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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Verbrecher bei Shakespeare

wie die verbrecherische Persönlichkeit entstehe, um der Entstehung vorbeugen zu
können, so sei es zunächst geboten, Material für die Lösung dieser Frage zu
sammeln, psychische Krankenjonrnale anzulegen. Und obwohl man noch weit
von der endgiltigen Aufdeckung aller Verursachungsprozesse entfernt sei, die
menschliche Giftmikroben erzeugen, sei vorläufig wenigstens dieses eine erkannt,
daß Lombrosos geborner, an körperlichen Merkmalen erkennbarer Verbrecher
selten vorkommt. Die meisten "Verbrecher sind in ihrem Gedanken-, Gefühls-
nnd Willensleben nicht wesentlich verschieden von andern, sie sind im Gegenteil
Menschen wie wir alle". Das vorläufige Ergebnis des Streites der neuen
kriminalistischen Schule mit der alten scheint mir in der ziemlich allgemeinen
Anerkennung folgender Sätze zu bestehen. Daß alles menschliche Handeln durch
Motive bestimmt wird, die teils aus der eingebornen und ererbten Individualität
des Handelnden, teils aus Einflüssen seiner Umgebung entspringen, steht fest.
Aber die Frage, ob dann noch von Willensfreiheit die Rede sein könne, ist
für die juristische Praxis bedeutungslos. Der Strafrichter hat bloß danach zu
fragen, ob der Angeklagte aus seiner Natur heraus oder unter dem Zwange
äußerer Umstände und Einflüsse gehandelt hat; im ersten Falle ist er, wie
unabänderlich determiniert anch sein Verhalten gewesen sein mag, im juristischen
Sinne als frei und darum verantwortlich anzusehn, denn jedermann muß die
Folgen der Äußerungen seiner Natur tragen: den Tod durchs Richtschwert
ebensogut wie den durch Alkoholvergiftung, den ihm kein Richter verordnet.
Die Strafandrohungen sind gerade bei der Annahme strenger Motiviertheit
aller Handlungen zweckmäßig, weil die Furcht vor der Strafe ein Motiv ist,
verbotne Handlungen zu unterlassen, während es zwecklos wäre, mit Strafen
zu drohen oder durch Belohnungen zu locken, wenn der Durchschnittsmensch
absolut frei, willkürlich, ohne Rücksicht auf vernünftige Motive, das heißt
verrückt handelte. Daß wir nicht richten dürfen, weil wir es nicht können, weil
wir weder den Nächsten noch uns selbst durchschauen und Gott allein weiß, was
ein jeder wert ist und für seine Handlungen verdient, das haben uns schon
Jesus und Paulus gelehrt, und die heutige Biologie, Psychologie und Soziologie
bestätigen es. Darum hat die neue Schule recht, wenn sie nicht mehr die
Vergeltung, sondern nur noch den Schutz des Publikums und die Verhütung
des Verbrechens als Zweck der Strafrechtspflege gelten läßt. (Die Besserung
des Verbrechers, soweit sie möglich, ist in den genannten beiden Zwecken
enthalten.) Doch muß man Grabowsky recht geben, wenn er in seiner Broschüre
"Recht und Staat" davor warnt, die unzweifelhafte Wahrheit förmlich z"
proklamieren. Das Volk verlange einmal die Sühne der bösen Tat. "Nimmt
die moderne Schule auf dies Volksempfinden keine Rücksicht, so wird gerade
damit das Gegenteil von dem bewirkt, was bewirkt werden soll: Nechtsunsicher-
yeit statt Rechtssicherheit." Gerade darin sehe das Volk die Sicherung, daß
Gerechtigkeit geübt werde, jeder Untat ihre Sühne gewiß sei. Unter allem
Unvollkommnen dieser Erde mag nichts unvollkommner sein als die Angemessen-


