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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Russische Briefe

haften, daß während in jedem Polizeirevier die Photographien des Genannten
auslagen, daß eben dieser Gerschuni mit einem richtigen auf seinen Namen
lautenden, ordnungsmäßig ausgestellten und visierten Paß anderthalb Monate
in einem möblierten Zimmer in der Puschkinstraße wohnen, das Attentat auf
den Minister des Innern Ssipjagin organisieren, während des Attentats
aus der Stadt verschwinden und nach seinem Gelingen wieder zurückkehren
konnte, ohne daß die Polizei von ihm Notiz genommen hatte.
Ebensowenig hat sich die Petersburger Polizei befähigt erwiesen, die zur Er¬
mordung Plehwes in der Hauptstadt eingetroffnen Verschwörer rechtzeitig
ausfindig zu machen..." Das schrieb, wohl verstanden, vor vier Jahren
Lopuchin, derselbe Lopuchin, der gegenwärtig angeklagt sein soll, die Polizei
in ihrer Tätigkeit behindert zu haben!

Von den drei erwähnten Morden fällt nur der Plehwes in seine Amtszeit.
Seit dem Dezember 1904 hat man von Lopuchin wenig gehört, um so mehr
von Durnowo, und die Blätter waren voll von Nachrichten über die provo¬
katorische Tätigkeit der Polizei. Nachträglich füllt es auf, daß man in der
Revolutionsliteratur, möge es die demokratische Oswoboshdennije Struves oder
Jskra und Proletarij des Sozialdemokraten Plechanows oder Rewoljutionnaja
Rossija der Sozialrevolutionäre Burtzew-Asews sein, daß man sehr selten von
Lopuchin hörte, obwohl er doch der bestgehaßte Beamte im revolutionären
Rußland hätte sein müssen. In der Oswoboshdennije findet sich wohl hin und
wieder ein Hieb auf ihn, weil er die Justiz zugunsten der Polizei verlassen
habe, aber auch dort sind die vorsichtigen Satzwendungen nur für Eingeweihte
recht verständlich.

Dieser Umstand deutet darauf hin, daß zwischen Lopuchin und dem oppo¬
sitionellen Rußland schon während seiner Amtszeit eine Verbindung bestanden
hat, die auf einen tiefen Konflikt im Polizeidepartement schließen läßt, und die
eben darum den Gegnern der Regierung eine gewisse Reserve gegen Lopuchin
auferlegte. Wie weit die Verbindung Lopuchins nach links gegangen ist, zu
untersuchen ist eine der wesentlichsten Aufgaben des bevorstehenden Prozesses.

Die Bekanntschaft Lopuchins mit Asew sagt, so will mich dünken,
gar nichts. Denn nicht er, sondern einer seiner Vorgänger hat den Führer
der Sozialrevolutionäre als Agenten angestellt. Lopuchin hat ihn bereits als
altes Inventar im Ministerium vorgefunden. Nur die unerhörte Kühnheit
Asews hat seine Persönlichkeit über die der hundert andern Agenten heraus¬
gehoben. Hatte Lopuchin die Pflicht -- ja die Möglichkeit, sich als Chef fort¬
gesetzt über die Persönlichkeiten der Agenten seiner Unterorgane auf dem
Laufenden zu halten? Mußte er sich in dieser Beziehung nicht vollständig
auf seine Unterorgane verlassen? Wer hat Asew in das Ministerium gebracht? Das
ist die zweite wichtige Frage, die klar beantwortet werden muß, ehe von einer
Schuld Lopuchins gesprochen werden kann, und wer hat ihn benutzt? Plehwe,
Durnowo oder Lopuchin? Da liegt der Schwerpunkt der ganzen Angelegenheit.


Russische Briefe

haften, daß während in jedem Polizeirevier die Photographien des Genannten
auslagen, daß eben dieser Gerschuni mit einem richtigen auf seinen Namen
lautenden, ordnungsmäßig ausgestellten und visierten Paß anderthalb Monate
in einem möblierten Zimmer in der Puschkinstraße wohnen, das Attentat auf
den Minister des Innern Ssipjagin organisieren, während des Attentats
aus der Stadt verschwinden und nach seinem Gelingen wieder zurückkehren
konnte, ohne daß die Polizei von ihm Notiz genommen hatte.
Ebensowenig hat sich die Petersburger Polizei befähigt erwiesen, die zur Er¬
mordung Plehwes in der Hauptstadt eingetroffnen Verschwörer rechtzeitig
ausfindig zu machen..." Das schrieb, wohl verstanden, vor vier Jahren
Lopuchin, derselbe Lopuchin, der gegenwärtig angeklagt sein soll, die Polizei
in ihrer Tätigkeit behindert zu haben!

Von den drei erwähnten Morden fällt nur der Plehwes in seine Amtszeit.
Seit dem Dezember 1904 hat man von Lopuchin wenig gehört, um so mehr
von Durnowo, und die Blätter waren voll von Nachrichten über die provo¬
katorische Tätigkeit der Polizei. Nachträglich füllt es auf, daß man in der
Revolutionsliteratur, möge es die demokratische Oswoboshdennije Struves oder
Jskra und Proletarij des Sozialdemokraten Plechanows oder Rewoljutionnaja
Rossija der Sozialrevolutionäre Burtzew-Asews sein, daß man sehr selten von
Lopuchin hörte, obwohl er doch der bestgehaßte Beamte im revolutionären
Rußland hätte sein müssen. In der Oswoboshdennije findet sich wohl hin und
wieder ein Hieb auf ihn, weil er die Justiz zugunsten der Polizei verlassen
habe, aber auch dort sind die vorsichtigen Satzwendungen nur für Eingeweihte
recht verständlich.

