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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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volksstiminung

Preußischen Jahrbüchern treffend aus: "Der deutsche Reichstag ist nicht deshalb
von einer geringern Bedeutung als andre Parlamente, weil gewisse Paragraphen
ihm mehr oder weniger Rechte verleihn, sondern weil er keine Majorität hat
und haben kann, die imstande wäre, eine Regierung zu bilden.... In dem
Augenblick, wo eine solche Majorität vorhanden wäre, wäre alles anders, ganz
gleichgiltig, was in der Reichsverfassung steht oder noch hineingesetzt wird."
Der sogenannte Block ist seit dem Kartellreichstag Bismarcks von 1887 der
erste, jetzt vom Fürsten Bülow eingeleitete Versuch, eine solche Mehrheit zu
schaffen, und die Einsicht in dieses Verhältnis scheint auch der Beweggrund
gewesen zu sein, der die Mehrheitsparteien veranlaßt hat, die mehrfach erwähnten
Debatten von ihrer anfänglichen Richtung ab- und auf Nebengeleise zu leiten.
Die Furcht, in den Augen des Volks nicht liberal genug zu erscheinen, hat
außerdem mit auf diese Abwege geführt.

Die wirkliche Volksstimmung legt darauf aber wenig Wert, denn sie entsteht
nicht aus dem üblichen Versammlungsmilieu. Sie hat den gegenwärtigen
Reichstag nicht darum gegen die Sozialdemokratie heraus gerümpft, damit
Parteitifteleien fortgesetzt werden. Sie will Taten sehen zugunsten der See¬
politik und überhaupt zum Nutzen des Reichs. Sie würde auch harte Steuer¬
gesetze zum Zweck der Finanzreform ruhig hingenommen haben in der Überzeugung,
daß es nun einmal nicht anders sein kann, aber diese müssen entstehn durch eine
rasche Tat. Der in der Generaldebatte zutage geförderte, auf das allgemeine
Leitmotiv gestimmte Gedankengang: Wir bitten dich, heiliger Florian, schütz
unser Haus, zünd andre an -- wird möglichenfalls einigen Parteien -- zu
allermeist der Sozialdemokratie -- zugute kommen, aber das Ansehn auch dieses
Reichstags gründlich untergraben, wenn er weiter für die Behandlung der
Finanzreform gelten sollte. Taten will die Volksstimmung sehn, nicht zwei¬
stündige Reden hören. Die hat sie bei den frühern Reichstagen genugsam gehabt,
wogegen sie alle Jahrzehnte einmal von der Reichsregierung aufgerufen werden
mußte. Auf dem jetzt eiugeschlagnen Wege liegt das Ziel nicht, das in der so
wünschenswerten Zunahme des reichstaglichen Ansehns besteht. Die jetzige
Reichstagsmehrheit ist für eine klar bestimmte Richtung der Politik gewählt
worden, und diese hat durch die Kaiserdebatten keine Ablenkung erfahren.
Demnach wird sich der Reichstag nach der umfangreichen Kritik der Regierungs¬
vorlagen im neuen Jahre zur Durchführung der Reichsfinanzreform bequemen
müssen, der die Volksstimmung noch freundlich, noch ungetrübt durch die eifrigen
Gegenagitationen der mannigfaltigen Interessentengruppen gegenübersteht. Je
länger der Reichstag diesen Agitationen Raum läßt, desto mehr wird die Volks¬
stimmung darunter leiden und die Sozialdemokratie Vorteil ziehn. Darüber
sollten sich doch gerade die gegen die Sozialdemokraten gewählten Abgeordneten
klar sein. Sollte auch dieser von einer so warmen Volksstimmung geschaffne
Reichstag versagen, so dürfte er ein politisches Trümmerfeld hinterlassen, das
das von Herrn Naumann geschilderte noch übertreffen würde.


volksstiminung

Preußischen Jahrbüchern treffend aus: „Der deutsche Reichstag ist nicht deshalb
von einer geringern Bedeutung als andre Parlamente, weil gewisse Paragraphen
ihm mehr oder weniger Rechte verleihn, sondern weil er keine Majorität hat
und haben kann, die imstande wäre, eine Regierung zu bilden.... In dem
Augenblick, wo eine solche Majorität vorhanden wäre, wäre alles anders, ganz
gleichgiltig, was in der Reichsverfassung steht oder noch hineingesetzt wird."
Der sogenannte Block ist seit dem Kartellreichstag Bismarcks von 1887 der
erste, jetzt vom Fürsten Bülow eingeleitete Versuch, eine solche Mehrheit zu
schaffen, und die Einsicht in dieses Verhältnis scheint auch der Beweggrund
gewesen zu sein, der die Mehrheitsparteien veranlaßt hat, die mehrfach erwähnten
Debatten von ihrer anfänglichen Richtung ab- und auf Nebengeleise zu leiten.
Die Furcht, in den Augen des Volks nicht liberal genug zu erscheinen, hat
außerdem mit auf diese Abwege geführt.

Die wirkliche Volksstimmung legt darauf aber wenig Wert, denn sie entsteht
nicht aus dem üblichen Versammlungsmilieu. Sie hat den gegenwärtigen
Reichstag nicht darum gegen die Sozialdemokratie heraus gerümpft, damit
Parteitifteleien fortgesetzt werden. Sie will Taten sehen zugunsten der See¬
politik und überhaupt zum Nutzen des Reichs. Sie würde auch harte Steuer¬
gesetze zum Zweck der Finanzreform ruhig hingenommen haben in der Überzeugung,
daß es nun einmal nicht anders sein kann, aber diese müssen entstehn durch eine
rasche Tat. Der in der Generaldebatte zutage geförderte, auf das allgemeine
Leitmotiv gestimmte Gedankengang: Wir bitten dich, heiliger Florian, schütz
unser Haus, zünd andre an — wird möglichenfalls einigen Parteien — zu
allermeist der Sozialdemokratie — zugute kommen, aber das Ansehn auch dieses
Reichstags gründlich untergraben, wenn er weiter für die Behandlung der
Finanzreform gelten sollte. Taten will die Volksstimmung sehn, nicht zwei¬
stündige Reden hören. Die hat sie bei den frühern Reichstagen genugsam gehabt,
wogegen sie alle Jahrzehnte einmal von der Reichsregierung aufgerufen werden
mußte. Auf dem jetzt eiugeschlagnen Wege liegt das Ziel nicht, das in der so
wünschenswerten Zunahme des reichstaglichen Ansehns besteht. Die jetzige
Reichstagsmehrheit ist für eine klar bestimmte Richtung der Politik gewählt
worden, und diese hat durch die Kaiserdebatten keine Ablenkung erfahren.
Demnach wird sich der Reichstag nach der umfangreichen Kritik der Regierungs¬
vorlagen im neuen Jahre zur Durchführung der Reichsfinanzreform bequemen
müssen, der die Volksstimmung noch freundlich, noch ungetrübt durch die eifrigen
Gegenagitationen der mannigfaltigen Interessentengruppen gegenübersteht. Je
länger der Reichstag diesen Agitationen Raum läßt, desto mehr wird die Volks¬
stimmung darunter leiden und die Sozialdemokratie Vorteil ziehn. Darüber
sollten sich doch gerade die gegen die Sozialdemokraten gewählten Abgeordneten
klar sein. Sollte auch dieser von einer so warmen Volksstimmung geschaffne
Reichstag versagen, so dürfte er ein politisches Trümmerfeld hinterlassen, das
das von Herrn Naumann geschilderte noch übertreffen würde.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/180>, abgerufen am 12.12.2024.