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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Die Fahrkartensteuer und ihre Reform

seiner Arbeitsstätte fährt, wird nie für eine Fahrt 100 Pfennig ausgeben, er
niüßte denn fünfzig Kilometer sowohl bei der Hin- als auch bei der Rückfahrt
zurücklegen. Das verbietet sich schon deshalb, weil die Zurücklegung dieser
Strecke täglich zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Muß er aber, wie
es an verschiednen Orten der Fall ist, wöchentlich einmal den Betrag auf¬
wenden, weil er während der Woche am fernen Arbeitsorte verbleibt, dann
ist die Steuer für eine Woche so gering, daß sie der Arbeiter wohl zahlen
kann, oder aber er erhebt sie, wie den ganzen Fahrkartenpreis, von seinem
Arbeitgeber durch höhere Lohnforderung wieder. Reisende vierter Klasse da¬
gegen, die Vergnügungs- oder sonstige Fahrten auf weite Entfernungen unter¬
nehmen, können die Fahrkartensteuer ebensogut bezahlen wie die Reisenden der
andern Wagenklassen (1. bis 3.). Es liegt also gar kein Grund vor, diese
Reisenden von der Besteuerung auszunehmen. Und wie bei jeder Steuer, so
können auch bei der Fahrkartensteuer nur die Massen die Einnahmen bringen,
die Massen aber fahren in der vierten und in der dritten Klasse. Weiter
darf nicht außer acht gelassen werden, daß einen Teil der Fahrkartensteuer die
Ausländer bezahlen, die im Sommer zahlreich die schönen Gegenden usw.
unsers deutschen Vaterlandes besuchen, und daß die Deutschen bei Reisen in
fremden Ländern in einer Anzahl dieser Länder die Fahrkartensteuer, die dort
seit einer langen Reihe von Jahren besteht, ebenfalls zahlen müssen und ohne
Anstand zahlen, weil man es nicht anders weiß oder es überhaupt nicht inne
wird. Es ist leicht gesagt, daß bei der Reichsfinanzreform ein Ersatz für die
Fahrkartensteuer gefunden werden könnte: die Herren Schatzsekretäre wissen
aber, welche Schwierigkeiten es bereitet, neue Steuern zu finden, die gern
gezahlt werden, die niemand drücken, die die Zustimmung aller beteiligten
Faktoren finden, die dabei so ergiebig sind, daß sie alle Bedürfnisse des Reichs
befriedigen, und die außerdem schon eingeführte Steuern entbehrlich machen.
Schaffen wir die Fahrkartensteuer, die im Rechnungsjahre 1907 rund siebzehn
Millionen erbracht haben soll, ganz ab, dann müssen diese Millionen auf
andre Weise aufgebracht werden, und das wird wohl sehr schwer sein. Schon
jetzt wehren sich alle Berufsklassen, die sich von den vom neuen Staats¬
sekretär vorgeschlagnen Steuern getroffen glauben, gegen jede Steuer, alle
meinen, daß die auf ihre Erzeugnisse gelegten Steuern sie persönlich und auch
die ganze von der Steuer getroffne Industrie ruinieren werde. Dabei bedenken
sie nicht, daß keiner der Erzeuger eines von einer Steuer betroffnen Gegen¬
standes diese Steuer selbst zahlt, daß er vielmehr die Steuer auf die Abnehmer
abwälzt. - > - , ^

Daß die Fahrkartensteuer die Abwanderung der Reisenden aus den höhern
Klassen in die niedrigern herbeigeführt haben soll, ist noch niemals bewiesen
worden; vielmehr wird die Erhöhung des Fahrpreises für Hin- und Rückfahrten
die Veranlassung sein. Weiter aber darf als sicher angenommen werden, daß
die gegen früher bedeutend bessere Ausstattung der Wagen vierter Klasse,


Die Fahrkartensteuer und ihre Reform

seiner Arbeitsstätte fährt, wird nie für eine Fahrt 100 Pfennig ausgeben, er
niüßte denn fünfzig Kilometer sowohl bei der Hin- als auch bei der Rückfahrt
zurücklegen. Das verbietet sich schon deshalb, weil die Zurücklegung dieser
Strecke täglich zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Muß er aber, wie
es an verschiednen Orten der Fall ist, wöchentlich einmal den Betrag auf¬
wenden, weil er während der Woche am fernen Arbeitsorte verbleibt, dann
ist die Steuer für eine Woche so gering, daß sie der Arbeiter wohl zahlen
kann, oder aber er erhebt sie, wie den ganzen Fahrkartenpreis, von seinem
Arbeitgeber durch höhere Lohnforderung wieder. Reisende vierter Klasse da¬
gegen, die Vergnügungs- oder sonstige Fahrten auf weite Entfernungen unter¬
nehmen, können die Fahrkartensteuer ebensogut bezahlen wie die Reisenden der
andern Wagenklassen (1. bis 3.). Es liegt also gar kein Grund vor, diese
Reisenden von der Besteuerung auszunehmen. Und wie bei jeder Steuer, so
können auch bei der Fahrkartensteuer nur die Massen die Einnahmen bringen,
die Massen aber fahren in der vierten und in der dritten Klasse. Weiter
darf nicht außer acht gelassen werden, daß einen Teil der Fahrkartensteuer die
Ausländer bezahlen, die im Sommer zahlreich die schönen Gegenden usw.
unsers deutschen Vaterlandes besuchen, und daß die Deutschen bei Reisen in
fremden Ländern in einer Anzahl dieser Länder die Fahrkartensteuer, die dort
seit einer langen Reihe von Jahren besteht, ebenfalls zahlen müssen und ohne
Anstand zahlen, weil man es nicht anders weiß oder es überhaupt nicht inne
wird. Es ist leicht gesagt, daß bei der Reichsfinanzreform ein Ersatz für die
Fahrkartensteuer gefunden werden könnte: die Herren Schatzsekretäre wissen
aber, welche Schwierigkeiten es bereitet, neue Steuern zu finden, die gern
gezahlt werden, die niemand drücken, die die Zustimmung aller beteiligten
Faktoren finden, die dabei so ergiebig sind, daß sie alle Bedürfnisse des Reichs
befriedigen, und die außerdem schon eingeführte Steuern entbehrlich machen.
Schaffen wir die Fahrkartensteuer, die im Rechnungsjahre 1907 rund siebzehn
Millionen erbracht haben soll, ganz ab, dann müssen diese Millionen auf
andre Weise aufgebracht werden, und das wird wohl sehr schwer sein. Schon
jetzt wehren sich alle Berufsklassen, die sich von den vom neuen Staats¬
sekretär vorgeschlagnen Steuern getroffen glauben, gegen jede Steuer, alle
meinen, daß die auf ihre Erzeugnisse gelegten Steuern sie persönlich und auch
die ganze von der Steuer getroffne Industrie ruinieren werde. Dabei bedenken
sie nicht, daß keiner der Erzeuger eines von einer Steuer betroffnen Gegen¬
standes diese Steuer selbst zahlt, daß er vielmehr die Steuer auf die Abnehmer
abwälzt. - > - , ^

