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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Licero

Abschnitt über seine Selbstrechtfertigung hervortreten. Um diese vor allem sei
es Cicero zu tun gewesen. Und wollte er gerechtfertigt erscheinen, so mußte
er genau wissen, ob er in jedem Augenblicke recht gehandelt habe, also auch,
was in jedem Augenblicke seine Pflicht gewesen sei. Aber wie darüber Gewi߬
heit erlangen? Wen soll ich befragen? Die Guten, heißt es bei den
Philosophen. Also doch wohl die Männer, die sich sogar die Besten nennen.
Ja. wenn nur wenigstens einige Gute unter diesen Optimaten wären, aber
die sind ja sämtlich Schurken und Lumpen, denen ihre Fischteiche mehr am
Herzen liegen als die Republik. Nur einen kenne ich. auf dessen Urteil ich
mich verlassen kann: meinen Freund Attikus. Aber schließlich hat auch der
versagt, und so wollte sich Cicero zuletzt nur noch auf sein gutes Gewissen
verlassen. Leider fand er auch in diesem nicht die erhoffte Ruhe; vom Zweifel,
was das Rechte sei. hin und her geworfen, mühte er sich in schweren Seelen¬
kämpfen vergebens ab. ..Mich foltert der Gedanke, ich sei in eine Lage ge¬
raten, wo ich weder einen zweckmäßigen noch einen ehrenhaften Entschluß
fassen kann." (Daß Cicero überzeugt war, man dürfe niemals das uoneswm
dem utile opfern, darin hat er, wie Zielinski mit Recht hervorhebt, unzählige
Christen beschämt.) Zuletzt aber hat er nur noch die eine Sorge, wie die
Nachwelt über ihn denken werde, und wie er bemüht gewesen ist, sich einen
fleckenlosen Nachruhm zu sichern, ist ja hinlänglich bekannt. Hat Augustin,
der sich freilich zu stark ausgedrückt, unrecht gehabt, wenn er diese Art Tugend
von seinem durchs Christentum erleuchteten Standpunkt aus nicht für voll
nahm? Ruhmsucht als ausschlaggebendes, und ruhen wollen im Bewußtsein
der eignen Gerechtigkeit als zweitstärkstes Motiv, ist das höchste und reinste
Sittlichkeit? Der Christ stellt die Liebe höher als das Verlangen nach Ruhm
und braucht sich dessen schon darum nicht zu schämen, weil der Nachruhm so
eitel ist wie der bei Lebzeiten genossene; wird er doch auch Unwürdigen zuteil.
Und mit der Warnung vor Selbstgerechtigkeit -- pharisäisch nennen wir
sie -- hat Jesus der Menschheit einen großen Dienst erwiesen, denn sie macht
hochmütig und hart, wirkt unsozial und schadet dem Pharisäer selbst, dem sie
seine Fehler verbirgt und die Selbstvervollkommnung unmöglich macht. Wenn
aber Cicero zu seiner eignen Qual über seine positive Pflicht, über das, was
zu tun war, nicht mit sich ins reine kommen konnte und nur die Grenze
zu erkennen vermochte, jenseits deren das entschieden Unehrenhafte, das Böse
und das Schlechte liegt, so war das zwar kein spezifisch heidnischer Mangel,
uns Christen geht es auch nicht anders. Aber wir haben ein Beruhigungs¬
mittel, das dem Heiden fehlte. Paulus schreibt: ich bin mir zwar keiner
sonderlichen Schuld bewußt, halte mich aber darum noch nicht für gerecht¬
fertigt. Was menschliche Richter über mich urteilen, das ist mir gleichgiltig,
und ich richte mich auch selbst nicht; "der mich richtet, ist der Herr". Weil
das. was wir tun und lassen, keineswegs ganz ohne Nest unser eignes Werk
ist. weil wir unsern eignen, persönlichen Anteil an unserm Lebenswerk so


Grenzboten I 1909 58
Licero

Abschnitt über seine Selbstrechtfertigung hervortreten. Um diese vor allem sei
es Cicero zu tun gewesen. Und wollte er gerechtfertigt erscheinen, so mußte
er genau wissen, ob er in jedem Augenblicke recht gehandelt habe, also auch,
was in jedem Augenblicke seine Pflicht gewesen sei. Aber wie darüber Gewi߬
heit erlangen? Wen soll ich befragen? Die Guten, heißt es bei den
Philosophen. Also doch wohl die Männer, die sich sogar die Besten nennen.
