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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Ein Lesebuch der Sozialstatistik

und zum Teil sehr unbestimmten Angaben über die Bananenkultur, die er
zusammenstellt, geht hervor, daß zwar gewiß eine mit Bananen bepflanzte
Fläche mehr Menschen zu ernähren vermag als ein gleich großes Stück
Weizen- oder Kartoffelacker, daß aber die Überlegenheit des tropischen Bananen¬
bodens über unsern Getreideboden wahrscheinlich stark übertrieben wird. Er
macht unter anderm darauf aufmerksam, daß die "Agglomeration", die An¬
häufung der Bevölkerung in Großstädten und Industriebezirken, keineswegs
immer Wirkung und Symptom von Dichtigkeit der Bevölkerung ist. Die
Vereinigten Staat,en sind trotz starker Agglomeration in ihrem nordöstlichen
Teile ein dünn bevölkertes Land. In dem Abschnitt über den physischen
Habitus der Bevölkerungen sind die anthropometrischen Ergebnisse zu beachten,
die beweisen, daß die mittlern Körpergrößen und Gewichte namentlich der
Kinder den Wohlstandsklassen parallel gehn. (Unsre Rassentheoretiker freilich
werden sagen: nicht bleiben die Kinder der Armen im Wachstum zurück, weil
sie schlechter genährt werden, sondern weil sie einer kleinern und schlechtem
Nasse angehören, bleiben sie arm, anstatt Lords zu werden.) Wenn manche
Statistiker darauf hinweisen, daß Hundertjährige gerade in den untersten
Volksschichten, sogar bei Almosenempfängern, häufig vorkommen, daß demnach
Unbildung ein höheres Lebensalter zu verbürgen scheine, so hält dem Schnapper
entgegen, daß gerade die Unbildung die Angaben über das Lebensalter ver¬
dächtig mache: ungebildete Leute wüßten meist nicht genau, wie alt sie seien,
machten sich wohl auch absichtlich älter, als sie sind, um mit ihren hohen
Jahren zu prahlen oder Mitleid zu erregen. Zu was für Unsinn statistische
Ergebnisse einen denkschwachen oder oberflächlichen Forscher verleiten können,
zeigt Schnapper an folgender Deklamation eines solchen, den die Zahl 40
für die mittlere Lebensdauer erschreckt hat: "Unsre Jahre sind zu wenig ge¬
worden, gegenüber dem, was wir zu sin?) diesen Jahren schaffen sollen. Jetzt
schon bringt der gebildete Europäer seine fünfundzwanzig ersten Lebensjahre
damit zu, bloß zu lernen. Bei einer mittlern Lebensdauer von vierzig Jahren
bleiben ihm nur fünfzehn Jahre, das Gelernte im Dienste der Menschheit zu
verwerten." Die mittlere Lebensdauer ergibt sich bekanntlich in der Weise,
daß die Lebensjahre der Kurzlebigen, die sterbenden Säuglinge eingerechnet,
und die der Langlebigen zusammengerechnet werden, und die Summe mit
der Kopfzahl dividiert wird. Jener Erschreckte stellt sich vor, jeder heutige
Europäer müsse mit vierzig Jahren sterben; alle neununddreißigjährigen hätten
dann bloß noch ein Jahr zu leben, und die Achtzigjährigen? Ja, die müssen
wahrscheinlich vierzig Jahre herauszahlen. Die durchschnittliche Lebensdauer
der Männer, die ihr Studium absolviert haben, beträgt weit mehr als vierzig
Jahre. Seite 173 wird erzählt, gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts
habe Kaspar Neumann in Breslau fast als der erste die Lebensdauer der
Menschen zum Gegenstande wissenschaftlicher Untersuchung gemacht und eine
seiner vornehmsten Aufgaben darin gesehen, "durch statistische Ermittlung zu


