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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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der Oarnaffus in Neufiedel

risseneu Säume ihrer schlampigen Röcke hinflattern lassen. Ein hohler Wind hat
sich aufgemacht, und naß weht die Luft. Eine Krähe quarrt heiser, mit angstvollem
Pfiffe streichen Wanderdrosseln hin. Ich rauche und denke an den langen, weiten
Weg. Und dann fällt mir ein sonniger Januartag ein und drei Kinder. Um
die Mittagszeit war es, da kam ich aus dem Walde bei der großen Stadt und
sah drei Kinder, Arbeiterkinder in dünnen, mißfarbnen Kleidchen, zwei Mädchen
und ein Junge. Der Junge schwang etwas in der Hand und sang das Lied vom
Tannenbaum und seinen treuen Blättern, und das eine Mädelchen hatte die Jacke
des Jungen gefaßt und das andre ihrer Schwester Rockzipfel. Und alle drei
gingen mit lachenden Gesichtern und leuchtenden Augen den staubigen Weg und
fangen das Lied vom Tmmenbaum.

Es war nach langer, trüber Zeit der erste sonnige Tag, und die Kinder taten
recht, zu singen und zu jubeln. Sie wollten wohl, der Sonne zum Preise, ein
Frühlingslied singen, aber sie wußten keins, und so machten sie das Weihnachts¬
lied zum Lenzgesang. Und der Junge hätte wohl gern einen Tannenzweig ge¬
schwungen, doch da er keinen hatte, begnügte er sich mit einem Ende Stacheldraht,
das am Wege lag. Und ich lächelte und dachte mir weiter nichts. Warum fällt
mir gerade jetzt dieses kleine Erlebnis ein? Warum begreife ich heute erst die
Lehre, die mir die drei Flachsköpfe gaben? Gerade in dieser Stunde, da mich
die Jagd öde dünkt, da graue Gedanken über meine frohe Stimmung fegen, und
eine hohle Sehnsucht in meiner Erinnerung seufzt? Und warum fällt mir heute
mein Treugesell ein, der drei Jahre hier mit mir weidwerkte, und ohne den mir
die Jagd ein sinnloses Morden scheint?

Der Stacheldraht in der Hand des Knaben lehrte es mich: nichts auf der
Welt hat eignen Wert; die Illusion ist alles.

Ich will heimfahren morgen früh. Mit meinem Hunde begrub ich meine
Weidmannslust.




Der parnassus in Neusiedel
von Fritz Anders (Fortsetzung)
9

as erste Theaterjahr war vergangen. Es hatte nicht verschwiegen
werden können, daß der Direktor in diesem Jahre ein gutes Geschäft
gemacht hatte. Man sprach von zehntausend, zwanzigtausend und gar
dreißigtausend Mark Gewinn. Es half nichts, daß der Direktor
seine dramatischste Haltung annahm, von Blödsinn und phantastischen
Zahlen redete, denn er konnte nicht leugnen, daß er verdient hatte,
"no das ist in den Augen der Leute ein schweres Unrecht. Es ist doch einmal
s ik,!-" ^ ö"sZ einer dem andern seinen Gewinn nicht gönnt, auch wenn er
^ keinen Nachteil davon hat, daß der andre verdient. Und so empfand es
°Ach die Bürgerschaft von Neusiedel als eine Übervorteilung, daß so ein Direktor
s?^Z°gen kommt, ein Theater aufmacht und das Geld gewinnt, das die Bürger¬
est an die Kasse getragen hat. Hierzu kam die Gesellschaft zur Pflege usw., deren


der Oarnaffus in Neufiedel

risseneu Säume ihrer schlampigen Röcke hinflattern lassen. Ein hohler Wind hat
sich aufgemacht, und naß weht die Luft. Eine Krähe quarrt heiser, mit angstvollem
Pfiffe streichen Wanderdrosseln hin. Ich rauche und denke an den langen, weiten
Weg. Und dann fällt mir ein sonniger Januartag ein und drei Kinder. Um
die Mittagszeit war es, da kam ich aus dem Walde bei der großen Stadt und
sah drei Kinder, Arbeiterkinder in dünnen, mißfarbnen Kleidchen, zwei Mädchen
und ein Junge. Der Junge schwang etwas in der Hand und sang das Lied vom
Tannenbaum und seinen treuen Blättern, und das eine Mädelchen hatte die Jacke
des Jungen gefaßt und das andre ihrer Schwester Rockzipfel. Und alle drei
gingen mit lachenden Gesichtern und leuchtenden Augen den staubigen Weg und
fangen das Lied vom Tmmenbaum.

Es war nach langer, trüber Zeit der erste sonnige Tag, und die Kinder taten
recht, zu singen und zu jubeln. Sie wollten wohl, der Sonne zum Preise, ein
Frühlingslied singen, aber sie wußten keins, und so machten sie das Weihnachts¬
lied zum Lenzgesang. Und der Junge hätte wohl gern einen Tannenzweig ge¬
schwungen, doch da er keinen hatte, begnügte er sich mit einem Ende Stacheldraht,
das am Wege lag. Und ich lächelte und dachte mir weiter nichts. Warum fällt
mir gerade jetzt dieses kleine Erlebnis ein? Warum begreife ich heute erst die
Lehre, die mir die drei Flachsköpfe gaben? Gerade in dieser Stunde, da mich
die Jagd öde dünkt, da graue Gedanken über meine frohe Stimmung fegen, und
eine hohle Sehnsucht in meiner Erinnerung seufzt? Und warum fällt mir heute
mein Treugesell ein, der drei Jahre hier mit mir weidwerkte, und ohne den mir
die Jagd ein sinnloses Morden scheint?

