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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Ver j)arnafsus in Neusiedel

Und er kam. Und er stieg diesmal in der Villa Seidelbast ab. Und die
ganze Villa Seidelbast stand ihm zur Verfügung mit Ausnahme des Hinterzimmers,
worin der Geheimrat, kränker als je, in seinein Lehnstuhle saß. Es fehlte nicht viel,
so hätte die gnädige Frau dem Gaste ihren Ehrenplatz uns dem Sofa hinter dem
runden Tische abgetreten und sich zu seinen Füßen niedergelassen. So sehr war ihr
Herz mit ihren Idealen erfüllt, und so groß war ihre Hingabe an die Kunst.

Und Hilda? Sie befand sich noch immer in der peinlichen Lage, daß sie von
einander widerstrebenden Empfindungen beunruhigt wurde. Man denke sich den
Fall, daß die Erde zwei Monde oder gar zwei Sonnen hätte, welcher Kampf der
anziehenden Kräfte würde entsteh"! Zwei Monde, das ginge noch, Monde sind
Trabanten, die nachfolgen, aber Sonnen sind Herrscher, die führen. Und wenn die
Sonnen nur eben erst aufgingen, das mochte auch noch sein, da versteckt sich die eine
hinter dem Morgennebel, und die andre leuchtet. Aber wenn sie beide hoch am
Himmel standen, was dann? Man denke sich ein Mädchenherz, das doch von Natur
ans den Einen, den Herrlichsten von allen gestimmt ist, und zwei Herrlichste von
allen stehn auf einmal hoch an dem Himmel ihres Lebens! Hilda hatte dies wider¬
natürliche Ereignis erlebt. In demselben Augenblicke, wo ihr die Sonne der Kunst
aufging, trat auch Onkel Philipp aus den Wolken der Onkelhaftigkeit hervor. Wenn
Nohrschach nicht ihren Weg gekreuzt hätte, sie hätte ihre Hand vertrauensvoll in
die Onkel Philipps gelegt. Aber jetzt, wenn er jetzt reden würde, die andre Sonne
hätte es ihr verboten, ja zu sagen. Es war gut, daß er schwieg.

Man hätte meinen sollen, daß diese andre Sonne dann, wenn sie da war, den
stärksten Eindruck gemacht hätte; bei Rohrschach war es umgekehrt. Der abwesende
Halbgott machte den größern Eindruck als der anwesende. Der abwesende nahm
verklärte Gestalt an; der Rvhrschach im Frack verschwand, und Siegfried im Wolss-
fell -- hoso! dabei! -- trat an die Stelle, jene überirdische Jugend und Schönheit,
die es ihr angetan hatte, und die sie die Kunst nannte.

Mama merkte nichts von alledem, ihre Gedanken bewegten sich in zu hohen
Regionen, sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber Hundiug merkte es. Hilda,
sagte er, du bist krank, du hast das Tenorfieber. Laß dir täglich drei kalte Ab¬
reibungen verordnen.

Als Antwort warf Hilda einen schwärmerischen Blick auf die Photographie
ihres Halbgottes.

Ich will dir sagen, was dein Halbgott ist, ein ganz gewöhnlicher Narr. Großer
Sänger, Mädchenfänger. Ein eitler Mensch, der nur eine Leidenschaft hat, seine eigne
werte Person. Aber so sind sie alle. Man sollte sich mit diesem Volke überhaupt
"icht einlassen.

Hilda strafte ihren Bruder mit Verachtung, mußte sich freilich zugestehn, daß
er nicht ganz Unrecht hatte, wenn er sie krank nannte. Sie fühlte sich unfrei, sie
stand unter einer fremden Macht, Es war eine schmerzlich-süße Herrschaft, aber im
Grunde hätte sie doch gewünscht, frei zu sein, wieder sie selbst zu sein. Was freilich
Hmiding von des Sängers Egoismus und seiner Eitelkeit sagte, war eitel Ver¬
leumdung.

(Fortsetzung folgt)




Ver j)arnafsus in Neusiedel

Und er kam. Und er stieg diesmal in der Villa Seidelbast ab. Und die
ganze Villa Seidelbast stand ihm zur Verfügung mit Ausnahme des Hinterzimmers,
worin der Geheimrat, kränker als je, in seinein Lehnstuhle saß. Es fehlte nicht viel,
so hätte die gnädige Frau dem Gaste ihren Ehrenplatz uns dem Sofa hinter dem
runden Tische abgetreten und sich zu seinen Füßen niedergelassen. So sehr war ihr
Herz mit ihren Idealen erfüllt, und so groß war ihre Hingabe an die Kunst.

Und Hilda? Sie befand sich noch immer in der peinlichen Lage, daß sie von
einander widerstrebenden Empfindungen beunruhigt wurde. Man denke sich den
Fall, daß die Erde zwei Monde oder gar zwei Sonnen hätte, welcher Kampf der
anziehenden Kräfte würde entsteh»! Zwei Monde, das ginge noch, Monde sind
Trabanten, die nachfolgen, aber Sonnen sind Herrscher, die führen. Und wenn die
Sonnen nur eben erst aufgingen, das mochte auch noch sein, da versteckt sich die eine
hinter dem Morgennebel, und die andre leuchtet. Aber wenn sie beide hoch am
Himmel standen, was dann? Man denke sich ein Mädchenherz, das doch von Natur
ans den Einen, den Herrlichsten von allen gestimmt ist, und zwei Herrlichste von
allen stehn auf einmal hoch an dem Himmel ihres Lebens! Hilda hatte dies wider¬
natürliche Ereignis erlebt. In demselben Augenblicke, wo ihr die Sonne der Kunst
aufging, trat auch Onkel Philipp aus den Wolken der Onkelhaftigkeit hervor. Wenn
Nohrschach nicht ihren Weg gekreuzt hätte, sie hätte ihre Hand vertrauensvoll in
die Onkel Philipps gelegt. Aber jetzt, wenn er jetzt reden würde, die andre Sonne
hätte es ihr verboten, ja zu sagen. Es war gut, daß er schwieg.

Man hätte meinen sollen, daß diese andre Sonne dann, wenn sie da war, den
stärksten Eindruck gemacht hätte; bei Rohrschach war es umgekehrt. Der abwesende
Halbgott machte den größern Eindruck als der anwesende. Der abwesende nahm
verklärte Gestalt an; der Rvhrschach im Frack verschwand, und Siegfried im Wolss-
fell — hoso! dabei! — trat an die Stelle, jene überirdische Jugend und Schönheit,
die es ihr angetan hatte, und die sie die Kunst nannte.

Mama merkte nichts von alledem, ihre Gedanken bewegten sich in zu hohen
Regionen, sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber Hundiug merkte es. Hilda,
sagte er, du bist krank, du hast das Tenorfieber. Laß dir täglich drei kalte Ab¬
reibungen verordnen.

Als Antwort warf Hilda einen schwärmerischen Blick auf die Photographie
ihres Halbgottes.

Ich will dir sagen, was dein Halbgott ist, ein ganz gewöhnlicher Narr. Großer
Sänger, Mädchenfänger. Ein eitler Mensch, der nur eine Leidenschaft hat, seine eigne
werte Person. Aber so sind sie alle. Man sollte sich mit diesem Volke überhaupt
"icht einlassen.

Hilda strafte ihren Bruder mit Verachtung, mußte sich freilich zugestehn, daß
er nicht ganz Unrecht hatte, wenn er sie krank nannte. Sie fühlte sich unfrei, sie
stand unter einer fremden Macht, Es war eine schmerzlich-süße Herrschaft, aber im
Grunde hätte sie doch gewünscht, frei zu sein, wieder sie selbst zu sein. Was freilich
Hmiding von des Sängers Egoismus und seiner Eitelkeit sagte, war eitel Ver¬
leumdung.

