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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Drei Vortrage Lzarnacks

ist die Person Jesu, ist die "von Matrosen, Fischern und Schneidern" ge¬
schaffne Kirchenverfassung, eine Verfassung "von ungeheurer Zweckmäßigkeit
und Haltbarkeit", wirklich rein natürlich aus psychologischen Prozessen zu er¬
klären? Das zweite Glied der Frage hat um so mehr Gewicht, wenn man
mit Harnack für bewiesen hält, daß Jesus von dem Bewußtsein durchdrungen
war, er sei der Messias, und wenn man mit ihm die Messicmität definiert als
"das Endgeschick des Volkes Israel, das er herbeiführen, und das für das
Geschick aller Völker entscheidend sein sollte". Man stelle sich einen Menschen
vor, der das von sich denkt! Loisy meint, wenn Jesus ein bloßer Mensch
war, dann war er nicht größer, sondern kleiner als Sokrates, und andre haben
die Alternative bedeutend gröber ausgesprochen. Ich halte es für eine von
der Vernunft durchaus nicht geforderte Konzession an die Naturwissenschaftler,
wenn man Gott zum Sklaven der Naturordnung macht, die er selbst als
Grundbedingung für die Entwicklung des Menschengeistes geschaffen hat, den
zu vollenden Aufgabe des Christentums ist. In einem Buche, an dem Harnack,
ohne es zu wissen, mitgearbeitet hat, und das demnächst erscheinen soll, ver¬
suche ich zu zeigen, daß und wie man, ohne der Orthodoxie zu verfallen, den
Offenbarungscharakter des Christentums festhalten könne. Wenn nun auch
Harnack meiner Ansicht nach in diesem Punkte dem Naturalismus nicht so
entschieden entgegentritt, wie es wünschenswert erscheint, hat er doch durch
seine Vorträge der guten Sache einen großen Dienst geleistet. Die Bevölkerung
der Reichshauptstadt huldigt sehr verschiednen geistigen Richtungen, aber in
der Feindschaft gegen das Christentum scheinen diese ziemlich einig zu sein,
und die Berliner Presse entspricht natürlich einer Gesinnung und Stimmung des
Publikums, die von ihr zu einem guten Teile gemacht wird. Diese Presse
nun sieht sich durch Harnack gezwungen, vom Christentum einmal nicht mit
haeckelscher Geringschätzung zu sprechen, sondern es als eine bis heute wohl¬
tätig fortwirkende verehrungswürdige Geistesmacht darzustellen.

Nach Schluß des letzten Vortrags versammelten sich unter Führung des
Leiters der freien Vereinigung, die diese Vorträge veranstaltet, des Legations¬
sekretärs a. D. Dr. Freiherrn von Flöckher, eine Anzahl von Männern der
Wissenschaft zu einem Bankett, bei dem der Geheimrat Professor Lasson, wie
die Vossische Zeitung schreibt, Harnack als den Typus des wissenschaftlichen
Geistes in Deutschland in herzlichen Worten feierte und erkennen ließ, mit
welcher Verehrung er seinem freundschaftlichen Gegner zugetan sei.


Carl Zt'meses


Drei Vortrage Lzarnacks

ist die Person Jesu, ist die „von Matrosen, Fischern und Schneidern" ge¬
schaffne Kirchenverfassung, eine Verfassung „von ungeheurer Zweckmäßigkeit
und Haltbarkeit", wirklich rein natürlich aus psychologischen Prozessen zu er¬
klären? Das zweite Glied der Frage hat um so mehr Gewicht, wenn man
mit Harnack für bewiesen hält, daß Jesus von dem Bewußtsein durchdrungen
war, er sei der Messias, und wenn man mit ihm die Messicmität definiert als
„das Endgeschick des Volkes Israel, das er herbeiführen, und das für das
Geschick aller Völker entscheidend sein sollte". Man stelle sich einen Menschen
vor, der das von sich denkt! Loisy meint, wenn Jesus ein bloßer Mensch
war, dann war er nicht größer, sondern kleiner als Sokrates, und andre haben
die Alternative bedeutend gröber ausgesprochen. Ich halte es für eine von
der Vernunft durchaus nicht geforderte Konzession an die Naturwissenschaftler,
wenn man Gott zum Sklaven der Naturordnung macht, die er selbst als
Grundbedingung für die Entwicklung des Menschengeistes geschaffen hat, den
zu vollenden Aufgabe des Christentums ist. In einem Buche, an dem Harnack,
ohne es zu wissen, mitgearbeitet hat, und das demnächst erscheinen soll, ver¬
suche ich zu zeigen, daß und wie man, ohne der Orthodoxie zu verfallen, den
Offenbarungscharakter des Christentums festhalten könne. Wenn nun auch
Harnack meiner Ansicht nach in diesem Punkte dem Naturalismus nicht so
entschieden entgegentritt, wie es wünschenswert erscheint, hat er doch durch
seine Vorträge der guten Sache einen großen Dienst geleistet. Die Bevölkerung
der Reichshauptstadt huldigt sehr verschiednen geistigen Richtungen, aber in
der Feindschaft gegen das Christentum scheinen diese ziemlich einig zu sein,
und die Berliner Presse entspricht natürlich einer Gesinnung und Stimmung des
Publikums, die von ihr zu einem guten Teile gemacht wird. Diese Presse
nun sieht sich durch Harnack gezwungen, vom Christentum einmal nicht mit
haeckelscher Geringschätzung zu sprechen, sondern es als eine bis heute wohl¬
tätig fortwirkende verehrungswürdige Geistesmacht darzustellen.

Nach Schluß des letzten Vortrags versammelten sich unter Führung des
Leiters der freien Vereinigung, die diese Vorträge veranstaltet, des Legations¬
sekretärs a. D. Dr. Freiherrn von Flöckher, eine Anzahl von Männern der
Wissenschaft zu einem Bankett, bei dem der Geheimrat Professor Lasson, wie
die Vossische Zeitung schreibt, Harnack als den Typus des wissenschaftlichen
Geistes in Deutschland in herzlichen Worten feierte und erkennen ließ, mit
welcher Verehrung er seinem freundschaftlichen Gegner zugetan sei.


Carl Zt'meses


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[0404] Drei Vortrage Lzarnacks ist die Person Jesu, ist die „von Matrosen, Fischern und Schneidern" ge¬ schaffne Kirchenverfassung, eine Verfassung „von ungeheurer Zweckmäßigkeit und Haltbarkeit", wirklich rein natürlich aus psychologischen Prozessen zu er¬ klären? Das zweite Glied der Frage hat um so mehr Gewicht, wenn man mit Harnack für bewiesen hält, daß Jesus von dem Bewußtsein durchdrungen war, er sei der Messias, und wenn man mit ihm die Messicmität definiert als „das Endgeschick des Volkes Israel, das er herbeiführen, und das für das Geschick aller Völker entscheidend sein sollte". Man stelle sich einen Menschen vor, der das von sich denkt! Loisy meint, wenn Jesus ein bloßer Mensch war, dann war er nicht größer, sondern kleiner als Sokrates, und andre haben die Alternative bedeutend gröber ausgesprochen. Ich halte es für eine von der Vernunft durchaus nicht geforderte Konzession an die Naturwissenschaftler, wenn man Gott zum Sklaven der Naturordnung macht, die er selbst als Grundbedingung für die Entwicklung des Menschengeistes geschaffen hat, den zu vollenden Aufgabe des Christentums ist. In einem Buche, an dem Harnack, ohne es zu wissen, mitgearbeitet hat, und das demnächst erscheinen soll, ver¬ suche ich zu zeigen, daß und wie man, ohne der Orthodoxie zu verfallen, den Offenbarungscharakter des Christentums festhalten könne. Wenn nun auch Harnack meiner Ansicht nach in diesem Punkte dem Naturalismus nicht so entschieden entgegentritt, wie es wünschenswert erscheint, hat er doch durch seine Vorträge der guten Sache einen großen Dienst geleistet. Die Bevölkerung der Reichshauptstadt huldigt sehr verschiednen geistigen Richtungen, aber in der Feindschaft gegen das Christentum scheinen diese ziemlich einig zu sein, und die Berliner Presse entspricht natürlich einer Gesinnung und Stimmung des Publikums, die von ihr zu einem guten Teile gemacht wird. Diese Presse nun sieht sich durch Harnack gezwungen, vom Christentum einmal nicht mit haeckelscher Geringschätzung zu sprechen, sondern es als eine bis heute wohl¬ tätig fortwirkende verehrungswürdige Geistesmacht darzustellen. Nach Schluß des letzten Vortrags versammelten sich unter Führung des Leiters der freien Vereinigung, die diese Vorträge veranstaltet, des Legations¬ sekretärs a. D. Dr. Freiherrn von Flöckher, eine Anzahl von Männern der Wissenschaft zu einem Bankett, bei dem der Geheimrat Professor Lasson, wie die Vossische Zeitung schreibt, Harnack als den Typus des wissenschaftlichen Geistes in Deutschland in herzlichen Worten feierte und erkennen ließ, mit welcher Verehrung er seinem freundschaftlichen Gegner zugetan sei. Carl Zt'meses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/404>, abgerufen am 12.12.2024.