Daß die Fahrkartensteuer die Abwanderung der Reisenden aus den höhern
Klassen in die niedrigern herbeigeführt haben soll, ist noch niemals bewiesen
worden; vielmehr wird die Erhöhung des Fahrpreises für Hin- und Rückfahrten
die Veranlassung sein. Weiter aber darf als sicher angenommen werden, daß
die gegen früher bedeutend bessere Ausstattung der Wagen vierter Klasse,


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[0343] Die Fahrkartensteuer und ihre Reform seiner Arbeitsstätte fährt, wird nie für eine Fahrt 100 Pfennig ausgeben, er niüßte denn fünfzig Kilometer sowohl bei der Hin- als auch bei der Rückfahrt zurücklegen. Das verbietet sich schon deshalb, weil die Zurücklegung dieser Strecke täglich zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Muß er aber, wie es an verschiednen Orten der Fall ist, wöchentlich einmal den Betrag auf¬ wenden, weil er während der Woche am fernen Arbeitsorte verbleibt, dann ist die Steuer für eine Woche so gering, daß sie der Arbeiter wohl zahlen kann, oder aber er erhebt sie, wie den ganzen Fahrkartenpreis, von seinem Arbeitgeber durch höhere Lohnforderung wieder. Reisende vierter Klasse da¬ gegen, die Vergnügungs- oder sonstige Fahrten auf weite Entfernungen unter¬ nehmen, können die Fahrkartensteuer ebensogut bezahlen wie die Reisenden der andern Wagenklassen (1. bis 3.). Es liegt also gar kein Grund vor, diese Reisenden von der Besteuerung auszunehmen. Und wie bei jeder Steuer, so können auch bei der Fahrkartensteuer nur die Massen die Einnahmen bringen, die Massen aber fahren in der vierten und in der dritten Klasse. Weiter darf nicht außer acht gelassen werden, daß einen Teil der Fahrkartensteuer die Ausländer bezahlen, die im Sommer zahlreich die schönen Gegenden usw. unsers deutschen Vaterlandes besuchen, und daß die Deutschen bei Reisen in fremden Ländern in einer Anzahl dieser Länder die Fahrkartensteuer, die dort seit einer langen Reihe von Jahren besteht, ebenfalls zahlen müssen und ohne Anstand zahlen, weil man es nicht anders weiß oder es überhaupt nicht inne wird. Es ist leicht gesagt, daß bei der Reichsfinanzreform ein Ersatz für die Fahrkartensteuer gefunden werden könnte: die Herren Schatzsekretäre wissen aber, welche Schwierigkeiten es bereitet, neue Steuern zu finden, die gern gezahlt werden, die niemand drücken, die die Zustimmung aller beteiligten Faktoren finden, die dabei so ergiebig sind, daß sie alle Bedürfnisse des Reichs befriedigen, und die außerdem schon eingeführte Steuern entbehrlich machen. Schaffen wir die Fahrkartensteuer, die im Rechnungsjahre 1907 rund siebzehn Millionen erbracht haben soll, ganz ab, dann müssen diese Millionen auf andre Weise aufgebracht werden, und das wird wohl sehr schwer sein. Schon jetzt wehren sich alle Berufsklassen, die sich von den vom neuen Staats¬ sekretär vorgeschlagnen Steuern getroffen glauben, gegen jede Steuer, alle meinen, daß die auf ihre Erzeugnisse gelegten Steuern sie persönlich und auch die ganze von der Steuer getroffne Industrie ruinieren werde. Dabei bedenken sie nicht, daß keiner der Erzeuger eines von einer Steuer betroffnen Gegen¬ standes diese Steuer selbst zahlt, daß er vielmehr die Steuer auf die Abnehmer abwälzt. - > - , ^ Daß die Fahrkartensteuer die Abwanderung der Reisenden aus den höhern Klassen in die niedrigern herbeigeführt haben soll, ist noch niemals bewiesen worden; vielmehr wird die Erhöhung des Fahrpreises für Hin- und Rückfahrten die Veranlassung sein. Weiter aber darf als sicher angenommen werden, daß die gegen früher bedeutend bessere Ausstattung der Wagen vierter Klasse,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/343>, abgerufen am 12.12.2024.