(Fortsetzung folgt)




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[0471] Ver j)arnafsus in Neusiedel Und er kam. Und er stieg diesmal in der Villa Seidelbast ab. Und die ganze Villa Seidelbast stand ihm zur Verfügung mit Ausnahme des Hinterzimmers, worin der Geheimrat, kränker als je, in seinein Lehnstuhle saß. Es fehlte nicht viel, so hätte die gnädige Frau dem Gaste ihren Ehrenplatz uns dem Sofa hinter dem runden Tische abgetreten und sich zu seinen Füßen niedergelassen. So sehr war ihr Herz mit ihren Idealen erfüllt, und so groß war ihre Hingabe an die Kunst. Und Hilda? Sie befand sich noch immer in der peinlichen Lage, daß sie von einander widerstrebenden Empfindungen beunruhigt wurde. Man denke sich den Fall, daß die Erde zwei Monde oder gar zwei Sonnen hätte, welcher Kampf der anziehenden Kräfte würde entsteh»! Zwei Monde, das ginge noch, Monde sind Trabanten, die nachfolgen, aber Sonnen sind Herrscher, die führen. Und wenn die Sonnen nur eben erst aufgingen, das mochte auch noch sein, da versteckt sich die eine hinter dem Morgennebel, und die andre leuchtet. Aber wenn sie beide hoch am Himmel standen, was dann? Man denke sich ein Mädchenherz, das doch von Natur ans den Einen, den Herrlichsten von allen gestimmt ist, und zwei Herrlichste von allen stehn auf einmal hoch an dem Himmel ihres Lebens! Hilda hatte dies wider¬ natürliche Ereignis erlebt. In demselben Augenblicke, wo ihr die Sonne der Kunst aufging, trat auch Onkel Philipp aus den Wolken der Onkelhaftigkeit hervor. Wenn Nohrschach nicht ihren Weg gekreuzt hätte, sie hätte ihre Hand vertrauensvoll in die Onkel Philipps gelegt. Aber jetzt, wenn er jetzt reden würde, die andre Sonne hätte es ihr verboten, ja zu sagen. Es war gut, daß er schwieg. Man hätte meinen sollen, daß diese andre Sonne dann, wenn sie da war, den stärksten Eindruck gemacht hätte; bei Rohrschach war es umgekehrt. Der abwesende Halbgott machte den größern Eindruck als der anwesende. Der abwesende nahm verklärte Gestalt an; der Rvhrschach im Frack verschwand, und Siegfried im Wolss- fell — hoso! dabei! — trat an die Stelle, jene überirdische Jugend und Schönheit, die es ihr angetan hatte, und die sie die Kunst nannte. Mama merkte nichts von alledem, ihre Gedanken bewegten sich in zu hohen Regionen, sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber Hundiug merkte es. Hilda, sagte er, du bist krank, du hast das Tenorfieber. Laß dir täglich drei kalte Ab¬ reibungen verordnen. Als Antwort warf Hilda einen schwärmerischen Blick auf die Photographie ihres Halbgottes. Ich will dir sagen, was dein Halbgott ist, ein ganz gewöhnlicher Narr. Großer Sänger, Mädchenfänger. Ein eitler Mensch, der nur eine Leidenschaft hat, seine eigne werte Person. Aber so sind sie alle. Man sollte sich mit diesem Volke überhaupt "icht einlassen. Hilda strafte ihren Bruder mit Verachtung, mußte sich freilich zugestehn, daß er nicht ganz Unrecht hatte, wenn er sie krank nannte. Sie fühlte sich unfrei, sie stand unter einer fremden Macht, Es war eine schmerzlich-süße Herrschaft, aber im Grunde hätte sie doch gewünscht, frei zu sein, wieder sie selbst zu sein. Was freilich Hmiding von des Sängers Egoismus und seiner Eitelkeit sagte, war eitel Ver¬ leumdung. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/471>, abgerufen am 12.12.2024.