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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Die deutsche Rulturpartei

der auf seine Anregung hin gebildeten "Deutschen Kulturpartei". Er verfügt
über eine zündende Beredsamkeit, und selbst der Gegner muß den ehrlichen
Einsatz der ganzen Persönlichkeit für das gewählte Ideal anerkennen und
kann beim bloßen Lesen des geschriebnen Wortes mitempfinden, welchen Einfluß
die lebendige Rede des Mannes auf die Menge äußert. Noch manches andre
vernünftige Wort des kleinen Schriftchens muß auch bei uns vollen Einklang
wecken. So wenn er den politischen Parteien, die sich nur auf Vertretung
materieller Interessen gründen, zu bedenken gibt, daß das bloß Materielle keine
bindende Kraft hat, daß die materiellen Interessen, die Fragen um das Mein
und Dein nur zersplitternd wirken und die unversöhnlichsten Gegensätze im
Schoße tragen. Denn was dem einen nützt, schadet dem andern. Das
Nationalgefühl ist schon eine ideelle Macht, die wunderbar die Völker zu einer
Einheit zusammenschmiedet. Allein darauf ist im gewöhnlichen Lauf der Dinge
kein Verlaß. Es bewährt sich nur in vorübergehenden Stunden der Not dem
äußern Feinde gegenüber. Im Alltagsleben steht sofort wieder der eine gegen
den andern, wenn nicht übergreifende, bindende Mächte wirksam werden. Diese
können nur von geistigen Gütern ausgehn, deren Art es an sich trägt, daß
nicht der Besitz des einen die andern vom Mitbesitz ausschließt. Deshalb
seien die liberalen Parteien, bei denen das Materielle, das Wirtschaftliche,
das im engern Sinne politische die erste Rolle spielt, nicht mehr wahrhaft
populär. Zu immer erneuter Zersplitterung verurteilt werde der Liberalismus
endlich ganz zerfallen, wenn er nicht die Macht des Religiösen begreifen lerne
und sich ebenfalls religiöse Mächte und Ideale dienstbar mache. Dem Libera¬
lismus, der bis jetzt in religiösen Dingen bloß eine feige Charakterlosigkeit
bewiesen habe, will der Verfasser einen religiösen Gehalt und damit die nötige
Stoßkraft zum Umsturz der Kirchen verleihen. Der Charakter der Kirche in
jeder Gestalt ist "Glaube an unbedingte Wahrheit, Aufrichtung einer absoluten
Autorität". Auch der kirchliche Protestantismus bis in seine liberalsten Aus¬
läufer ist im letzten Grunde nur eine Schutztruppe des Papstes. Denn auch
die liberale Theologie will christliche Theologie bleiben. Drei Grunddogmen
hält auch sie fest: den Glauben an einen persönlichen oder unpersönlichen Gott,
an die Unsterblichkeit und -- der Grund alles Übels -- an Jesus. Die Losung
der europäischen Bildung zu Ausgang des Mittelalters hieß: Los von Aristoteles!
Die der Neuzeit muß heißen: Los von Jesus! Jesus ist selbst daran schuld,
daß seine Person zum Schibboleth aller Gewissensknechtung wurde. Er hatte
seine Größe, die bewundernswert bleibt, aber er sagte: Ich bin die Wahrheit.
Das hätte ihm die Menschheit nicht glauben dürfen. "Wie erlösend wirkt
gegenüber solchem Worte das menschlich echte, wahre Wort des Atheners
Sokrates, des großen Gegenpols zu Jesu: Ich weiß, daß ich nichts weiß."
