Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.Lin Lesebuch der Sozialstatistik Mädchen, in wieder andern Familien Knaben und Mädchen in den ver¬ Das Buch hätte gewonnen, wenn die beiden Ausfälle gegen Öttiugen Lin Lesebuch der Sozialstatistik Mädchen, in wieder andern Familien Knaben und Mädchen in den ver¬ Das Buch hätte gewonnen, wenn die beiden Ausfälle gegen Öttiugen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0350" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312701"/> <fw type="header" place="top"> Lin Lesebuch der Sozialstatistik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1342" prev="#ID_1341"> Mädchen, in wieder andern Familien Knaben und Mädchen in den ver¬<lb/> schiedensten Zahlenkombinationen. Schnapper konstatiert natürlich die Tat¬<lb/> sache, erwähnt auch die Nutzanwendung, die von Süßmilch an Theologen und<lb/> Moralisten davon gemacht haben; anstatt sie aber ihrer ungeheuern Wichtig¬<lb/> keit entsprechend hervorzuheben, sucht er sie abzuschwächen. Die Statistik<lb/> müsse ja im allgemeinen Süßmilchs Ergebnisse anerkennen, stoße aber doch,<lb/> von Land zu Land gehend, „auf größere Verschiedenheiten, als sie der alte<lb/> Herr wohl angenommen haben mochte". Bei der Durchmusterung dieser Ver¬<lb/> schiedenheiten zeigt es sich dann, daß sie nicht von der Natur, sondern von<lb/> Eingriffen der Menschen, zum Beispiel den Kinderaussetzungen und Kinder¬<lb/> mörder in China und bei manchen Naturvölkern, herrühren, deren Opfer<lb/> meist Mädchen sind. Und die Kompensation (daß, wenn ein Krieg viel Männer<lb/> hingerafft hat, ein paar Jahre hindurch der Überschuß der Knabengeburten<lb/> steigt) erwähnt er gar nicht. Gerade diese Tatsache aber, die Öttingen aus¬<lb/> führlich behandelt, beweist schlagend, daß das Menschengeschlecht wirklich eine<lb/> organische Einheit ist, ähnlich wie ein Bienenvolk, in dem immer gerade die<lb/> Anzahl von weiblichen, männlichen und geschlechtlosen Individuen auskriecht,<lb/> die im Augenblick gebraucht wird. Und bei der Darstellung der moham¬<lb/> medanischen Polygamie hätte der Umstand, daß die wirtschaftlich den meisten<lb/> unmögliche simultane durch die succesivc ersetzt wird, noch etwas deutlicher<lb/> ausgesprochen werden können. Er erwähnt zwar, daß die Ehescheidungen<lb/> nach unsern Begriffen enorm häufig sind, und daß man bei den untern Volks¬<lb/> klassen geradezu von einer Ehe auf Probe sprechen könne, aber es handelt<lb/> sich um mehr als dieses. Lord Cromer erzählt in seinem Noctsrn Lss^pe (und<lb/> früher schon ist von Kennern des Orients ähnliches berichtet worden), einer<lb/> seiner Stallburschen habe in noch nicht zwei Jahren seine „Gattinnen" elfmal<lb/> gewechselt. Das heißt doch, die Prostitution an die Stelle der Ehe setzen,<lb/> und das ist bedeutend schlimmer, als wenn sie nur zu deren Ersatz erlaubt<lb/> wird für Heiratsfähige, denen ihre Verhältnisse die Eheschließung wehren.</p><lb/> <p xml:id="ID_1343" next="#ID_1344"> Das Buch hätte gewonnen, wenn die beiden Ausfälle gegen Öttiugen<lb/> gestrichen worden wären; man könnte dann das viele Gute, das es enthält,<lb/> und von dem wir einiges mitteilen wollen, in reinerer Stimmung genießen.<lb/> Sehr richtig wird S. 97 gesagt: „Wie bekannt, leben auf unfruchtbarem<lb/> Boden die dichtesten Bevölkerungen von der Industrie, da die zu ihrer Er¬<lb/> nährung nötigen Flüchen ^die heutige Verkehrstechnik vorausgesetzt!) nicht um<lb/> sie herum zu liegen brauchen, sondern in den verschiedensten Teilen der Erde<lb/> gelegen sein können. Ungeschickt drückt man das oft so aus, daß man sagt,<lb/> die Industrie vermöge mehr Menschen zu ernähren als der Ackerbau, oder:<lb/> mit der Zunahme der Industrie nehme die Bevölkerung zu. Umgekehrt: je<lb/> mehr Industrie — d. h. je mehr Bedürfnisse sich die Menschheit miegt, die<lb/> über die der Ernährung hinausgehn — um so mehr menschliche Arbeitskraft<lb/> und Boden entzieht sie der Nahrungsproduktion." Aus den widersprechenden</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0350]
