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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Die Reform des Erbrechts

Blutsgemeinschaft und Familiengemeinschaft einfach gleichsetzt? Man würde
vielleicht das letzte annehmen, wenn nicht das Gesetz durch andre Bestimmungen
deutlich genug die Familiengemeinschaft, "das Haus" abgrenzte. Es gibt
nämlich eine unentziehbare Erbanwartschaft, ein "Pflichtteilsrecht" nur den
Verwandten in auf- und absteigender Linie und ebendenselben das Recht auf
Gewährung des Unterhalts. An die Blutsverwandtschaft schlechthin knüpft
dagegen das Gesetz weitere Rechtswirkungen von wesentlicher Tragweite nicht.
Nur die Aussicht auf mühelosem Gewinn verleiht die Blutsverwandtschaft dem,
der eiuen reichen Erbonkel hat! Ein Recht, dem keine Pflicht gegenübersteht,
ein Vorteil, der durch keinerlei Opfer erkauft wird, ein Glücksspiel, das
vom Recht begünstigt wird.

Es scheint zunächst unbegreiflich, wie der Reichstag -- entgegen dein Vor¬
schlage der Gesetzgebungskommission und der Reichsregieruug! -- ein solches
Gesetz beschließen konnte, wie ernsthafte Männer das Gesetz noch heute mit
Pathos verteidigen können. Untersucht man aber diese Stellungnahme auf
ihre psychologischen Motive, so stößt mau auf Vorstellungen, die Beachtung
verdienen und mir bei ihren Trägern zu falschen Entschlüssen geführt haben.

Es ist keine Frage, daß das Bewußtsein einer Zusammengehörigkeit, die
sich auf Abstammung und Überlieferung gründet, in vielen Familien weit über
den Kreis der durch Verwandtschaft in gerader Linie verbundnen Personen
hinaus sich geltend macht. Der Name, den die Väter trugen, die Scholle, die
die Väter bebaut haben, Familienüberlieferungen und Familienandenken lassen
ein Gefühl die Gemeinschaft entstehen, das sozial wertvoll ist, weil es den
einzelnen erzieht und trägt, weil es Pflichtbewußtsein und Selbstbewußtsein
stärkt und in Einklang bringt. Und es läßt sich nicht leugnen, daß, wo dieses
Familienbewußtsein besteht, es auch Berücksichtigung durch das Erbrecht ver-
dient. Nur fragt sich, ob diese Berücksichtigung in der Weise zu geschehen
hat, daß jeder Blutsverwandte eine gesetzliche Erbanwartschaft erhält. Und
dies muß mit Entschiedenheit verneint werden.

Ich sehe davon ab, daß eine solche Regelung unter allen Umständen weit
über das Ziel einer Berücksichtigung des Familienzusammenhanges hinaus¬
schießt. Ich bestreite vielmehr, daß die geschilderten Beziehungen überhaupt
durch ein allgemeingültiges Gesetz zu berücksichtigen sind. Das Erbrecht des
Bürgerlichen Gesetzbuches stellt Rechtssätze auf, die für jedermann gelten
und aus "normale Verhältnisse", das heißt auf überwiegend beobachtete Er¬
scheinungen des sozialen Lebens zugeschnitten sind. Und ich bestreite, daß ein
so weitgehender Familienzusammenhang heute überhaupt noch zu den normalen
Erscheinungen gehört. Das mag beklagenswert sein, aber es kann nicht da¬
durch geändert werden, daß mau durch das Erbrecht künstlich eine Familie
schafft, die im sozialen Leben nicht mehr vorhanden ist. Man rettet nicht die
Familie, indem mau die Begehrlichkeit der Erbanwärter aufstachelt, sondern
indem man dafür sorgt, daß das Familienleben wieder eine Stätte findet.


Die Reform des Erbrechts

Blutsgemeinschaft und Familiengemeinschaft einfach gleichsetzt? Man würde
vielleicht das letzte annehmen, wenn nicht das Gesetz durch andre Bestimmungen
deutlich genug die Familiengemeinschaft, „das Haus" abgrenzte. Es gibt
nämlich eine unentziehbare Erbanwartschaft, ein „Pflichtteilsrecht" nur den
Verwandten in auf- und absteigender Linie und ebendenselben das Recht auf
Gewährung des Unterhalts. An die Blutsverwandtschaft schlechthin knüpft
dagegen das Gesetz weitere Rechtswirkungen von wesentlicher Tragweite nicht.
Nur die Aussicht auf mühelosem Gewinn verleiht die Blutsverwandtschaft dem,
der eiuen reichen Erbonkel hat! Ein Recht, dem keine Pflicht gegenübersteht,
ein Vorteil, der durch keinerlei Opfer erkauft wird, ein Glücksspiel, das
vom Recht begünstigt wird.

Es scheint zunächst unbegreiflich, wie der Reichstag — entgegen dein Vor¬
schlage der Gesetzgebungskommission und der Reichsregieruug! — ein solches
Gesetz beschließen konnte, wie ernsthafte Männer das Gesetz noch heute mit
Pathos verteidigen können. Untersucht man aber diese Stellungnahme auf
ihre psychologischen Motive, so stößt mau auf Vorstellungen, die Beachtung
verdienen und mir bei ihren Trägern zu falschen Entschlüssen geführt haben.

