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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Volksstimmung

Bismarcks ist. Es mag nun freilich ein Fehler des deutschen Volkes sein,
sich politisch von einer Art von Genius leiten zu lassen, jedenfalls ist aber
auf absehbare Zeit dieser Genius sicher nicht der des Parlaments. Diese
Hinweise sind durchaus angebracht in unsern Tagen, in denen behauptet
worden ist, es sei ein großer parlamentarischer Erfolg errungen worden. Man
mag das in den oben angedeuteten Kreisen glauben, in denen man sogar be¬
hauptet hat, es habe sich eine tiefe Kluft zwischen dem Monarchen und dem
Volke aufgetan. Das wäre selbstverständlich sehr schlimm, was aber jene
wirkliche Volksstimmung betrifft, wie sie sich bei den letzten Reichstagswahlen
kundgegeben hat, so ist es bei ihr in keinem nennenswerten Umfang der Fall.
Möglich, daß die Sozialdemokraten wieder eine Stärkung erfahren haben,
diese würde aber bei künftigen Wahlen nur auf Kosten der Liberalen zum
Ausdruck kommen und das Weiterbestehn des sogenannten Blocks in Frage
stellen. In gewissen parlamentarischen Kreisen scheint man nicht in Rechnung
gezogen zu haben, daß die Ausschreitungen der Reichstagsdebatten auf die
Volksstimmung den Eindruck einer Herabsetzung des Kaisers, namentlich vor
dem Auslande, gemacht haben, und noch dazu in einem Falle, in dem ihn
formell keine Schuld traf, die lediglich auf feiten des Auswärtigen Amts lag.
Auch der mehrfach mit Genuß wiederholte Kommiswitz über die "Regierung
im Umherziehen" wird die Wirkung verfehlen auf alle jene Teile der Be¬
völkerung, die sich freuen, den Kaiser einmal in ihrer Heimat persönlich be¬
grüßen zu können. Denn trotz zwanzigjähriger Anfeindung durch die ver-
breitetsten Blätter erscheint er ihnen doch als der wirkliche Kriegsherr, als
der Schöpfer der populären Flotte, als der unermüdliche Arbeiter, als das
Muster eines deutschen Familienvaters und nicht zuletzt als das Oberhaupt
des jungen Reichs, das er so würdig zu repräsentieren versteht. Ob das in
eine berechtigte oder unberechtigte parlamentarische Formel paßt, ficht die Volks¬
stimmung wenig an, aber Hurrapatrioten, die sich nur vordrängen möchten,
sind die nicht, die so denken.

So irrige Auffassungen können auch allem bei Leuten entsteh", die nur
"zwischen Häusern und Zeitungen" leben, deren gesamtes Treiben und Schreiben
seit Jahren nach ausländischen Mustern einen Zug angenommen hat, den
Bismarck mit der Bezeichnung "kryptorepublikanisch" belegte, und die, weil
sie in ihrem engen Kreise immer wieder auf die eigne Meinung stoßen, in
den Irrtum verfallen sind, das wäre die Volksstimmung. Die ist ganz
anders. König Friedrich August hat auch mit der gravitätischen Form seiner
Vorfahren gebrochen, bereist fleißig sein Land und erfreut seine Sachsen durch
wohlwollende und patriotisch anregende Ansprachen. Daran hat noch niemand
Anstoß genommen, man freut sich vielmehr darüber. Warum soll das der
Kaiser nicht auch können und dürfen? Bismarck sagte schon am .27. No¬
vember 1381 im Reichstage: "Es wird Ihnen nicht gelingen, dem Kaiser
Wilhelm im Deutschen Reich zu verbieten, daß er zu seinem Volke spricht." Ein


Volksstimmung

Bismarcks ist. Es mag nun freilich ein Fehler des deutschen Volkes sein,
sich politisch von einer Art von Genius leiten zu lassen, jedenfalls ist aber
auf absehbare Zeit dieser Genius sicher nicht der des Parlaments. Diese
Hinweise sind durchaus angebracht in unsern Tagen, in denen behauptet
worden ist, es sei ein großer parlamentarischer Erfolg errungen worden. Man
mag das in den oben angedeuteten Kreisen glauben, in denen man sogar be¬
hauptet hat, es habe sich eine tiefe Kluft zwischen dem Monarchen und dem
Volke aufgetan. Das wäre selbstverständlich sehr schlimm, was aber jene
wirkliche Volksstimmung betrifft, wie sie sich bei den letzten Reichstagswahlen
kundgegeben hat, so ist es bei ihr in keinem nennenswerten Umfang der Fall.
Möglich, daß die Sozialdemokraten wieder eine Stärkung erfahren haben,
diese würde aber bei künftigen Wahlen nur auf Kosten der Liberalen zum
Ausdruck kommen und das Weiterbestehn des sogenannten Blocks in Frage
stellen. In gewissen parlamentarischen Kreisen scheint man nicht in Rechnung
gezogen zu haben, daß die Ausschreitungen der Reichstagsdebatten auf die
Volksstimmung den Eindruck einer Herabsetzung des Kaisers, namentlich vor
dem Auslande, gemacht haben, und noch dazu in einem Falle, in dem ihn
formell keine Schuld traf, die lediglich auf feiten des Auswärtigen Amts lag.
Auch der mehrfach mit Genuß wiederholte Kommiswitz über die „Regierung
im Umherziehen" wird die Wirkung verfehlen auf alle jene Teile der Be¬
völkerung, die sich freuen, den Kaiser einmal in ihrer Heimat persönlich be¬
grüßen zu können. Denn trotz zwanzigjähriger Anfeindung durch die ver-
breitetsten Blätter erscheint er ihnen doch als der wirkliche Kriegsherr, als
der Schöpfer der populären Flotte, als der unermüdliche Arbeiter, als das
Muster eines deutschen Familienvaters und nicht zuletzt als das Oberhaupt
des jungen Reichs, das er so würdig zu repräsentieren versteht. Ob das in
eine berechtigte oder unberechtigte parlamentarische Formel paßt, ficht die Volks¬
stimmung wenig an, aber Hurrapatrioten, die sich nur vordrängen möchten,
sind die nicht, die so denken.