Lin Lesebuch der Sozialstatistik
Mädchen, in wieder andern Familien Knaben und Mädchen in den ver¬
schiedensten Zahlenkombinationen. Schnapper konstatiert natürlich die Tat¬
sache, erwähnt auch die Nutzanwendung, die von Süßmilch an Theologen und
Moralisten davon gemacht haben; anstatt sie aber ihrer ungeheuern Wichtig¬
keit entsprechend hervorzuheben, sucht er sie abzuschwächen. Die Statistik
müsse ja im allgemeinen Süßmilchs Ergebnisse anerkennen, stoße aber doch,
von Land zu Land gehend, „auf größere Verschiedenheiten, als sie der alte
Herr wohl angenommen haben mochte". Bei der Durchmusterung dieser Ver¬
schiedenheiten zeigt es sich dann, daß sie nicht von der Natur, sondern von
Eingriffen der Menschen, zum Beispiel den Kinderaussetzungen und Kinder¬
mörder in China und bei manchen Naturvölkern, herrühren, deren Opfer
meist Mädchen sind. Und die Kompensation (daß, wenn ein Krieg viel Männer
hingerafft hat, ein paar Jahre hindurch der Überschuß der Knabengeburten
steigt) erwähnt er gar nicht. Gerade diese Tatsache aber, die Öttingen aus¬
führlich behandelt, beweist schlagend, daß das Menschengeschlecht wirklich eine
organische Einheit ist, ähnlich wie ein Bienenvolk, in dem immer gerade die
Anzahl von weiblichen, männlichen und geschlechtlosen Individuen auskriecht,
die im Augenblick gebraucht wird. Und bei der Darstellung der moham¬
medanischen Polygamie hätte der Umstand, daß die wirtschaftlich den meisten
unmögliche simultane durch die succesivc ersetzt wird, noch etwas deutlicher
ausgesprochen werden können. Er erwähnt zwar, daß die Ehescheidungen
nach unsern Begriffen enorm häufig sind, und daß man bei den untern Volks¬
klassen geradezu von einer Ehe auf Probe sprechen könne, aber es handelt
sich um mehr als dieses. Lord Cromer erzählt in seinem Noctsrn Lss^pe (und
früher schon ist von Kennern des Orients ähnliches berichtet worden), einer
seiner Stallburschen habe in noch nicht zwei Jahren seine „Gattinnen" elfmal
gewechselt. Das heißt doch, die Prostitution an die Stelle der Ehe setzen,
und das ist bedeutend schlimmer, als wenn sie nur zu deren Ersatz erlaubt
wird für Heiratsfähige, denen ihre Verhältnisse die Eheschließung wehren.
Das Buch hätte gewonnen, wenn die beiden Ausfälle gegen Öttiugen
gestrichen worden wären; man könnte dann das viele Gute, das es enthält,
und von dem wir einiges mitteilen wollen, in reinerer Stimmung genießen.
Sehr richtig wird S. 97 gesagt: „Wie bekannt, leben auf unfruchtbarem
Boden die dichtesten Bevölkerungen von der Industrie, da die zu ihrer Er¬
nährung nötigen Flüchen ^die heutige Verkehrstechnik vorausgesetzt!) nicht um
sie herum zu liegen brauchen, sondern in den verschiedensten Teilen der Erde
gelegen sein können. Ungeschickt drückt man das oft so aus, daß man sagt,
die Industrie vermöge mehr Menschen zu ernähren als der Ackerbau, oder:
mit der Zunahme der Industrie nehme die Bevölkerung zu. Umgekehrt: je
mehr Industrie — d. h. je mehr Bedürfnisse sich die Menschheit miegt, die
über die der Ernährung hinausgehn — um so mehr menschliche Arbeitskraft
und Boden entzieht sie der Nahrungsproduktion." Aus den widersprechenden
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |