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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Frauenbriefe und Frauenbildung

Zugegeben -- eins hatten unsre Urgroßmutter vor uns voraus, eine
Hauptbedingung zum Briefschreiben -- sie hatten mehr Zeit als wir! Aber
an allen Fehlern unsers Geschlechts ist dieser oft beklagte Mangel doch auch
nicht schuld. Frühere Generationen hatte ihre Arbeit so gut wie wir die
unsre, und bekanntlich waren die Frauen der Biedermeierzeit vorzügliche
Hausfrauen. Sie fanden aber doch Muße zu schriftlicher Beschäftigung.
Warum können wir das nicht? Ich glaube, von einigen vielgeplagten, be¬
dauernswerten Müttern abgesehen, die wirklich nie Zeit für irgend etwas
haben, finden wir alle die Möglichkeit für das. was uns am Herzen liegt.
Aber ernsthafte Aussprache über gute Bücher oder Kunstwerke und dergleichen
liegt uns eben nicht am Herzen, und sie tut das nicht, weil wir nichts von
alledem mehr mit Sammlung und Hingebung aufnehmen und betreiben.

Diesen Jnteressenmangel -- vielleicht liegt es noch öfter an dem un¬
glückseligen Jnteressenüberfluß! -- kann man wirklich nicht nur mit der Ner¬
vosität unsrer Zeit entschuldigen. Wenn alle die Stunden, die auf das Ab¬
solvieren überflüssiger Besuche und Handarbeiten, auf das Lesen minderwertiger
Modebücher usw. verwandt werden, zusammengerechnet würden, so ergäbe sich
genug freie Zeit, in der so viel geschichtliche, naturwissenschaftliche, künstlerische
Kenntnisse gesammelt werden könnten, um eine Aussprache und Weiterbildung
nach diesen Seiten zu ermöglichen. Denn wirkliches Interesse beruht immer
nur auf wirklichen Kenntnissen. Uns Heutigen stehen glücklicherweise viel mehr
Möglichkeiten offen, viel zu wissen, als unsern Vorfahren, aber viel wissen heißt
leider oft oberflächlich wissen. Und ein flaches Vielwisser, die Richtung unsrer
modernsten, mit verblüffender Prätension auftretenden Pädagogik, die Mädchen
M einem "vielseitigen" Interesse zu zwingen, sind meist der Grund der leidigen
Halbbildung -- eine der allerschlimmsten Gefahren des weiblichen Geschlechts.

Liest man heute die anschaulichen Briefe z. B. aus dem Weimarer Kreise,
so kommt einem zum Bewußtsein, daß die damalige Frau zwar weniger viel¬
seitig, aber dafür einheitlicher gebildet war, was dem eigentlichen Sinne des
Wortes Bildung im Grunde näher kommt. Neben der Gefühlswürme -- wir
nennen es Gefühlsüberfluß! -- zieht sich geistige Arbeit, lebendige Teil¬
nahme an allen Geisteswerken wie ein roter Faden durch die Korrespondenz
auch der Frau, und gerade dies macht die alten Briefe so anziehend. Nicht
die hübschen Beschreibungen, philosophischen Reflexionen, literarischen Meinungen
an sich geben uns in ihnen ein so anschauliches Gemälde damaliger Zeit und
Kultur. Das tut vor allen Dingen das Bild der Schreiberin, das hinter den
Zeilen vor uns auftaucht -- wir sehen die Frau jener Zeit etwas über¬
schwenglich, etwas streng in Leben und Sitte, aufgehend in Gatten- und
Kinderliebe zu Hause, aber mit reger Teilnahme nach außen an den geistigen
Strömungen und hell begeistert für das Schöne und Gute darin. Wir
Modernen haben es längst aufgegeben, nach Art unsrer Großmütter Auszüge
aus allen Büchern zu machen, Gedichte und Sinnsprüche, ja ganze Aufsätze


Frauenbriefe und Frauenbildung

Zugegeben — eins hatten unsre Urgroßmutter vor uns voraus, eine
Hauptbedingung zum Briefschreiben — sie hatten mehr Zeit als wir! Aber
an allen Fehlern unsers Geschlechts ist dieser oft beklagte Mangel doch auch
nicht schuld. Frühere Generationen hatte ihre Arbeit so gut wie wir die
unsre, und bekanntlich waren die Frauen der Biedermeierzeit vorzügliche
Hausfrauen. Sie fanden aber doch Muße zu schriftlicher Beschäftigung.
Warum können wir das nicht? Ich glaube, von einigen vielgeplagten, be¬
dauernswerten Müttern abgesehen, die wirklich nie Zeit für irgend etwas
haben, finden wir alle die Möglichkeit für das. was uns am Herzen liegt.
Aber ernsthafte Aussprache über gute Bücher oder Kunstwerke und dergleichen
liegt uns eben nicht am Herzen, und sie tut das nicht, weil wir nichts von
alledem mehr mit Sammlung und Hingebung aufnehmen und betreiben.

Diesen Jnteressenmangel — vielleicht liegt es noch öfter an dem un¬
glückseligen Jnteressenüberfluß! — kann man wirklich nicht nur mit der Ner¬
vosität unsrer Zeit entschuldigen. Wenn alle die Stunden, die auf das Ab¬
solvieren überflüssiger Besuche und Handarbeiten, auf das Lesen minderwertiger
Modebücher usw. verwandt werden, zusammengerechnet würden, so ergäbe sich
genug freie Zeit, in der so viel geschichtliche, naturwissenschaftliche, künstlerische
Kenntnisse gesammelt werden könnten, um eine Aussprache und Weiterbildung
nach diesen Seiten zu ermöglichen. Denn wirkliches Interesse beruht immer
nur auf wirklichen Kenntnissen. Uns Heutigen stehen glücklicherweise viel mehr
Möglichkeiten offen, viel zu wissen, als unsern Vorfahren, aber viel wissen heißt
leider oft oberflächlich wissen. Und ein flaches Vielwisser, die Richtung unsrer
modernsten, mit verblüffender Prätension auftretenden Pädagogik, die Mädchen
M einem „vielseitigen" Interesse zu zwingen, sind meist der Grund der leidigen
Halbbildung — eine der allerschlimmsten Gefahren des weiblichen Geschlechts.

