Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches vielverschlungnen Pfaden der Völkerentwicklung und der Völkerbeziehungen nicht Man muß sich diese Verhältnisse klar machen, um zu erkennen, daß man mit Maßgebliches und Unmaßgebliches vielverschlungnen Pfaden der Völkerentwicklung und der Völkerbeziehungen nicht Man muß sich diese Verhältnisse klar machen, um zu erkennen, daß man mit <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0217" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312568"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_826" prev="#ID_825"> vielverschlungnen Pfaden der Völkerentwicklung und der Völkerbeziehungen nicht<lb/> immer die Logik und die Konsequenz zu finden sind. Wenn ein politischer Schritt<lb/> allgemein einleuchtet, den sichtbaren nächsten Interessen der Mehrheit und der<lb/> herrschenden Stimmung entspricht, fragt niemand danach, ob er im Einklang mit<lb/> der Vergangenheit steht oder den nur dem weitern Blick erkennbaren Forderungen<lb/> der Zukunft genügt. England läßt sich von den begeisterten Jungtürken huldigen<lb/> und mißbilligt zum Dank dafür die Annexion Bosniens — alles in demselben<lb/> Augenblick, wo öffentlich die Frage der völligen Einverleibung Ägyptens in den<lb/> britischen Reichskörper erörtert wird, desselben Ägyptens, dessen vollständige Los-<lb/> lösung vom türkischen Reich erst durch England vollzogen worden ist. Das ist<lb/> kein Vorwurf für England. Es braucht Ägypten für seine weltpolitische Stellung;<lb/> es hat unter Lord Cromers vortrefflicher Verwaltung unendlich viel für das Wohl<lb/> des Landes getan, seine wirtschaftlichen Kräfte so weit entwickelt, wie man es seit<lb/> den Zeiten der Ptolemäer kaum noch für möglich gehalten hatte. Warum sollte<lb/> es Ägypten nicht nehmen? Wenn es diesen letzten Schritt nicht tut, so ist es<lb/> sicher nicht der Respekt vor den Rechten des osmanischen Großherrn, der es davon<lb/> zurückhält. Aber alles das hindert England nicht, Österreich-Ungarn zu tadeln,<lb/> weil es in Bosnien dasselbe tut, was England in Ägypten gern tun möchte. Es<lb/> hindert aber auch die Türkei nicht, sich für England zu begeistern und gegen<lb/> Österreich zu entrüsten, obwohl es von Österreich nur einen eingebildeten, von<lb/> England einen wirklichen, nicht ersetzbaren Verlust erlitten hat. Und wer will<lb/> England ernstlich tadeln, daß es aus dieser ihm kostenlos zufallenden, seine Sünden<lb/> zudeckenden Begeisterung der Türken Nutzen zieht? Es ist ja nicht seine Aufgabe,<lb/> den Türken oollsAinm lo^eum zu lesen. Auf der andern Seite hat es für den<lb/> schlichten Verstand des Privatmanns nicht minder etwas Verblüffendes, von Ru߬<lb/> land mit Bezug auf die Annexion Bosniens eine Predigt über den Respekt vor<lb/> internationalen Verträgen zu hören. Österreich-Ungarn hat sich bei seinem Vor¬<lb/> gehen in Bosnien nicht ohne weiteres von den Bestimmungen eines internationalen<lb/> Vertrags losgesagt; es hat sie nur — vielleicht in einer anfechtbaren Weise —<lb/> zu seinen Gunsten umgedeutet. Das Beispiel einer förmlichen Lossagung einer<lb/> einzelnen Macht von gewissen Bestimmungen eines internationalen Vertrags ist der<lb/> Welt in den letzten hundert Jahren nur einmal gegeben worden, nämlich von —<lb/> Rußland. Es benutzte bekanntlich die günstigen Umstände während des Deutsch¬<lb/> französischen Kriegs, sich von gewissen einengendem Bestimmungen des Pariser Ver¬<lb/> trags von 1856 zu befreien.</p><lb/> <p xml:id="ID_827" next="#ID_828"> Man muß sich diese Verhältnisse klar machen, um zu erkennen, daß man mit<lb/> logischen Vorhaltungen in solchen Fragen nicht weiterkommt, sondern daß in der<lb/> praktischen Politik nur die gegenwärtigen Interessen entscheiden. Allerdings müssen<lb/> diese auch geschickt vertreten werden, und ob das gerade in diesem Falle von<lb/> russischer Seite geschehen ist, dürfte wohl mindestens zweifelhaft sein. Herr<lb/> Jswolski hatte schon in London und Paris kein Glück gehabt, als er die Meer¬<lb/> engenfrage auf das Programm der künftigen Konferenz zu bringen versuchte. Seine<lb/> Dumarede über die auswärtige Politik Rußlands brachte das ziemlich unverhüllte<lb/> Eingeständnis, daß Rußland nicht gewillt sei, seinen Forderungen den letzten Nach¬<lb/> druck zu geben und um der Orientpolitik willen das Schwert zu ziehen. Sie<lb/> enthielt ferner indirekt das Eingeständnis, daß sich Österreich-Ungarn nach den Ab¬<lb/> machungen von Reichstadt im Jahre 1876 wohl berechtigt halten konnte, die Be¬<lb/> stimmungen des Berliner Vertrages von 1878 hinsichtlich Bosniens und der<lb/> Herzegowina so aufzufassen, daß für Rußland nach den mancherlei bereits geschehenen<lb/> und von den Mächten gutgeheißnen Durchlöcherungen des erwähnten Vertrages<lb/> kein besondrer Grund zu einem scharfe» Protest und zur Ermutigung der serbischen</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0217]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