Verbrecher bei Shakespeare

wie die verbrecherische Persönlichkeit entstehe, um der Entstehung vorbeugen zu
können, so sei es zunächst geboten, Material für die Lösung dieser Frage zu
sammeln, psychische Krankenjonrnale anzulegen. Und obwohl man noch weit
von der endgiltigen Aufdeckung aller Verursachungsprozesse entfernt sei, die
menschliche Giftmikroben erzeugen, sei vorläufig wenigstens dieses eine erkannt,
daß Lombrosos geborner, an körperlichen Merkmalen erkennbarer Verbrecher
selten vorkommt. Die meisten „Verbrecher sind in ihrem Gedanken-, Gefühls-
nnd Willensleben nicht wesentlich verschieden von andern, sie sind im Gegenteil
Menschen wie wir alle". Das vorläufige Ergebnis des Streites der neuen
kriminalistischen Schule mit der alten scheint mir in der ziemlich allgemeinen
Anerkennung folgender Sätze zu bestehen. Daß alles menschliche Handeln durch
Motive bestimmt wird, die teils aus der eingebornen und ererbten Individualität
des Handelnden, teils aus Einflüssen seiner Umgebung entspringen, steht fest.
Aber die Frage, ob dann noch von Willensfreiheit die Rede sein könne, ist
für die juristische Praxis bedeutungslos. Der Strafrichter hat bloß danach zu
fragen, ob der Angeklagte aus seiner Natur heraus oder unter dem Zwange
äußerer Umstände und Einflüsse gehandelt hat; im ersten Falle ist er, wie
unabänderlich determiniert anch sein Verhalten gewesen sein mag, im juristischen
Sinne als frei und darum verantwortlich anzusehn, denn jedermann muß die
Folgen der Äußerungen seiner Natur tragen: den Tod durchs Richtschwert
ebensogut wie den durch Alkoholvergiftung, den ihm kein Richter verordnet.
Die Strafandrohungen sind gerade bei der Annahme strenger Motiviertheit
aller Handlungen zweckmäßig, weil die Furcht vor der Strafe ein Motiv ist,
verbotne Handlungen zu unterlassen, während es zwecklos wäre, mit Strafen
zu drohen oder durch Belohnungen zu locken, wenn der Durchschnittsmensch
absolut frei, willkürlich, ohne Rücksicht auf vernünftige Motive, das heißt
verrückt handelte. Daß wir nicht richten dürfen, weil wir es nicht können, weil
wir weder den Nächsten noch uns selbst durchschauen und Gott allein weiß, was
ein jeder wert ist und für seine Handlungen verdient, das haben uns schon
Jesus und Paulus gelehrt, und die heutige Biologie, Psychologie und Soziologie
bestätigen es. Darum hat die neue Schule recht, wenn sie nicht mehr die
Vergeltung, sondern nur noch den Schutz des Publikums und die Verhütung
des Verbrechens als Zweck der Strafrechtspflege gelten läßt. (Die Besserung
des Verbrechers, soweit sie möglich, ist in den genannten beiden Zwecken
enthalten.) Doch muß man Grabowsky recht geben, wenn er in seiner Broschüre
„Recht und Staat" davor warnt, die unzweifelhafte Wahrheit förmlich z»
proklamieren. Das Volk verlange einmal die Sühne der bösen Tat. „Nimmt
die moderne Schule auf dies Volksempfinden keine Rücksicht, so wird gerade
damit das Gegenteil von dem bewirkt, was bewirkt werden soll: Nechtsunsicher-
yeit statt Rechtssicherheit." Gerade darin sehe das Volk die Sicherung, daß
Gerechtigkeit geübt werde, jeder Untat ihre Sühne gewiß sei. Unter allem
Unvollkommnen dieser Erde mag nichts unvollkommner sein als die Angemessen-


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[0256] Verbrecher bei Shakespeare wie die verbrecherische Persönlichkeit entstehe, um der Entstehung vorbeugen zu können, so sei es zunächst geboten, Material für die Lösung dieser Frage zu sammeln, psychische Krankenjonrnale anzulegen. Und obwohl man noch weit von der endgiltigen Aufdeckung aller Verursachungsprozesse entfernt sei, die menschliche Giftmikroben erzeugen, sei vorläufig wenigstens dieses eine erkannt, daß Lombrosos geborner, an körperlichen Merkmalen erkennbarer Verbrecher selten vorkommt. Die meisten „Verbrecher sind in ihrem Gedanken-, Gefühls- nnd Willensleben nicht wesentlich verschieden von andern, sie sind im Gegenteil Menschen wie wir alle". Das vorläufige Ergebnis des Streites der neuen kriminalistischen Schule mit der alten scheint mir in der ziemlich allgemeinen Anerkennung folgender Sätze zu bestehen. Daß alles menschliche Handeln durch Motive bestimmt wird, die teils aus der eingebornen und ererbten Individualität des Handelnden, teils aus Einflüssen seiner Umgebung entspringen, steht fest. Aber die Frage, ob dann noch von Willensfreiheit die Rede sein könne, ist für die juristische Praxis bedeutungslos. Der Strafrichter hat bloß danach zu fragen, ob der Angeklagte aus seiner Natur heraus oder unter dem Zwange äußerer Umstände und Einflüsse gehandelt hat; im ersten Falle ist er, wie unabänderlich determiniert anch sein Verhalten gewesen sein mag, im juristischen Sinne als frei und darum verantwortlich anzusehn, denn jedermann muß die Folgen der Äußerungen seiner Natur tragen: den Tod durchs Richtschwert ebensogut wie den durch Alkoholvergiftung, den ihm kein Richter verordnet. Die Strafandrohungen sind gerade bei der Annahme strenger Motiviertheit aller Handlungen zweckmäßig, weil die Furcht vor der Strafe ein Motiv ist, verbotne Handlungen zu unterlassen, während es zwecklos wäre, mit Strafen zu drohen oder durch Belohnungen zu locken, wenn der Durchschnittsmensch absolut frei, willkürlich, ohne Rücksicht auf vernünftige Motive, das heißt verrückt handelte. Daß wir nicht richten dürfen, weil wir es nicht können, weil wir weder den Nächsten noch uns selbst durchschauen und Gott allein weiß, was ein jeder wert ist und für seine Handlungen verdient, das haben uns schon Jesus und Paulus gelehrt, und die heutige Biologie, Psychologie und Soziologie bestätigen es. Darum hat die neue Schule recht, wenn sie nicht mehr die Vergeltung, sondern nur noch den Schutz des Publikums und die Verhütung des Verbrechens als Zweck der Strafrechtspflege gelten läßt. (Die Besserung des Verbrechers, soweit sie möglich, ist in den genannten beiden Zwecken enthalten.) Doch muß man Grabowsky recht geben, wenn er in seiner Broschüre „Recht und Staat" davor warnt, die unzweifelhafte Wahrheit förmlich z» proklamieren. Das Volk verlange einmal die Sühne der bösen Tat. „Nimmt die moderne Schule auf dies Volksempfinden keine Rücksicht, so wird gerade damit das Gegenteil von dem bewirkt, was bewirkt werden soll: Nechtsunsicher- yeit statt Rechtssicherheit." Gerade darin sehe das Volk die Sicherung, daß Gerechtigkeit geübt werde, jeder Untat ihre Sühne gewiß sei. Unter allem Unvollkommnen dieser Erde mag nichts unvollkommner sein als die Angemessen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/256>, abgerufen am 23.07.2024.