Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.Deutsch - slawische Beziehungen das nationale Unglück seinerzeit die empfindlichsten Seiten der Volksseele Von Mickiewicz bis Wyspicmski, der kürzlich im Alter von sechsunddreißig Doch ein den Polen gütiges Geschick hat es gefügt, daß sich neben dem Bd. ZI meines Buches: Die Zukunft Polens. Verlng von Fr. Wilh. Grunow,
Leipzig, 1909. Deutsch - slawische Beziehungen das nationale Unglück seinerzeit die empfindlichsten Seiten der Volksseele Von Mickiewicz bis Wyspicmski, der kürzlich im Alter von sechsunddreißig Doch ein den Polen gütiges Geschick hat es gefügt, daß sich neben dem Bd. ZI meines Buches: Die Zukunft Polens. Verlng von Fr. Wilh. Grunow,
Leipzig, 1909. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312369"/> <fw type="header" place="top"> Deutsch - slawische Beziehungen</fw><lb/> <p xml:id="ID_42" prev="#ID_41"> das nationale Unglück seinerzeit die empfindlichsten Seiten der Volksseele<lb/> geweckt, und aus der Tiefe der zermarterten Brust klingen jene gewaltigen<lb/> Töne der Liebe und des Hasses, die nun schon bald ein Jahrhundert hindurch<lb/> die politische Welt beunruhigen.</p><lb/> <p xml:id="ID_43"> Von Mickiewicz bis Wyspicmski, der kürzlich im Alter von sechsunddreißig<lb/> Jahren starb, geht eine fast ununterbrochne Reihe von Dichtern, die im<lb/> polnischen Volke die Kulturfähigkeiten geweckt und gestärkt haben. Ich nenne<lb/> nur die Dichter Stowacki, Krassinski, Sienkiewicz, Elise Orzeszko und nun die<lb/> Renaisseancenatur Wyspicmski, die mit gleicher Kunst die Leier schlug, deu<lb/> Pinsel und den Meißel führte. Die Reihe hervorragender Dichter unter den<lb/> Polen läßt sich vermehren, aber nur wenige sind unter ihnen, die ihre Kunst<lb/> nicht in den Dienst der Nation als politisches Kampfmittel gestellt hätten.<lb/> Das ist eine wichtige Seite der Kultur, über die ja auch andre Völker, be¬<lb/> sonders die Russen, verfügen, die aber nirgends so fein und vielseitig ausge¬<lb/> staltet wurde wie gerade bei den Polen. Doch es liegt Gift in dieser Poesie.<lb/> Mickiewicz hat es gestreut. Unter dem Eindruck der Verfolgungen, der er als<lb/> Mitglied der litauischen Geheimgesellschaften zu erleiden hatte, und angeregt<lb/> durch die Lektüre von Macchiavells II ?rwvixe schrieb er, wie der Pole<lb/> Bruckner sagt: das grandioseste Gedicht politischen Hasses, sein Epos Konrad<lb/> Wallenrod. Mickiewicz erhebt in diesem Epos die Gemeinheit, den Verrat<lb/> zum Recht, ja zur Pflicht jedes Besiegte», jedes Schwachen. Ich habe<lb/> diese Auffassung an andrer Stelle ausführlich begründet.*) Er hat damit<lb/> die Basis der polnischen Moral festgelegt, die uns nicht nur im politischen<lb/> Leben, sondern auch überall im öffentlichen und privaten Leben begegnet.<lb/> Schon Stowacki stellte fest, Mickiewicz habe aus einem Schurken tausend ge¬<lb/> macht, was soviel heißen soll, daß Mickiewicz das sittliche Bewußtsein seiner<lb/> Nation verdorben habe. Der Boden für die Theorie des Dichters war denkbar<lb/> gut vorbereitet. Das polnische Volk war mehr als ein Jahrhundert lang durch<lb/> die Jesuiten erzogen worden.</p><lb/> <p xml:id="ID_44" next="#ID_45"> Doch ein den Polen gütiges Geschick hat es gefügt, daß sich neben dem<lb/> Haß gegen die stärkern Nachbarn mich das soziale Empfinden einstellen und<lb/> entwickeln konnte. Aber es war kein Slawe, der die Liebe zum Volksgenossen<lb/> ohne Unterschied predigte, sondern ein Deutscher, der Professor Lelewel,<lb/> ein Sohn der Familie Loelöffel. Wie leider so viele unsrer Stammesgenossen<lb/> hatte Lelewel unter den Polen das Bewußtsein für seine Stammeszugehörigkeit<lb/> verloren, und in der Einbildung, Pole, Slawe zu sein, hat er den Polen das<lb/> Beste gegeben, worüber wir verfügen — das christliche Menschheitsideal, das<lb/> in Rom verloren ging und durch den Wittenberger Mönch von neuem in<lb/> seinem herrlichen Glänze vor die Menschheit gestellt worden war. Dem Einfluß</p><lb/> <note xml:id="FID_5" place="foot"> Bd. ZI meines Buches: Die Zukunft Polens. Verlng von Fr. Wilh. Grunow,<lb/> Leipzig, 1909.</note><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0018]
Deutsch - slawische Beziehungen
das nationale Unglück seinerzeit die empfindlichsten Seiten der Volksseele
geweckt, und aus der Tiefe der zermarterten Brust klingen jene gewaltigen
Töne der Liebe und des Hasses, die nun schon bald ein Jahrhundert hindurch
die politische Welt beunruhigen.