vielverschlungnen Pfaden der Völkerentwicklung und der Völkerbeziehungen nicht
immer die Logik und die Konsequenz zu finden sind. Wenn ein politischer Schritt
allgemein einleuchtet, den sichtbaren nächsten Interessen der Mehrheit und der
herrschenden Stimmung entspricht, fragt niemand danach, ob er im Einklang mit
der Vergangenheit steht oder den nur dem weitern Blick erkennbaren Forderungen
der Zukunft genügt. England läßt sich von den begeisterten Jungtürken huldigen
und mißbilligt zum Dank dafür die Annexion Bosniens — alles in demselben
Augenblick, wo öffentlich die Frage der völligen Einverleibung Ägyptens in den
britischen Reichskörper erörtert wird, desselben Ägyptens, dessen vollständige Los-
lösung vom türkischen Reich erst durch England vollzogen worden ist. Das ist
kein Vorwurf für England. Es braucht Ägypten für seine weltpolitische Stellung;
es hat unter Lord Cromers vortrefflicher Verwaltung unendlich viel für das Wohl
des Landes getan, seine wirtschaftlichen Kräfte so weit entwickelt, wie man es seit
den Zeiten der Ptolemäer kaum noch für möglich gehalten hatte. Warum sollte
es Ägypten nicht nehmen? Wenn es diesen letzten Schritt nicht tut, so ist es
sicher nicht der Respekt vor den Rechten des osmanischen Großherrn, der es davon
zurückhält. Aber alles das hindert England nicht, Österreich-Ungarn zu tadeln,
weil es in Bosnien dasselbe tut, was England in Ägypten gern tun möchte. Es
hindert aber auch die Türkei nicht, sich für England zu begeistern und gegen
Österreich zu entrüsten, obwohl es von Österreich nur einen eingebildeten, von
England einen wirklichen, nicht ersetzbaren Verlust erlitten hat. Und wer will
England ernstlich tadeln, daß es aus dieser ihm kostenlos zufallenden, seine Sünden
zudeckenden Begeisterung der Türken Nutzen zieht? Es ist ja nicht seine Aufgabe,
den Türken oollsAinm lo^eum zu lesen. Auf der andern Seite hat es für den
schlichten Verstand des Privatmanns nicht minder etwas Verblüffendes, von Ru߬
land mit Bezug auf die Annexion Bosniens eine Predigt über den Respekt vor
internationalen Verträgen zu hören. Österreich-Ungarn hat sich bei seinem Vor¬
gehen in Bosnien nicht ohne weiteres von den Bestimmungen eines internationalen
Vertrags losgesagt; es hat sie nur — vielleicht in einer anfechtbaren Weise —
zu seinen Gunsten umgedeutet. Das Beispiel einer förmlichen Lossagung einer
einzelnen Macht von gewissen Bestimmungen eines internationalen Vertrags ist der
Welt in den letzten hundert Jahren nur einmal gegeben worden, nämlich von —
Rußland. Es benutzte bekanntlich die günstigen Umstände während des Deutsch¬
französischen Kriegs, sich von gewissen einengendem Bestimmungen des Pariser Ver¬
trags von 1856 zu befreien.
Man muß sich diese Verhältnisse klar machen, um zu erkennen, daß man mit
logischen Vorhaltungen in solchen Fragen nicht weiterkommt, sondern daß in der
praktischen Politik nur die gegenwärtigen Interessen entscheiden. Allerdings müssen
diese auch geschickt vertreten werden, und ob das gerade in diesem Falle von
russischer Seite geschehen ist, dürfte wohl mindestens zweifelhaft sein. Herr
Jswolski hatte schon in London und Paris kein Glück gehabt, als er die Meer¬
engenfrage auf das Programm der künftigen Konferenz zu bringen versuchte. Seine
Dumarede über die auswärtige Politik Rußlands brachte das ziemlich unverhüllte
Eingeständnis, daß Rußland nicht gewillt sei, seinen Forderungen den letzten Nach¬
druck zu geben und um der Orientpolitik willen das Schwert zu ziehen. Sie
enthielt ferner indirekt das Eingeständnis, daß sich Österreich-Ungarn nach den Ab¬
machungen von Reichstadt im Jahre 1876 wohl berechtigt halten konnte, die Be¬
stimmungen des Berliner Vertrages von 1878 hinsichtlich Bosniens und der
Herzegowina so aufzufassen, daß für Rußland nach den mancherlei bereits geschehenen
und von den Mächten gutgeheißnen Durchlöcherungen des erwähnten Vertrages
kein besondrer Grund zu einem scharfe» Protest und zur Ermutigung der serbischen
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