Ja. wenn nur wenigstens einige Gute unter diesen Optimaten wären, aber
die sind ja sämtlich Schurken und Lumpen, denen ihre Fischteiche mehr am
Herzen liegen als die Republik. Nur einen kenne ich. auf dessen Urteil ich
mich verlassen kann: meinen Freund Attikus. Aber schließlich hat auch der
versagt, und so wollte sich Cicero zuletzt nur noch auf sein gutes Gewissen
verlassen. Leider fand er auch in diesem nicht die erhoffte Ruhe; vom Zweifel,
was das Rechte sei. hin und her geworfen, mühte er sich in schweren Seelen¬
kämpfen vergebens ab. ..Mich foltert der Gedanke, ich sei in eine Lage ge¬
raten, wo ich weder einen zweckmäßigen noch einen ehrenhaften Entschluß
fassen kann." (Daß Cicero überzeugt war, man dürfe niemals das uoneswm
dem utile opfern, darin hat er, wie Zielinski mit Recht hervorhebt, unzählige
Christen beschämt.) Zuletzt aber hat er nur noch die eine Sorge, wie die
Nachwelt über ihn denken werde, und wie er bemüht gewesen ist, sich einen
fleckenlosen Nachruhm zu sichern, ist ja hinlänglich bekannt. Hat Augustin,
der sich freilich zu stark ausgedrückt, unrecht gehabt, wenn er diese Art Tugend
von seinem durchs Christentum erleuchteten Standpunkt aus nicht für voll
nahm? Ruhmsucht als ausschlaggebendes, und ruhen wollen im Bewußtsein
der eignen Gerechtigkeit als zweitstärkstes Motiv, ist das höchste und reinste
Sittlichkeit? Der Christ stellt die Liebe höher als das Verlangen nach Ruhm
und braucht sich dessen schon darum nicht zu schämen, weil der Nachruhm so
eitel ist wie der bei Lebzeiten genossene; wird er doch auch Unwürdigen zuteil.
Und mit der Warnung vor Selbstgerechtigkeit — pharisäisch nennen wir
sie — hat Jesus der Menschheit einen großen Dienst erwiesen, denn sie macht
hochmütig und hart, wirkt unsozial und schadet dem Pharisäer selbst, dem sie
seine Fehler verbirgt und die Selbstvervollkommnung unmöglich macht. Wenn
aber Cicero zu seiner eignen Qual über seine positive Pflicht, über das, was
zu tun war, nicht mit sich ins reine kommen konnte und nur die Grenze
zu erkennen vermochte, jenseits deren das entschieden Unehrenhafte, das Böse
und das Schlechte liegt, so war das zwar kein spezifisch heidnischer Mangel,
uns Christen geht es auch nicht anders. Aber wir haben ein Beruhigungs¬
mittel, das dem Heiden fehlte. Paulus schreibt: ich bin mir zwar keiner
sonderlichen Schuld bewußt, halte mich aber darum noch nicht für gerecht¬
fertigt. Was menschliche Richter über mich urteilen, das ist mir gleichgiltig,
und ich richte mich auch selbst nicht; „der mich richtet, ist der Herr". Weil
das. was wir tun und lassen, keineswegs ganz ohne Nest unser eignes Werk
ist. weil wir unsern eignen, persönlichen Anteil an unserm Lebenswerk so


Grenzboten I 1909 58
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[0453] Licero Abschnitt über seine Selbstrechtfertigung hervortreten. Um diese vor allem sei es Cicero zu tun gewesen. Und wollte er gerechtfertigt erscheinen, so mußte er genau wissen, ob er in jedem Augenblicke recht gehandelt habe, also auch, was in jedem Augenblicke seine Pflicht gewesen sei. Aber wie darüber Gewi߬ heit erlangen? Wen soll ich befragen? Die Guten, heißt es bei den Philosophen. Also doch wohl die Männer, die sich sogar die Besten nennen. Ja. wenn nur wenigstens einige Gute unter diesen Optimaten wären, aber die sind ja sämtlich Schurken und Lumpen, denen ihre Fischteiche mehr am Herzen liegen als die Republik. Nur einen kenne ich. auf dessen Urteil ich mich verlassen kann: meinen Freund Attikus. Aber schließlich hat auch der versagt, und so wollte sich Cicero zuletzt nur noch auf sein gutes Gewissen verlassen. Leider fand er auch in diesem nicht die erhoffte Ruhe; vom Zweifel, was das Rechte sei. hin und her geworfen, mühte er sich in schweren Seelen¬ kämpfen vergebens ab. ..Mich foltert der Gedanke, ich sei in eine Lage ge¬ raten, wo ich weder einen zweckmäßigen noch einen ehrenhaften Entschluß fassen kann." (Daß Cicero überzeugt war, man dürfe niemals das uoneswm dem utile opfern, darin hat er, wie Zielinski mit Recht hervorhebt, unzählige Christen beschämt.) Zuletzt aber hat er nur noch die eine Sorge, wie die Nachwelt über ihn denken werde, und wie er bemüht gewesen ist, sich einen fleckenlosen Nachruhm zu sichern, ist ja hinlänglich bekannt. Hat Augustin, der sich freilich zu stark ausgedrückt, unrecht gehabt, wenn er diese Art Tugend von seinem durchs Christentum erleuchteten Standpunkt aus nicht für voll nahm? Ruhmsucht als ausschlaggebendes, und ruhen wollen im Bewußtsein der eignen Gerechtigkeit als zweitstärkstes Motiv, ist das höchste und reinste Sittlichkeit? Der Christ stellt die Liebe höher als das Verlangen nach Ruhm und braucht sich dessen schon darum nicht zu schämen, weil der Nachruhm so eitel ist wie der bei Lebzeiten genossene; wird er doch auch Unwürdigen zuteil. Und mit der Warnung vor Selbstgerechtigkeit — pharisäisch nennen wir sie — hat Jesus der Menschheit einen großen Dienst erwiesen, denn sie macht hochmütig und hart, wirkt unsozial und schadet dem Pharisäer selbst, dem sie seine Fehler verbirgt und die Selbstvervollkommnung unmöglich macht. Wenn aber Cicero zu seiner eignen Qual über seine positive Pflicht, über das, was zu tun war, nicht mit sich ins reine kommen konnte und nur die Grenze zu erkennen vermochte, jenseits deren das entschieden Unehrenhafte, das Böse und das Schlechte liegt, so war das zwar kein spezifisch heidnischer Mangel, uns Christen geht es auch nicht anders. Aber wir haben ein Beruhigungs¬ mittel, das dem Heiden fehlte. Paulus schreibt: ich bin mir zwar keiner sonderlichen Schuld bewußt, halte mich aber darum noch nicht für gerecht¬ fertigt. Was menschliche Richter über mich urteilen, das ist mir gleichgiltig, und ich richte mich auch selbst nicht; „der mich richtet, ist der Herr". Weil das. was wir tun und lassen, keineswegs ganz ohne Nest unser eignes Werk ist. weil wir unsern eignen, persönlichen Anteil an unserm Lebenswerk so Grenzboten I 1909 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/453>, abgerufen am 12.12.2024.