amtsgerichten ohne Schöffen zu verhandeln sind." Man erkennt aus diesem Paragraphen, daß man in Zukunft die Unter¬ bringung in einer öffentlichen Irrenanstalt auf solche Fälle beschränke» will, in denen diese Maßregel nicht durch andre Vorkehrungen ersetzt werden kann. Nicht selten wird sich, wie in der amtlichen Begründung des Entwurfs richtig hervorgehoben ist, nur eine längere Beobachtung nötig machen, um auch in kompliziertem Fällen ein Gutachten fertigstellen zu können. Daß der Richter in Zukunft gehalten sein soll, dem Sachverständigen nötigenfalls Gelegenheit zu längerer Beobachtung für die Vorbereitung des Gutachtens zu geben, ist ein erfreulicher Fortschritt. ES gibt Richter, die den Umfang und die Schwierig¬ keit mancher psychiatrischen Beobachtung offenbar nicht kennen, die ungestüm auf die Ablieferung verantwortlicher Gutachten bis zu einem bestimmten, kurz¬ fristigen Termine drängen; Gutachten mit beschränkter Lieferungsfrist können aber nicht sorgfältig genug nach allen Richtungen erwogen werden. Zuweilen wird, wie die amtliche Begründung des Entwurfs ebenfalls hervorhebt, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/500>, abgerufen am 23.07.2024.