Ein Lesebuch der Sozialstatistik

und zum Teil sehr unbestimmten Angaben über die Bananenkultur, die er
zusammenstellt, geht hervor, daß zwar gewiß eine mit Bananen bepflanzte
Fläche mehr Menschen zu ernähren vermag als ein gleich großes Stück
Weizen- oder Kartoffelacker, daß aber die Überlegenheit des tropischen Bananen¬
bodens über unsern Getreideboden wahrscheinlich stark übertrieben wird. Er
macht unter anderm darauf aufmerksam, daß die „Agglomeration", die An¬
häufung der Bevölkerung in Großstädten und Industriebezirken, keineswegs
immer Wirkung und Symptom von Dichtigkeit der Bevölkerung ist. Die
Vereinigten Staat,en sind trotz starker Agglomeration in ihrem nordöstlichen
Teile ein dünn bevölkertes Land. In dem Abschnitt über den physischen
Habitus der Bevölkerungen sind die anthropometrischen Ergebnisse zu beachten,
die beweisen, daß die mittlern Körpergrößen und Gewichte namentlich der
Kinder den Wohlstandsklassen parallel gehn. (Unsre Rassentheoretiker freilich
werden sagen: nicht bleiben die Kinder der Armen im Wachstum zurück, weil
sie schlechter genährt werden, sondern weil sie einer kleinern und schlechtem
Nasse angehören, bleiben sie arm, anstatt Lords zu werden.) Wenn manche
Statistiker darauf hinweisen, daß Hundertjährige gerade in den untersten
Volksschichten, sogar bei Almosenempfängern, häufig vorkommen, daß demnach
Unbildung ein höheres Lebensalter zu verbürgen scheine, so hält dem Schnapper
entgegen, daß gerade die Unbildung die Angaben über das Lebensalter ver¬
dächtig mache: ungebildete Leute wüßten meist nicht genau, wie alt sie seien,
machten sich wohl auch absichtlich älter, als sie sind, um mit ihren hohen
Jahren zu prahlen oder Mitleid zu erregen. Zu was für Unsinn statistische
Ergebnisse einen denkschwachen oder oberflächlichen Forscher verleiten können,
zeigt Schnapper an folgender Deklamation eines solchen, den die Zahl 40
für die mittlere Lebensdauer erschreckt hat: „Unsre Jahre sind zu wenig ge¬
worden, gegenüber dem, was wir zu sin?) diesen Jahren schaffen sollen. Jetzt
schon bringt der gebildete Europäer seine fünfundzwanzig ersten Lebensjahre
damit zu, bloß zu lernen. Bei einer mittlern Lebensdauer von vierzig Jahren
bleiben ihm nur fünfzehn Jahre, das Gelernte im Dienste der Menschheit zu
verwerten." Die mittlere Lebensdauer ergibt sich bekanntlich in der Weise,
daß die Lebensjahre der Kurzlebigen, die sterbenden Säuglinge eingerechnet,
und die der Langlebigen zusammengerechnet werden, und die Summe mit
der Kopfzahl dividiert wird. Jener Erschreckte stellt sich vor, jeder heutige
Europäer müsse mit vierzig Jahren sterben; alle neununddreißigjährigen hätten
dann bloß noch ein Jahr zu leben, und die Achtzigjährigen? Ja, die müssen
wahrscheinlich vierzig Jahre herauszahlen. Die durchschnittliche Lebensdauer
der Männer, die ihr Studium absolviert haben, beträgt weit mehr als vierzig
Jahre. Seite 173 wird erzählt, gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts
habe Kaspar Neumann in Breslau fast als der erste die Lebensdauer der
Menschen zum Gegenstande wissenschaftlicher Untersuchung gemacht und eine
seiner vornehmsten Aufgaben darin gesehen, „durch statistische Ermittlung zu


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[0351] Ein Lesebuch der Sozialstatistik und zum Teil sehr unbestimmten Angaben über die Bananenkultur, die er zusammenstellt, geht hervor, daß zwar gewiß eine mit Bananen bepflanzte Fläche mehr Menschen zu ernähren vermag als ein gleich großes Stück Weizen- oder Kartoffelacker, daß aber die Überlegenheit des tropischen Bananen¬ bodens über unsern Getreideboden wahrscheinlich stark übertrieben wird. Er macht unter anderm darauf aufmerksam, daß die „Agglomeration", die An¬ häufung der Bevölkerung in Großstädten und Industriebezirken, keineswegs immer Wirkung und Symptom von Dichtigkeit der Bevölkerung ist. Die Vereinigten Staat,en sind trotz starker Agglomeration in ihrem nordöstlichen Teile ein dünn bevölkertes Land. In dem Abschnitt über den physischen Habitus der Bevölkerungen sind die anthropometrischen Ergebnisse zu beachten, die beweisen, daß die mittlern Körpergrößen und Gewichte namentlich der Kinder den Wohlstandsklassen parallel gehn. (Unsre Rassentheoretiker freilich werden sagen: nicht bleiben die Kinder der Armen im Wachstum zurück, weil sie schlechter genährt werden, sondern weil sie einer kleinern und schlechtem Nasse angehören, bleiben sie arm, anstatt Lords zu werden.) Wenn manche Statistiker darauf hinweisen, daß Hundertjährige gerade in den untersten Volksschichten, sogar bei Almosenempfängern, häufig vorkommen, daß demnach Unbildung ein höheres Lebensalter zu verbürgen scheine, so hält dem Schnapper entgegen, daß gerade die Unbildung die Angaben über das Lebensalter ver¬ dächtig mache: ungebildete Leute wüßten meist nicht genau, wie alt sie seien, machten sich wohl auch absichtlich älter, als sie sind, um mit ihren hohen Jahren zu prahlen oder Mitleid zu erregen. Zu was für Unsinn statistische Ergebnisse einen denkschwachen oder oberflächlichen Forscher verleiten können, zeigt Schnapper an folgender Deklamation eines solchen, den die Zahl 40 für die mittlere Lebensdauer erschreckt hat: „Unsre Jahre sind zu wenig ge¬ worden, gegenüber dem, was wir zu sin?) diesen Jahren schaffen sollen. Jetzt schon bringt der gebildete Europäer seine fünfundzwanzig ersten Lebensjahre damit zu, bloß zu lernen. Bei einer mittlern Lebensdauer von vierzig Jahren bleiben ihm nur fünfzehn Jahre, das Gelernte im Dienste der Menschheit zu verwerten." Die mittlere Lebensdauer ergibt sich bekanntlich in der Weise, daß die Lebensjahre der Kurzlebigen, die sterbenden Säuglinge eingerechnet, und die der Langlebigen zusammengerechnet werden, und die Summe mit der Kopfzahl dividiert wird. Jener Erschreckte stellt sich vor, jeder heutige Europäer müsse mit vierzig Jahren sterben; alle neununddreißigjährigen hätten dann bloß noch ein Jahr zu leben, und die Achtzigjährigen? Ja, die müssen wahrscheinlich vierzig Jahre herauszahlen. Die durchschnittliche Lebensdauer der Männer, die ihr Studium absolviert haben, beträgt weit mehr als vierzig Jahre. Seite 173 wird erzählt, gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts habe Kaspar Neumann in Breslau fast als der erste die Lebensdauer der Menschen zum Gegenstande wissenschaftlicher Untersuchung gemacht und eine seiner vornehmsten Aufgaben darin gesehen, „durch statistische Ermittlung zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/351>, abgerufen am 12.12.2024.