Von Mickiewicz bis Wyspicmski, der kürzlich im Alter von sechsunddreißig
Jahren starb, geht eine fast ununterbrochne Reihe von Dichtern, die im
polnischen Volke die Kulturfähigkeiten geweckt und gestärkt haben. Ich nenne
nur die Dichter Stowacki, Krassinski, Sienkiewicz, Elise Orzeszko und nun die
Renaisseancenatur Wyspicmski, die mit gleicher Kunst die Leier schlug, deu
Pinsel und den Meißel führte. Die Reihe hervorragender Dichter unter den
Polen läßt sich vermehren, aber nur wenige sind unter ihnen, die ihre Kunst
nicht in den Dienst der Nation als politisches Kampfmittel gestellt hätten.
Das ist eine wichtige Seite der Kultur, über die ja auch andre Völker, be¬
sonders die Russen, verfügen, die aber nirgends so fein und vielseitig ausge¬
staltet wurde wie gerade bei den Polen. Doch es liegt Gift in dieser Poesie.
Mickiewicz hat es gestreut. Unter dem Eindruck der Verfolgungen, der er als
Mitglied der litauischen Geheimgesellschaften zu erleiden hatte, und angeregt
durch die Lektüre von Macchiavells II ?rwvixe schrieb er, wie der Pole
Bruckner sagt: das grandioseste Gedicht politischen Hasses, sein Epos Konrad
Wallenrod. Mickiewicz erhebt in diesem Epos die Gemeinheit, den Verrat
zum Recht, ja zur Pflicht jedes Besiegte», jedes Schwachen. Ich habe
diese Auffassung an andrer Stelle ausführlich begründet.*) Er hat damit
die Basis der polnischen Moral festgelegt, die uns nicht nur im politischen
Leben, sondern auch überall im öffentlichen und privaten Leben begegnet.
Schon Stowacki stellte fest, Mickiewicz habe aus einem Schurken tausend ge¬
macht, was soviel heißen soll, daß Mickiewicz das sittliche Bewußtsein seiner
Nation verdorben habe. Der Boden für die Theorie des Dichters war denkbar
gut vorbereitet. Das polnische Volk war mehr als ein Jahrhundert lang durch
die Jesuiten erzogen worden.
Doch ein den Polen gütiges Geschick hat es gefügt, daß sich neben dem
Haß gegen die stärkern Nachbarn mich das soziale Empfinden einstellen und
entwickeln konnte. Aber es war kein Slawe, der die Liebe zum Volksgenossen
ohne Unterschied predigte, sondern ein Deutscher, der Professor Lelewel,
ein Sohn der Familie Loelöffel. Wie leider so viele unsrer Stammesgenossen
hatte Lelewel unter den Polen das Bewußtsein für seine Stammeszugehörigkeit
verloren, und in der Einbildung, Pole, Slawe zu sein, hat er den Polen das
Beste gegeben, worüber wir verfügen — das christliche Menschheitsideal, das
in Rom verloren ging und durch den Wittenberger Mönch von neuem in
seinem herrlichen Glänze vor die Menschheit gestellt worden war. Dem Einfluß
Bd. ZI meines Buches: Die Zukunft Polens. Verlng von Fr. Wilh. Grunow,
Leipzig, 1909.
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