Liest man heute die anschaulichen Briefe z. B. aus dem Weimarer Kreise,
so kommt einem zum Bewußtsein, daß die damalige Frau zwar weniger viel¬
seitig, aber dafür einheitlicher gebildet war, was dem eigentlichen Sinne des
Wortes Bildung im Grunde näher kommt. Neben der Gefühlswürme — wir
nennen es Gefühlsüberfluß! — zieht sich geistige Arbeit, lebendige Teil¬
nahme an allen Geisteswerken wie ein roter Faden durch die Korrespondenz
auch der Frau, und gerade dies macht die alten Briefe so anziehend. Nicht
die hübschen Beschreibungen, philosophischen Reflexionen, literarischen Meinungen
an sich geben uns in ihnen ein so anschauliches Gemälde damaliger Zeit und
Kultur. Das tut vor allen Dingen das Bild der Schreiberin, das hinter den
Zeilen vor uns auftaucht — wir sehen die Frau jener Zeit etwas über¬
schwenglich, etwas streng in Leben und Sitte, aufgehend in Gatten- und
Kinderliebe zu Hause, aber mit reger Teilnahme nach außen an den geistigen
Strömungen und hell begeistert für das Schöne und Gute darin. Wir
Modernen haben es längst aufgegeben, nach Art unsrer Großmütter Auszüge
aus allen Büchern zu machen, Gedichte und Sinnsprüche, ja ganze Aufsätze


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[0457] Frauenbriefe und Frauenbildung Zugegeben — eins hatten unsre Urgroßmutter vor uns voraus, eine Hauptbedingung zum Briefschreiben — sie hatten mehr Zeit als wir! Aber an allen Fehlern unsers Geschlechts ist dieser oft beklagte Mangel doch auch nicht schuld. Frühere Generationen hatte ihre Arbeit so gut wie wir die unsre, und bekanntlich waren die Frauen der Biedermeierzeit vorzügliche Hausfrauen. Sie fanden aber doch Muße zu schriftlicher Beschäftigung. Warum können wir das nicht? Ich glaube, von einigen vielgeplagten, be¬ dauernswerten Müttern abgesehen, die wirklich nie Zeit für irgend etwas haben, finden wir alle die Möglichkeit für das. was uns am Herzen liegt. Aber ernsthafte Aussprache über gute Bücher oder Kunstwerke und dergleichen liegt uns eben nicht am Herzen, und sie tut das nicht, weil wir nichts von alledem mehr mit Sammlung und Hingebung aufnehmen und betreiben. Diesen Jnteressenmangel — vielleicht liegt es noch öfter an dem un¬ glückseligen Jnteressenüberfluß! — kann man wirklich nicht nur mit der Ner¬ vosität unsrer Zeit entschuldigen. Wenn alle die Stunden, die auf das Ab¬ solvieren überflüssiger Besuche und Handarbeiten, auf das Lesen minderwertiger Modebücher usw. verwandt werden, zusammengerechnet würden, so ergäbe sich genug freie Zeit, in der so viel geschichtliche, naturwissenschaftliche, künstlerische Kenntnisse gesammelt werden könnten, um eine Aussprache und Weiterbildung nach diesen Seiten zu ermöglichen. Denn wirkliches Interesse beruht immer nur auf wirklichen Kenntnissen. Uns Heutigen stehen glücklicherweise viel mehr Möglichkeiten offen, viel zu wissen, als unsern Vorfahren, aber viel wissen heißt leider oft oberflächlich wissen. Und ein flaches Vielwisser, die Richtung unsrer modernsten, mit verblüffender Prätension auftretenden Pädagogik, die Mädchen M einem „vielseitigen" Interesse zu zwingen, sind meist der Grund der leidigen Halbbildung — eine der allerschlimmsten Gefahren des weiblichen Geschlechts. Liest man heute die anschaulichen Briefe z. B. aus dem Weimarer Kreise, so kommt einem zum Bewußtsein, daß die damalige Frau zwar weniger viel¬ seitig, aber dafür einheitlicher gebildet war, was dem eigentlichen Sinne des Wortes Bildung im Grunde näher kommt. Neben der Gefühlswürme — wir nennen es Gefühlsüberfluß! — zieht sich geistige Arbeit, lebendige Teil¬ nahme an allen Geisteswerken wie ein roter Faden durch die Korrespondenz auch der Frau, und gerade dies macht die alten Briefe so anziehend. Nicht die hübschen Beschreibungen, philosophischen Reflexionen, literarischen Meinungen an sich geben uns in ihnen ein so anschauliches Gemälde damaliger Zeit und Kultur. Das tut vor allen Dingen das Bild der Schreiberin, das hinter den Zeilen vor uns auftaucht — wir sehen die Frau jener Zeit etwas über¬ schwenglich, etwas streng in Leben und Sitte, aufgehend in Gatten- und Kinderliebe zu Hause, aber mit reger Teilnahme nach außen an den geistigen Strömungen und hell begeistert für das Schöne und Gute darin. Wir Modernen haben es längst aufgegeben, nach Art unsrer Großmütter Auszüge aus allen Büchern zu machen, Gedichte und Sinnsprüche, ja ganze Aufsätze

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/457>, abgerufen am 12.12.2024.