Durch die Bindung an eine absolut sein wollende Wahrheit wird der Mensch
entsittlicht, des Rechtes seiner Individualität beraubt. "Der Mensch der Zu¬
kunft steht da, Herr seiner selbst, Herr seines Willens, seiner Wünsche und
seiner Ziele." Der Individualismus, der sich in der Reformation Bahn ge-


Die deutsche Rulturpartei

der auf seine Anregung hin gebildeten „Deutschen Kulturpartei". Er verfügt
über eine zündende Beredsamkeit, und selbst der Gegner muß den ehrlichen
Einsatz der ganzen Persönlichkeit für das gewählte Ideal anerkennen und
kann beim bloßen Lesen des geschriebnen Wortes mitempfinden, welchen Einfluß
die lebendige Rede des Mannes auf die Menge äußert. Noch manches andre
vernünftige Wort des kleinen Schriftchens muß auch bei uns vollen Einklang
wecken. So wenn er den politischen Parteien, die sich nur auf Vertretung
materieller Interessen gründen, zu bedenken gibt, daß das bloß Materielle keine
bindende Kraft hat, daß die materiellen Interessen, die Fragen um das Mein
und Dein nur zersplitternd wirken und die unversöhnlichsten Gegensätze im
Schoße tragen. Denn was dem einen nützt, schadet dem andern. Das
Nationalgefühl ist schon eine ideelle Macht, die wunderbar die Völker zu einer
Einheit zusammenschmiedet. Allein darauf ist im gewöhnlichen Lauf der Dinge
kein Verlaß. Es bewährt sich nur in vorübergehenden Stunden der Not dem
äußern Feinde gegenüber. Im Alltagsleben steht sofort wieder der eine gegen
den andern, wenn nicht übergreifende, bindende Mächte wirksam werden. Diese
können nur von geistigen Gütern ausgehn, deren Art es an sich trägt, daß
nicht der Besitz des einen die andern vom Mitbesitz ausschließt. Deshalb
seien die liberalen Parteien, bei denen das Materielle, das Wirtschaftliche,
das im engern Sinne politische die erste Rolle spielt, nicht mehr wahrhaft
populär. Zu immer erneuter Zersplitterung verurteilt werde der Liberalismus
endlich ganz zerfallen, wenn er nicht die Macht des Religiösen begreifen lerne
und sich ebenfalls religiöse Mächte und Ideale dienstbar mache. Dem Libera¬
lismus, der bis jetzt in religiösen Dingen bloß eine feige Charakterlosigkeit
bewiesen habe, will der Verfasser einen religiösen Gehalt und damit die nötige
Stoßkraft zum Umsturz der Kirchen verleihen. Der Charakter der Kirche in
jeder Gestalt ist „Glaube an unbedingte Wahrheit, Aufrichtung einer absoluten
Autorität". Auch der kirchliche Protestantismus bis in seine liberalsten Aus¬
läufer ist im letzten Grunde nur eine Schutztruppe des Papstes. Denn auch
die liberale Theologie will christliche Theologie bleiben. Drei Grunddogmen
hält auch sie fest: den Glauben an einen persönlichen oder unpersönlichen Gott,
an die Unsterblichkeit und — der Grund alles Übels — an Jesus. Die Losung
der europäischen Bildung zu Ausgang des Mittelalters hieß: Los von Aristoteles!
Die der Neuzeit muß heißen: Los von Jesus! Jesus ist selbst daran schuld,
daß seine Person zum Schibboleth aller Gewissensknechtung wurde. Er hatte
seine Größe, die bewundernswert bleibt, aber er sagte: Ich bin die Wahrheit.
Das hätte ihm die Menschheit nicht glauben dürfen. „Wie erlösend wirkt
gegenüber solchem Worte das menschlich echte, wahre Wort des Atheners
Sokrates, des großen Gegenpols zu Jesu: Ich weiß, daß ich nichts weiß."