Dieser Umstand deutet darauf hin, daß zwischen Lopuchin und dem oppo¬
sitionellen Rußland schon während seiner Amtszeit eine Verbindung bestanden
hat, die auf einen tiefen Konflikt im Polizeidepartement schließen läßt, und die
eben darum den Gegnern der Regierung eine gewisse Reserve gegen Lopuchin
auferlegte. Wie weit die Verbindung Lopuchins nach links gegangen ist, zu
untersuchen ist eine der wesentlichsten Aufgaben des bevorstehenden Prozesses.

Die Bekanntschaft Lopuchins mit Asew sagt, so will mich dünken,
gar nichts. Denn nicht er, sondern einer seiner Vorgänger hat den Führer
der Sozialrevolutionäre als Agenten angestellt. Lopuchin hat ihn bereits als
altes Inventar im Ministerium vorgefunden. Nur die unerhörte Kühnheit
Asews hat seine Persönlichkeit über die der hundert andern Agenten heraus¬
gehoben. Hatte Lopuchin die Pflicht — ja die Möglichkeit, sich als Chef fort¬
gesetzt über die Persönlichkeiten der Agenten seiner Unterorgane auf dem
Laufenden zu halten? Mußte er sich in dieser Beziehung nicht vollständig
auf seine Unterorgane verlassen? Wer hat Asew in das Ministerium gebracht? Das
ist die zweite wichtige Frage, die klar beantwortet werden muß, ehe von einer
Schuld Lopuchins gesprochen werden kann, und wer hat ihn benutzt? Plehwe,
Durnowo oder Lopuchin? Da liegt der Schwerpunkt der ganzen Angelegenheit.


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[0393] Russische Briefe haften, daß während in jedem Polizeirevier die Photographien des Genannten auslagen, daß eben dieser Gerschuni mit einem richtigen auf seinen Namen lautenden, ordnungsmäßig ausgestellten und visierten Paß anderthalb Monate in einem möblierten Zimmer in der Puschkinstraße wohnen, das Attentat auf den Minister des Innern Ssipjagin organisieren, während des Attentats aus der Stadt verschwinden und nach seinem Gelingen wieder zurückkehren konnte, ohne daß die Polizei von ihm Notiz genommen hatte. Ebensowenig hat sich die Petersburger Polizei befähigt erwiesen, die zur Er¬ mordung Plehwes in der Hauptstadt eingetroffnen Verschwörer rechtzeitig ausfindig zu machen..." Das schrieb, wohl verstanden, vor vier Jahren Lopuchin, derselbe Lopuchin, der gegenwärtig angeklagt sein soll, die Polizei in ihrer Tätigkeit behindert zu haben! Von den drei erwähnten Morden fällt nur der Plehwes in seine Amtszeit. Seit dem Dezember 1904 hat man von Lopuchin wenig gehört, um so mehr von Durnowo, und die Blätter waren voll von Nachrichten über die provo¬ katorische Tätigkeit der Polizei. Nachträglich füllt es auf, daß man in der Revolutionsliteratur, möge es die demokratische Oswoboshdennije Struves oder Jskra und Proletarij des Sozialdemokraten Plechanows oder Rewoljutionnaja Rossija der Sozialrevolutionäre Burtzew-Asews sein, daß man sehr selten von Lopuchin hörte, obwohl er doch der bestgehaßte Beamte im revolutionären Rußland hätte sein müssen. In der Oswoboshdennije findet sich wohl hin und wieder ein Hieb auf ihn, weil er die Justiz zugunsten der Polizei verlassen habe, aber auch dort sind die vorsichtigen Satzwendungen nur für Eingeweihte recht verständlich. Dieser Umstand deutet darauf hin, daß zwischen Lopuchin und dem oppo¬ sitionellen Rußland schon während seiner Amtszeit eine Verbindung bestanden hat, die auf einen tiefen Konflikt im Polizeidepartement schließen läßt, und die eben darum den Gegnern der Regierung eine gewisse Reserve gegen Lopuchin auferlegte. Wie weit die Verbindung Lopuchins nach links gegangen ist, zu untersuchen ist eine der wesentlichsten Aufgaben des bevorstehenden Prozesses. Die Bekanntschaft Lopuchins mit Asew sagt, so will mich dünken, gar nichts. Denn nicht er, sondern einer seiner Vorgänger hat den Führer der Sozialrevolutionäre als Agenten angestellt. Lopuchin hat ihn bereits als altes Inventar im Ministerium vorgefunden. Nur die unerhörte Kühnheit Asews hat seine Persönlichkeit über die der hundert andern Agenten heraus¬ gehoben. Hatte Lopuchin die Pflicht — ja die Möglichkeit, sich als Chef fort¬ gesetzt über die Persönlichkeiten der Agenten seiner Unterorgane auf dem Laufenden zu halten? Mußte er sich in dieser Beziehung nicht vollständig auf seine Unterorgane verlassen? Wer hat Asew in das Ministerium gebracht? Das ist die zweite wichtige Frage, die klar beantwortet werden muß, ehe von einer Schuld Lopuchins gesprochen werden kann, und wer hat ihn benutzt? Plehwe, Durnowo oder Lopuchin? Da liegt der Schwerpunkt der ganzen Angelegenheit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/393>, abgerufen am 23.07.2024.