So irrige Auffassungen können auch allem bei Leuten entsteh», die nur
„zwischen Häusern und Zeitungen" leben, deren gesamtes Treiben und Schreiben
seit Jahren nach ausländischen Mustern einen Zug angenommen hat, den
Bismarck mit der Bezeichnung „kryptorepublikanisch" belegte, und die, weil
sie in ihrem engen Kreise immer wieder auf die eigne Meinung stoßen, in
den Irrtum verfallen sind, das wäre die Volksstimmung. Die ist ganz
anders. König Friedrich August hat auch mit der gravitätischen Form seiner
Vorfahren gebrochen, bereist fleißig sein Land und erfreut seine Sachsen durch
wohlwollende und patriotisch anregende Ansprachen. Daran hat noch niemand
Anstoß genommen, man freut sich vielmehr darüber. Warum soll das der
Kaiser nicht auch können und dürfen? Bismarck sagte schon am .27. No¬
vember 1381 im Reichstage: „Es wird Ihnen nicht gelingen, dem Kaiser
Wilhelm im Deutschen Reich zu verbieten, daß er zu seinem Volke spricht." Ein


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[0178] Volksstimmung Bismarcks ist. Es mag nun freilich ein Fehler des deutschen Volkes sein, sich politisch von einer Art von Genius leiten zu lassen, jedenfalls ist aber auf absehbare Zeit dieser Genius sicher nicht der des Parlaments. Diese Hinweise sind durchaus angebracht in unsern Tagen, in denen behauptet worden ist, es sei ein großer parlamentarischer Erfolg errungen worden. Man mag das in den oben angedeuteten Kreisen glauben, in denen man sogar be¬ hauptet hat, es habe sich eine tiefe Kluft zwischen dem Monarchen und dem Volke aufgetan. Das wäre selbstverständlich sehr schlimm, was aber jene wirkliche Volksstimmung betrifft, wie sie sich bei den letzten Reichstagswahlen kundgegeben hat, so ist es bei ihr in keinem nennenswerten Umfang der Fall. Möglich, daß die Sozialdemokraten wieder eine Stärkung erfahren haben, diese würde aber bei künftigen Wahlen nur auf Kosten der Liberalen zum Ausdruck kommen und das Weiterbestehn des sogenannten Blocks in Frage stellen. In gewissen parlamentarischen Kreisen scheint man nicht in Rechnung gezogen zu haben, daß die Ausschreitungen der Reichstagsdebatten auf die Volksstimmung den Eindruck einer Herabsetzung des Kaisers, namentlich vor dem Auslande, gemacht haben, und noch dazu in einem Falle, in dem ihn formell keine Schuld traf, die lediglich auf feiten des Auswärtigen Amts lag. Auch der mehrfach mit Genuß wiederholte Kommiswitz über die „Regierung im Umherziehen" wird die Wirkung verfehlen auf alle jene Teile der Be¬ völkerung, die sich freuen, den Kaiser einmal in ihrer Heimat persönlich be¬ grüßen zu können. Denn trotz zwanzigjähriger Anfeindung durch die ver- breitetsten Blätter erscheint er ihnen doch als der wirkliche Kriegsherr, als der Schöpfer der populären Flotte, als der unermüdliche Arbeiter, als das Muster eines deutschen Familienvaters und nicht zuletzt als das Oberhaupt des jungen Reichs, das er so würdig zu repräsentieren versteht. Ob das in eine berechtigte oder unberechtigte parlamentarische Formel paßt, ficht die Volks¬ stimmung wenig an, aber Hurrapatrioten, die sich nur vordrängen möchten, sind die nicht, die so denken. So irrige Auffassungen können auch allem bei Leuten entsteh», die nur „zwischen Häusern und Zeitungen" leben, deren gesamtes Treiben und Schreiben seit Jahren nach ausländischen Mustern einen Zug angenommen hat, den Bismarck mit der Bezeichnung „kryptorepublikanisch" belegte, und die, weil sie in ihrem engen Kreise immer wieder auf die eigne Meinung stoßen, in den Irrtum verfallen sind, das wäre die Volksstimmung. Die ist ganz anders. König Friedrich August hat auch mit der gravitätischen Form seiner Vorfahren gebrochen, bereist fleißig sein Land und erfreut seine Sachsen durch wohlwollende und patriotisch anregende Ansprachen. Daran hat noch niemand Anstoß genommen, man freut sich vielmehr darüber. Warum soll das der Kaiser nicht auch können und dürfen? Bismarck sagte schon am .27. No¬ vember 1381 im Reichstage: „Es wird Ihnen nicht gelingen, dem Kaiser Wilhelm im Deutschen Reich zu verbieten, daß er zu seinem Volke spricht." Ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/178>, abgerufen am 12.12.2024.