Durch die Bindung an eine absolut sein wollende Wahrheit wird der Mensch
entsittlicht, des Rechtes seiner Individualität beraubt. „Der Mensch der Zu¬
kunft steht da, Herr seiner selbst, Herr seines Willens, seiner Wünsche und
seiner Ziele." Der Individualismus, der sich in der Reformation Bahn ge-


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[0248] Die deutsche Rulturpartei der auf seine Anregung hin gebildeten „Deutschen Kulturpartei". Er verfügt über eine zündende Beredsamkeit, und selbst der Gegner muß den ehrlichen Einsatz der ganzen Persönlichkeit für das gewählte Ideal anerkennen und kann beim bloßen Lesen des geschriebnen Wortes mitempfinden, welchen Einfluß die lebendige Rede des Mannes auf die Menge äußert. Noch manches andre vernünftige Wort des kleinen Schriftchens muß auch bei uns vollen Einklang wecken. So wenn er den politischen Parteien, die sich nur auf Vertretung materieller Interessen gründen, zu bedenken gibt, daß das bloß Materielle keine bindende Kraft hat, daß die materiellen Interessen, die Fragen um das Mein und Dein nur zersplitternd wirken und die unversöhnlichsten Gegensätze im Schoße tragen. Denn was dem einen nützt, schadet dem andern. Das Nationalgefühl ist schon eine ideelle Macht, die wunderbar die Völker zu einer Einheit zusammenschmiedet. Allein darauf ist im gewöhnlichen Lauf der Dinge kein Verlaß. Es bewährt sich nur in vorübergehenden Stunden der Not dem äußern Feinde gegenüber. Im Alltagsleben steht sofort wieder der eine gegen den andern, wenn nicht übergreifende, bindende Mächte wirksam werden. Diese können nur von geistigen Gütern ausgehn, deren Art es an sich trägt, daß nicht der Besitz des einen die andern vom Mitbesitz ausschließt. Deshalb seien die liberalen Parteien, bei denen das Materielle, das Wirtschaftliche, das im engern Sinne politische die erste Rolle spielt, nicht mehr wahrhaft populär. Zu immer erneuter Zersplitterung verurteilt werde der Liberalismus endlich ganz zerfallen, wenn er nicht die Macht des Religiösen begreifen lerne und sich ebenfalls religiöse Mächte und Ideale dienstbar mache. Dem Libera¬ lismus, der bis jetzt in religiösen Dingen bloß eine feige Charakterlosigkeit bewiesen habe, will der Verfasser einen religiösen Gehalt und damit die nötige Stoßkraft zum Umsturz der Kirchen verleihen. Der Charakter der Kirche in jeder Gestalt ist „Glaube an unbedingte Wahrheit, Aufrichtung einer absoluten Autorität". Auch der kirchliche Protestantismus bis in seine liberalsten Aus¬ läufer ist im letzten Grunde nur eine Schutztruppe des Papstes. Denn auch die liberale Theologie will christliche Theologie bleiben. Drei Grunddogmen hält auch sie fest: den Glauben an einen persönlichen oder unpersönlichen Gott, an die Unsterblichkeit und — der Grund alles Übels — an Jesus. Die Losung der europäischen Bildung zu Ausgang des Mittelalters hieß: Los von Aristoteles! Die der Neuzeit muß heißen: Los von Jesus! Jesus ist selbst daran schuld, daß seine Person zum Schibboleth aller Gewissensknechtung wurde. Er hatte seine Größe, die bewundernswert bleibt, aber er sagte: Ich bin die Wahrheit. Das hätte ihm die Menschheit nicht glauben dürfen. „Wie erlösend wirkt gegenüber solchem Worte das menschlich echte, wahre Wort des Atheners Sokrates, des großen Gegenpols zu Jesu: Ich weiß, daß ich nichts weiß." Durch die Bindung an eine absolut sein wollende Wahrheit wird der Mensch entsittlicht, des Rechtes seiner Individualität beraubt. „Der Mensch der Zu¬ kunft steht da, Herr seiner selbst, Herr seines Willens, seiner Wünsche und seiner Ziele." Der Individualismus, der sich in der Reformation Bahn ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/248>, abgerufen am 12.12.2024.