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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Volksstimmung

lande entlehnten Formen und leitenden Gedanken weiter beibehalten. Nach
ihnen sieht es immer so aus, als ob wir eigentlich eine parlamentarische
Regierung hätten, obgleich bis auf die letzten Tage jede direkte Anspielung
darauf sorgfältig vermieden wurde.

Hinterher haben verschiedne Parteien auch versucht, das Andenken Bis-
marcks -- das einzige politische Gefühl, an das damals in allen den noch
nicht für die Sozialdemokratie reif gemachten Kreisen des deutschen Volkes
appelliert werden konnte -- für ihre Zwecke nutzbar zu machen, es gründete
sich sogar förmlich eine neue Zeitungsindustrie darauf.

Seit Bismarck ist das deutsche Denken nochmals verändert worden durch
Kaiser Wilhelm den Zweiten, der auf unsre Zukunft ans dem Wasser
hingewiesen hat. Es ist in den Grenzboten schon dargelegt worden, auf
welchen Wegen dieser Gedanke mehr und mehr Wurzel im Volke geschlagen
hat und bereits ausschlaggebend geworden ist, wie die letzten Reichstags¬
wahlen bewiesen haben. Die gedruckte öffentliche Meinung hat dafür so gut
wie nichts getan, sondern längere Zeit versucht, von einer kaiserlichen Laune
und ähnlichem zu sprechen. Man kann Wohl bei der Verschiedenheit der
Auffassungen nur in wenigen Fragen von einem eigentlichen Volkswillen
sprechen, was aber die deutsche Seepolitik betrifft, so läßt sich nicht bestreiten,
daß dafür eine deutlich ausgesprochne Volksstimmung besteht. Seit Jahren
schon ist diese lebhafte Stimmung für die Geltung Deutschlands zur See
vorhanden, und die laue Behandlung der Flotten- und Kolonialangelegen¬
heiten in frühern Reichstagen war immer auf Befremden und Mißstimmung
gestoßen. Dagegen gewann die frische und energische Erscheinung des Kaisers,
und die unaufhörlichen Kritiken und "parlamentarischen" Auslegungen der
Zeitungen gegen ihn sind bis heute ohne Wirkung auf die Volksstimmung
geblieben. Man hat im Volke immer klar unterschieden, daß aus den Worten
auf der einen Seite Tatkraft und ideales deutsches Streben, aus denen auf
der andern Seite nur die graue Theorie sprach, von der das Vaterland
bisher wenig gehabt und in Zukunft noch weniger zu erwarten hat. Es
handelt sich dabei durchaus nicht um den sogenannten Hurrapatriotismus,
sondern um eine ganz unverkennbare Äußerung des Volksinstinkts. Man
kann seit einem halben Jahrhundert und darüber eine doppelte Strömung im
deutschen Volke verfolgen: eine geräuschvolle, hergebrachte, oberflächliche der
Zeitungen und Berufsparlamentarier, die nur in einem Teile -- vielleicht
der Mehrheit -- der sogenannten Intellektuellen zu Hause ist, und eine tiefere,
rein nationale Grundstimmung, der in der Gegenwart der Reichstag nur
imponiert, wenn er mit Kaiser und Kanzler geht. Es säßen heute viele
Liberale nicht im Reichstage, wenn diese Grundstimmung nicht vorhanden ge¬
wesen wäre.

Man begeht wohl kaum einen Irrtum, wenn man annimmt, daß diese
gegenwärtige Volksstimmung eine Erbschaft, ein Niederschlag aus der Zeit


Volksstimmung

lande entlehnten Formen und leitenden Gedanken weiter beibehalten. Nach
ihnen sieht es immer so aus, als ob wir eigentlich eine parlamentarische
Regierung hätten, obgleich bis auf die letzten Tage jede direkte Anspielung
darauf sorgfältig vermieden wurde.

Hinterher haben verschiedne Parteien auch versucht, das Andenken Bis-
marcks — das einzige politische Gefühl, an das damals in allen den noch
nicht für die Sozialdemokratie reif gemachten Kreisen des deutschen Volkes
appelliert werden konnte — für ihre Zwecke nutzbar zu machen, es gründete
sich sogar förmlich eine neue Zeitungsindustrie darauf.