Der Stacheldraht in der Hand des Knaben lehrte es mich: nichts auf der
Welt hat eignen Wert; die Illusion ist alles.

Ich will heimfahren morgen früh. Mit meinem Hunde begrub ich meine
Weidmannslust.




Der parnassus in Neusiedel
von Fritz Anders (Fortsetzung)
9

as erste Theaterjahr war vergangen. Es hatte nicht verschwiegen
werden können, daß der Direktor in diesem Jahre ein gutes Geschäft
gemacht hatte. Man sprach von zehntausend, zwanzigtausend und gar
dreißigtausend Mark Gewinn. Es half nichts, daß der Direktor
seine dramatischste Haltung annahm, von Blödsinn und phantastischen
Zahlen redete, denn er konnte nicht leugnen, daß er verdient hatte,
"no das ist in den Augen der Leute ein schweres Unrecht. Es ist doch einmal
s ik,!-" ^ ö"sZ einer dem andern seinen Gewinn nicht gönnt, auch wenn er
^ keinen Nachteil davon hat, daß der andre verdient. Und so empfand es
°Ach die Bürgerschaft von Neusiedel als eine Übervorteilung, daß so ein Direktor
s?^Z°gen kommt, ein Theater aufmacht und das Geld gewinnt, das die Bürger¬
est an die Kasse getragen hat. Hierzu kam die Gesellschaft zur Pflege usw., deren


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[0311] der Oarnaffus in Neufiedel risseneu Säume ihrer schlampigen Röcke hinflattern lassen. Ein hohler Wind hat sich aufgemacht, und naß weht die Luft. Eine Krähe quarrt heiser, mit angstvollem Pfiffe streichen Wanderdrosseln hin. Ich rauche und denke an den langen, weiten Weg. Und dann fällt mir ein sonniger Januartag ein und drei Kinder. Um die Mittagszeit war es, da kam ich aus dem Walde bei der großen Stadt und sah drei Kinder, Arbeiterkinder in dünnen, mißfarbnen Kleidchen, zwei Mädchen und ein Junge. Der Junge schwang etwas in der Hand und sang das Lied vom Tannenbaum und seinen treuen Blättern, und das eine Mädelchen hatte die Jacke des Jungen gefaßt und das andre ihrer Schwester Rockzipfel. Und alle drei gingen mit lachenden Gesichtern und leuchtenden Augen den staubigen Weg und fangen das Lied vom Tmmenbaum. Es war nach langer, trüber Zeit der erste sonnige Tag, und die Kinder taten recht, zu singen und zu jubeln. Sie wollten wohl, der Sonne zum Preise, ein Frühlingslied singen, aber sie wußten keins, und so machten sie das Weihnachts¬ lied zum Lenzgesang. Und der Junge hätte wohl gern einen Tannenzweig ge¬ schwungen, doch da er keinen hatte, begnügte er sich mit einem Ende Stacheldraht, das am Wege lag. Und ich lächelte und dachte mir weiter nichts. Warum fällt mir gerade jetzt dieses kleine Erlebnis ein? Warum begreife ich heute erst die Lehre, die mir die drei Flachsköpfe gaben? Gerade in dieser Stunde, da mich die Jagd öde dünkt, da graue Gedanken über meine frohe Stimmung fegen, und eine hohle Sehnsucht in meiner Erinnerung seufzt? Und warum fällt mir heute mein Treugesell ein, der drei Jahre hier mit mir weidwerkte, und ohne den mir die Jagd ein sinnloses Morden scheint? Der Stacheldraht in der Hand des Knaben lehrte es mich: nichts auf der Welt hat eignen Wert; die Illusion ist alles. Ich will heimfahren morgen früh. Mit meinem Hunde begrub ich meine Weidmannslust. Der parnassus in Neusiedel von Fritz Anders (Fortsetzung) 9 as erste Theaterjahr war vergangen. Es hatte nicht verschwiegen werden können, daß der Direktor in diesem Jahre ein gutes Geschäft gemacht hatte. Man sprach von zehntausend, zwanzigtausend und gar dreißigtausend Mark Gewinn. Es half nichts, daß der Direktor seine dramatischste Haltung annahm, von Blödsinn und phantastischen Zahlen redete, denn er konnte nicht leugnen, daß er verdient hatte, "no das ist in den Augen der Leute ein schweres Unrecht. Es ist doch einmal s ik,!-" ^ ö"sZ einer dem andern seinen Gewinn nicht gönnt, auch wenn er ^ keinen Nachteil davon hat, daß der andre verdient. Und so empfand es °Ach die Bürgerschaft von Neusiedel als eine Übervorteilung, daß so ein Direktor s?^Z°gen kommt, ein Theater aufmacht und das Geld gewinnt, das die Bürger¬ est an die Kasse getragen hat. Hierzu kam die Gesellschaft zur Pflege usw., deren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/311>, abgerufen am 12.12.2024.