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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Über die Forderung der Persönlichkeitserziehung

Mit dieser doppelten Einschränkung können wir die durch jenes Ziel gesetzte
Aufgabe gern anerkennen. Damit ist aber auch die Forderung gegeben, daß
erstens die allgemeine Ordnung unsers Ganzen, die bekanntlich nicht von der
Schule, sondern von der Schulverwaltung und weiterhin von der ganzen staat¬
lichen Organisation bestimmt wird, von der diese nur ein einzelnes Glied ist,
und auf die die Schule, namentlich die höhere Schule, nur einen verschwindenden
Einfluß hat, und daß weiterhin das persönliche Wirken der mit der Durchführung
dieser Ordnung beauftragten Organe, der Lehrer, jenem Ziele angepaßt sei.

Eine Prüfung der Frage, ob das der Fall ist, setzt nun freilich eine
Verständigung darüber voraus, was wir uns unter Persönlichkeit und unter
Erziehung zur Persönlichkeit zu denken haben. Eine solche Verständigung, an
der es auch sonst zu fehlen scheint und an deren Stelle vielfach unklares
Gerede tritt, erfordert je nachdem entweder eine Tiefe der spekulativen Be¬
trachtung oder eine Genauigkeit exakter Feststellungen, wie sie durch die Be¬
dingungen dieser kurzen Betrachtung nicht gewährleistet werden können. So¬
viel aber wird doch allgemein anerkannt werden, daß wir uns, wo wir
von Persönlichkeit reden, einen innern, einheitlichen, zentralen Kern des
Wesens denken, durch den alle Strahlen bewußter, halbbewußter, ja selbst un¬
bewußter Regungen und Äußerungen unsers einzelnen Empfindens, Denkens,
Fühlens und Wollens bestimmt werden, ein Herdfeuer, eine Zentralsonne
-- um mich bildlich auszudrücken --, die unser ganzes Sein und Wirken
durchdringt, durchwärmt, durchleuchtet. Wie verhält sich nun zur Pflege einer
solchen einheitlichen, alle die verschiednen Wirkungsweisen des individuellen
Lebens bestimmenden zentralen Macht die Unterrichtsordnung namentlich unsrer
höhern Schulen, vor allem unsrer Gymnasien? Sollte die sich seit Jahrzehnten
fortsetzende und allem Anschein nach immer noch kein Ende findende un¬
organische Häufung und Aufeinanderstapelung der verschiedenartigsten Wissens¬
stoffe und Kunstfertigkeiten im Lehrplan des Gymnasiums, die Geist und Herz
und Willen oft nach den entgegengesetztesten Richtungen auseinanderzerren, bei
denen das einheitlich zusammenhaltende Band für eine tiefere Betrachtung zwar
schließlich nicht verborgen bleibt, auf dieser Stufe aber nicht nachgewiesen
oder auch nur verständlich gemacht werden kann -- sollte das einer solchen
einheitlichen, organischen Zusammenfassung und Durchdringung, wie sie die
Pflege der Persönlichkeit verlangt, förderlich sein? Die ernsthaftesten Zweifel
stellen sich einer Bejahung dieser Frage in den Weg. zumal da sich bei dieser
ganzen Entwicklung vielfach nicht wesentliche Interessen der geistigen oder der
sittlichen Bildung, sondern vorübergehende Forderungen des praktischen Nutzens,
wenn nicht gar der äußerlichen Konvenienz oder selbst der vergänglichen Mode
als mitbestimmend erweisen.

Dem entspricht auch die eigentümliche Form, in die wir die Würdigung
der Gesamtentwicklung unsrer Schüler, zu der doch eben wesentlich ihre Persön¬
lichkeit im oben formulierten Sinne gehört, am Schlüsse ihrer Hauptstufen


Über die Forderung der Persönlichkeitserziehung

Mit dieser doppelten Einschränkung können wir die durch jenes Ziel gesetzte
Aufgabe gern anerkennen. Damit ist aber auch die Forderung gegeben, daß
erstens die allgemeine Ordnung unsers Ganzen, die bekanntlich nicht von der
Schule, sondern von der Schulverwaltung und weiterhin von der ganzen staat¬
lichen Organisation bestimmt wird, von der diese nur ein einzelnes Glied ist,
und auf die die Schule, namentlich die höhere Schule, nur einen verschwindenden
Einfluß hat, und daß weiterhin das persönliche Wirken der mit der Durchführung
dieser Ordnung beauftragten Organe, der Lehrer, jenem Ziele angepaßt sei.

Eine Prüfung der Frage, ob das der Fall ist, setzt nun freilich eine
Verständigung darüber voraus, was wir uns unter Persönlichkeit und unter
Erziehung zur Persönlichkeit zu denken haben. Eine solche Verständigung, an
der es auch sonst zu fehlen scheint und an deren Stelle vielfach unklares
Gerede tritt, erfordert je nachdem entweder eine Tiefe der spekulativen Be¬
trachtung oder eine Genauigkeit exakter Feststellungen, wie sie durch die Be¬
dingungen dieser kurzen Betrachtung nicht gewährleistet werden können. So¬
viel aber wird doch allgemein anerkannt werden, daß wir uns, wo wir
von Persönlichkeit reden, einen innern, einheitlichen, zentralen Kern des
Wesens denken, durch den alle Strahlen bewußter, halbbewußter, ja selbst un¬
bewußter Regungen und Äußerungen unsers einzelnen Empfindens, Denkens,
Fühlens und Wollens bestimmt werden, ein Herdfeuer, eine Zentralsonne
— um mich bildlich auszudrücken —, die unser ganzes Sein und Wirken
durchdringt, durchwärmt, durchleuchtet. Wie verhält sich nun zur Pflege einer
solchen einheitlichen, alle die verschiednen Wirkungsweisen des individuellen
Lebens bestimmenden zentralen Macht die Unterrichtsordnung namentlich unsrer
höhern Schulen, vor allem unsrer Gymnasien? Sollte die sich seit Jahrzehnten
fortsetzende und allem Anschein nach immer noch kein Ende findende un¬
organische Häufung und Aufeinanderstapelung der verschiedenartigsten Wissens¬
stoffe und Kunstfertigkeiten im Lehrplan des Gymnasiums, die Geist und Herz
und Willen oft nach den entgegengesetztesten Richtungen auseinanderzerren, bei
denen das einheitlich zusammenhaltende Band für eine tiefere Betrachtung zwar
schließlich nicht verborgen bleibt, auf dieser Stufe aber nicht nachgewiesen
oder auch nur verständlich gemacht werden kann — sollte das einer solchen
einheitlichen, organischen Zusammenfassung und Durchdringung, wie sie die
Pflege der Persönlichkeit verlangt, förderlich sein? Die ernsthaftesten Zweifel
stellen sich einer Bejahung dieser Frage in den Weg. zumal da sich bei dieser
ganzen Entwicklung vielfach nicht wesentliche Interessen der geistigen oder der
sittlichen Bildung, sondern vorübergehende Forderungen des praktischen Nutzens,
wenn nicht gar der äußerlichen Konvenienz oder selbst der vergänglichen Mode
als mitbestimmend erweisen.

Dem entspricht auch die eigentümliche Form, in die wir die Würdigung
der Gesamtentwicklung unsrer Schüler, zu der doch eben wesentlich ihre Persön¬
lichkeit im oben formulierten Sinne gehört, am Schlüsse ihrer Hauptstufen


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[0396] Über die Forderung der Persönlichkeitserziehung Mit dieser doppelten Einschränkung können wir die durch jenes Ziel gesetzte Aufgabe gern anerkennen. Damit ist aber auch die Forderung gegeben, daß erstens die allgemeine Ordnung unsers Ganzen, die bekanntlich nicht von der Schule, sondern von der Schulverwaltung und weiterhin von der ganzen staat¬ lichen Organisation bestimmt wird, von der diese nur ein einzelnes Glied ist, und auf die die Schule, namentlich die höhere Schule, nur einen verschwindenden Einfluß hat, und daß weiterhin das persönliche Wirken der mit der Durchführung dieser Ordnung beauftragten Organe, der Lehrer, jenem Ziele angepaßt sei. Eine Prüfung der Frage, ob das der Fall ist, setzt nun freilich eine Verständigung darüber voraus, was wir uns unter Persönlichkeit und unter Erziehung zur Persönlichkeit zu denken haben. Eine solche Verständigung, an der es auch sonst zu fehlen scheint und an deren Stelle vielfach unklares Gerede tritt, erfordert je nachdem entweder eine Tiefe der spekulativen Be¬ trachtung oder eine Genauigkeit exakter Feststellungen, wie sie durch die Be¬ dingungen dieser kurzen Betrachtung nicht gewährleistet werden können. So¬ viel aber wird doch allgemein anerkannt werden, daß wir uns, wo wir von Persönlichkeit reden, einen innern, einheitlichen, zentralen Kern des Wesens denken, durch den alle Strahlen bewußter, halbbewußter, ja selbst un¬ bewußter Regungen und Äußerungen unsers einzelnen Empfindens, Denkens, Fühlens und Wollens bestimmt werden, ein Herdfeuer, eine Zentralsonne — um mich bildlich auszudrücken —, die unser ganzes Sein und Wirken durchdringt, durchwärmt, durchleuchtet. Wie verhält sich nun zur Pflege einer solchen einheitlichen, alle die verschiednen Wirkungsweisen des individuellen Lebens bestimmenden zentralen Macht die Unterrichtsordnung namentlich unsrer höhern Schulen, vor allem unsrer Gymnasien? Sollte die sich seit Jahrzehnten fortsetzende und allem Anschein nach immer noch kein Ende findende un¬ organische Häufung und Aufeinanderstapelung der verschiedenartigsten Wissens¬ stoffe und Kunstfertigkeiten im Lehrplan des Gymnasiums, die Geist und Herz und Willen oft nach den entgegengesetztesten Richtungen auseinanderzerren, bei denen das einheitlich zusammenhaltende Band für eine tiefere Betrachtung zwar schließlich nicht verborgen bleibt, auf dieser Stufe aber nicht nachgewiesen oder auch nur verständlich gemacht werden kann — sollte das einer solchen einheitlichen, organischen Zusammenfassung und Durchdringung, wie sie die Pflege der Persönlichkeit verlangt, förderlich sein? Die ernsthaftesten Zweifel stellen sich einer Bejahung dieser Frage in den Weg. zumal da sich bei dieser ganzen Entwicklung vielfach nicht wesentliche Interessen der geistigen oder der sittlichen Bildung, sondern vorübergehende Forderungen des praktischen Nutzens, wenn nicht gar der äußerlichen Konvenienz oder selbst der vergänglichen Mode als mitbestimmend erweisen. Dem entspricht auch die eigentümliche Form, in die wir die Würdigung der Gesamtentwicklung unsrer Schüler, zu der doch eben wesentlich ihre Persön¬ lichkeit im oben formulierten Sinne gehört, am Schlüsse ihrer Hauptstufen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/396>, abgerufen am 12.12.2024.