Es ist keine Frage, daß das Bewußtsein einer Zusammengehörigkeit, die
sich auf Abstammung und Überlieferung gründet, in vielen Familien weit über
den Kreis der durch Verwandtschaft in gerader Linie verbundnen Personen
hinaus sich geltend macht. Der Name, den die Väter trugen, die Scholle, die
die Väter bebaut haben, Familienüberlieferungen und Familienandenken lassen
ein Gefühl die Gemeinschaft entstehen, das sozial wertvoll ist, weil es den
einzelnen erzieht und trägt, weil es Pflichtbewußtsein und Selbstbewußtsein
stärkt und in Einklang bringt. Und es läßt sich nicht leugnen, daß, wo dieses
Familienbewußtsein besteht, es auch Berücksichtigung durch das Erbrecht ver-
dient. Nur fragt sich, ob diese Berücksichtigung in der Weise zu geschehen
hat, daß jeder Blutsverwandte eine gesetzliche Erbanwartschaft erhält. Und
dies muß mit Entschiedenheit verneint werden.

Ich sehe davon ab, daß eine solche Regelung unter allen Umständen weit
über das Ziel einer Berücksichtigung des Familienzusammenhanges hinaus¬
schießt. Ich bestreite vielmehr, daß die geschilderten Beziehungen überhaupt
durch ein allgemeingültiges Gesetz zu berücksichtigen sind. Das Erbrecht des
Bürgerlichen Gesetzbuches stellt Rechtssätze auf, die für jedermann gelten
und aus „normale Verhältnisse", das heißt auf überwiegend beobachtete Er¬
scheinungen des sozialen Lebens zugeschnitten sind. Und ich bestreite, daß ein
so weitgehender Familienzusammenhang heute überhaupt noch zu den normalen
Erscheinungen gehört. Das mag beklagenswert sein, aber es kann nicht da¬
durch geändert werden, daß mau durch das Erbrecht künstlich eine Familie
schafft, die im sozialen Leben nicht mehr vorhanden ist. Man rettet nicht die
Familie, indem mau die Begehrlichkeit der Erbanwärter aufstachelt, sondern
indem man dafür sorgt, daß das Familienleben wieder eine Stätte findet.


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[0483] Die Reform des Erbrechts Blutsgemeinschaft und Familiengemeinschaft einfach gleichsetzt? Man würde vielleicht das letzte annehmen, wenn nicht das Gesetz durch andre Bestimmungen deutlich genug die Familiengemeinschaft, „das Haus" abgrenzte. Es gibt nämlich eine unentziehbare Erbanwartschaft, ein „Pflichtteilsrecht" nur den Verwandten in auf- und absteigender Linie und ebendenselben das Recht auf Gewährung des Unterhalts. An die Blutsverwandtschaft schlechthin knüpft dagegen das Gesetz weitere Rechtswirkungen von wesentlicher Tragweite nicht. Nur die Aussicht auf mühelosem Gewinn verleiht die Blutsverwandtschaft dem, der eiuen reichen Erbonkel hat! Ein Recht, dem keine Pflicht gegenübersteht, ein Vorteil, der durch keinerlei Opfer erkauft wird, ein Glücksspiel, das vom Recht begünstigt wird. Es scheint zunächst unbegreiflich, wie der Reichstag — entgegen dein Vor¬ schlage der Gesetzgebungskommission und der Reichsregieruug! — ein solches Gesetz beschließen konnte, wie ernsthafte Männer das Gesetz noch heute mit Pathos verteidigen können. Untersucht man aber diese Stellungnahme auf ihre psychologischen Motive, so stößt mau auf Vorstellungen, die Beachtung verdienen und mir bei ihren Trägern zu falschen Entschlüssen geführt haben. Es ist keine Frage, daß das Bewußtsein einer Zusammengehörigkeit, die sich auf Abstammung und Überlieferung gründet, in vielen Familien weit über den Kreis der durch Verwandtschaft in gerader Linie verbundnen Personen hinaus sich geltend macht. Der Name, den die Väter trugen, die Scholle, die die Väter bebaut haben, Familienüberlieferungen und Familienandenken lassen ein Gefühl die Gemeinschaft entstehen, das sozial wertvoll ist, weil es den einzelnen erzieht und trägt, weil es Pflichtbewußtsein und Selbstbewußtsein stärkt und in Einklang bringt. Und es läßt sich nicht leugnen, daß, wo dieses Familienbewußtsein besteht, es auch Berücksichtigung durch das Erbrecht ver- dient. Nur fragt sich, ob diese Berücksichtigung in der Weise zu geschehen hat, daß jeder Blutsverwandte eine gesetzliche Erbanwartschaft erhält. Und dies muß mit Entschiedenheit verneint werden. Ich sehe davon ab, daß eine solche Regelung unter allen Umständen weit über das Ziel einer Berücksichtigung des Familienzusammenhanges hinaus¬ schießt. Ich bestreite vielmehr, daß die geschilderten Beziehungen überhaupt durch ein allgemeingültiges Gesetz zu berücksichtigen sind. Das Erbrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches stellt Rechtssätze auf, die für jedermann gelten und aus „normale Verhältnisse", das heißt auf überwiegend beobachtete Er¬ scheinungen des sozialen Lebens zugeschnitten sind. Und ich bestreite, daß ein so weitgehender Familienzusammenhang heute überhaupt noch zu den normalen Erscheinungen gehört. Das mag beklagenswert sein, aber es kann nicht da¬ durch geändert werden, daß mau durch das Erbrecht künstlich eine Familie schafft, die im sozialen Leben nicht mehr vorhanden ist. Man rettet nicht die Familie, indem mau die Begehrlichkeit der Erbanwärter aufstachelt, sondern indem man dafür sorgt, daß das Familienleben wieder eine Stätte findet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/483>, abgerufen am 25.08.2024.