Seit Bismarck ist das deutsche Denken nochmals verändert worden durch
Kaiser Wilhelm den Zweiten, der auf unsre Zukunft ans dem Wasser
hingewiesen hat. Es ist in den Grenzboten schon dargelegt worden, auf
welchen Wegen dieser Gedanke mehr und mehr Wurzel im Volke geschlagen
hat und bereits ausschlaggebend geworden ist, wie die letzten Reichstags¬
wahlen bewiesen haben. Die gedruckte öffentliche Meinung hat dafür so gut
wie nichts getan, sondern längere Zeit versucht, von einer kaiserlichen Laune
und ähnlichem zu sprechen. Man kann Wohl bei der Verschiedenheit der
Auffassungen nur in wenigen Fragen von einem eigentlichen Volkswillen
sprechen, was aber die deutsche Seepolitik betrifft, so läßt sich nicht bestreiten,
daß dafür eine deutlich ausgesprochne Volksstimmung besteht. Seit Jahren
schon ist diese lebhafte Stimmung für die Geltung Deutschlands zur See
vorhanden, und die laue Behandlung der Flotten- und Kolonialangelegen¬
heiten in frühern Reichstagen war immer auf Befremden und Mißstimmung
gestoßen. Dagegen gewann die frische und energische Erscheinung des Kaisers,
und die unaufhörlichen Kritiken und „parlamentarischen" Auslegungen der
Zeitungen gegen ihn sind bis heute ohne Wirkung auf die Volksstimmung
geblieben. Man hat im Volke immer klar unterschieden, daß aus den Worten
auf der einen Seite Tatkraft und ideales deutsches Streben, aus denen auf
der andern Seite nur die graue Theorie sprach, von der das Vaterland
bisher wenig gehabt und in Zukunft noch weniger zu erwarten hat. Es
handelt sich dabei durchaus nicht um den sogenannten Hurrapatriotismus,
sondern um eine ganz unverkennbare Äußerung des Volksinstinkts. Man
kann seit einem halben Jahrhundert und darüber eine doppelte Strömung im
deutschen Volke verfolgen: eine geräuschvolle, hergebrachte, oberflächliche der
Zeitungen und Berufsparlamentarier, die nur in einem Teile — vielleicht
der Mehrheit — der sogenannten Intellektuellen zu Hause ist, und eine tiefere,
rein nationale Grundstimmung, der in der Gegenwart der Reichstag nur
imponiert, wenn er mit Kaiser und Kanzler geht. Es säßen heute viele
Liberale nicht im Reichstage, wenn diese Grundstimmung nicht vorhanden ge¬
wesen wäre.

Man begeht wohl kaum einen Irrtum, wenn man annimmt, daß diese
gegenwärtige Volksstimmung eine Erbschaft, ein Niederschlag aus der Zeit


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[0177] Volksstimmung lande entlehnten Formen und leitenden Gedanken weiter beibehalten. Nach ihnen sieht es immer so aus, als ob wir eigentlich eine parlamentarische Regierung hätten, obgleich bis auf die letzten Tage jede direkte Anspielung darauf sorgfältig vermieden wurde. Hinterher haben verschiedne Parteien auch versucht, das Andenken Bis- marcks — das einzige politische Gefühl, an das damals in allen den noch nicht für die Sozialdemokratie reif gemachten Kreisen des deutschen Volkes appelliert werden konnte — für ihre Zwecke nutzbar zu machen, es gründete sich sogar förmlich eine neue Zeitungsindustrie darauf. Seit Bismarck ist das deutsche Denken nochmals verändert worden durch Kaiser Wilhelm den Zweiten, der auf unsre Zukunft ans dem Wasser hingewiesen hat. Es ist in den Grenzboten schon dargelegt worden, auf welchen Wegen dieser Gedanke mehr und mehr Wurzel im Volke geschlagen hat und bereits ausschlaggebend geworden ist, wie die letzten Reichstags¬ wahlen bewiesen haben. Die gedruckte öffentliche Meinung hat dafür so gut wie nichts getan, sondern längere Zeit versucht, von einer kaiserlichen Laune und ähnlichem zu sprechen. Man kann Wohl bei der Verschiedenheit der Auffassungen nur in wenigen Fragen von einem eigentlichen Volkswillen sprechen, was aber die deutsche Seepolitik betrifft, so läßt sich nicht bestreiten, daß dafür eine deutlich ausgesprochne Volksstimmung besteht. Seit Jahren schon ist diese lebhafte Stimmung für die Geltung Deutschlands zur See vorhanden, und die laue Behandlung der Flotten- und Kolonialangelegen¬ heiten in frühern Reichstagen war immer auf Befremden und Mißstimmung gestoßen. Dagegen gewann die frische und energische Erscheinung des Kaisers, und die unaufhörlichen Kritiken und „parlamentarischen" Auslegungen der Zeitungen gegen ihn sind bis heute ohne Wirkung auf die Volksstimmung geblieben. Man hat im Volke immer klar unterschieden, daß aus den Worten auf der einen Seite Tatkraft und ideales deutsches Streben, aus denen auf der andern Seite nur die graue Theorie sprach, von der das Vaterland bisher wenig gehabt und in Zukunft noch weniger zu erwarten hat. Es handelt sich dabei durchaus nicht um den sogenannten Hurrapatriotismus, sondern um eine ganz unverkennbare Äußerung des Volksinstinkts. Man kann seit einem halben Jahrhundert und darüber eine doppelte Strömung im deutschen Volke verfolgen: eine geräuschvolle, hergebrachte, oberflächliche der Zeitungen und Berufsparlamentarier, die nur in einem Teile — vielleicht der Mehrheit — der sogenannten Intellektuellen zu Hause ist, und eine tiefere, rein nationale Grundstimmung, der in der Gegenwart der Reichstag nur imponiert, wenn er mit Kaiser und Kanzler geht. Es säßen heute viele Liberale nicht im Reichstage, wenn diese Grundstimmung nicht vorhanden ge¬ wesen wäre. Man begeht wohl kaum einen Irrtum, wenn man annimmt, daß diese gegenwärtige Volksstimmung eine Erbschaft, ein Niederschlag aus der Zeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/177>, abgerufen am 23.07.2024.