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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Bertha von Suttner

Eine grundsätzliche kritische Wertung dieser Bewegung, die hier nicht
beabsichtigt ist, könnte gut an die Briefe von Gumplowicz und Carreri an¬
knüpfen. Der jüngere Gumplowicz saß wegen anarchistischer Äußerungen in
Plötzensee. Die Baronin veranstaltete eine Sympathiekundgebung für ihn.
Das veranlaßte einen Briefwechsel mit seinem Vater, dem sehr konservativen
Grazer Professor. "Ich soll Ihnen, schrieb dieser, meine Ansicht sagen über
Ihren Artikel "Zweierlei Moral", womit ich zugleich meine Ansicht äußern
müßte über Ihre ganze Friedensphilosophie. Ich will Ihnen einen Gegen¬
vorschlag machen: werfen Sie mich lieber gleich mit dem abscheulichen Sighele
in einen Topf und lassen Sie diese schlechten Kerls von Professoren ganz
beiseite -- es ist mit ihnen nichts anzufangen. Die verderben Ihnen nur
den Humor, Ihren edelsten Lebensgenuß." Er sei weit entfernt davon, ihr
das Bild zu Sais entschleiern, sie bekehren zu wollen; weit lieber würde er
sich von ihr bekehren lassen, wenn das möglich wäre. Der Unterschied
zwischen der Wissenschaft und den Weltverbesserern bestehe darin, daß jene
Tatsachen konstatiere, diese predigten, wie die Welt sein soll, die Welt
anders machen wollten, als sie Gott geschaffen hat. So sei ja auch sein Sohn
in Plötzensee gesinnt. Es entrüste ihn, daß der Staat, der über Brot in
Hülle und Fülle verfüge, so unmoralisch sein könne, die Arbeitlosen darben
zu lassen, und habe darum diesen Staat eine organisierte Räuberbande ge¬
scholten. Und weil sein Enthusiasmus ihn sogar auch im Gefängnisse noch
beglücke, werde er, der Vater, sich hüten, ihn darin irrezumachen. "Ver¬
folgen Sie, hochgeehrte Frau Baronin, ruhig Ihren Weg, kümmern Sie sich
nicht um die Sigheles, lesen Sie nicht den "Nassenkampf" des Gumplowicz,
das könnte Ihnen trübe Stunden bereiten, und bleiben Sie stets, was Sie
sind: die Vorkämpferin einer schönen Idee! Um es aber bleiben zu können,
bewahren Sie sich stets die Überzeugung, daß diese Idee die Wahrheit, die
eine und einzige ist! Und diesen Glauben möge kein Professorengeschwätz
Ihnen je rauben." Daß Menschen verschiedner geistiger Richtungen einander
nicht bekehren können, ist richtig, aber daß es die Wissenschaft bloß mit Tat¬
sachen und gar nicht mit dem, was sein soll, zu tun habe, ist nicht wahr,
denn es gibt bekanntlich auch eine Ethik, und die Frage, ob und wieweit
die Ethik auch für den Staat und für den Völkerverkehr gelte, ist vorläufig
noch nicht entschieden, also Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung.

Gegen Carreri habe ich mich einmal zu polemisieren veranlaßt gesehen, aber
in dem, was er der Suttner schreibt, stimme ich ihm bei. Sie werde sich erinnern,
daß sie beide von Anfang an in der Sache verschiedne Standpunkte einge-
nommen hätten, und die Konsequenz müsse sie auf den seinen hinüberführen,
weil ja auch sie sich zur Entwicklungslehre bekenne. "Diese weiß nichts von
einem gänzlichen Aufhören des Kampfes und kennt nur eine allmähliche Ver¬
edlung der Kampfweise. Sie weiß auch nichts von einem gänzlichen Schwinden
der Not -- nicht zu verwechseln mit dem Elend der Armut, dem sehr gut


Bertha von Suttner

Eine grundsätzliche kritische Wertung dieser Bewegung, die hier nicht
beabsichtigt ist, könnte gut an die Briefe von Gumplowicz und Carreri an¬
knüpfen. Der jüngere Gumplowicz saß wegen anarchistischer Äußerungen in
Plötzensee. Die Baronin veranstaltete eine Sympathiekundgebung für ihn.
Das veranlaßte einen Briefwechsel mit seinem Vater, dem sehr konservativen
Grazer Professor. „Ich soll Ihnen, schrieb dieser, meine Ansicht sagen über
Ihren Artikel »Zweierlei Moral«, womit ich zugleich meine Ansicht äußern
müßte über Ihre ganze Friedensphilosophie. Ich will Ihnen einen Gegen¬
vorschlag machen: werfen Sie mich lieber gleich mit dem abscheulichen Sighele
in einen Topf und lassen Sie diese schlechten Kerls von Professoren ganz
beiseite — es ist mit ihnen nichts anzufangen. Die verderben Ihnen nur
den Humor, Ihren edelsten Lebensgenuß." Er sei weit entfernt davon, ihr
das Bild zu Sais entschleiern, sie bekehren zu wollen; weit lieber würde er
sich von ihr bekehren lassen, wenn das möglich wäre. Der Unterschied
zwischen der Wissenschaft und den Weltverbesserern bestehe darin, daß jene
Tatsachen konstatiere, diese predigten, wie die Welt sein soll, die Welt
anders machen wollten, als sie Gott geschaffen hat. So sei ja auch sein Sohn
in Plötzensee gesinnt. Es entrüste ihn, daß der Staat, der über Brot in
Hülle und Fülle verfüge, so unmoralisch sein könne, die Arbeitlosen darben
zu lassen, und habe darum diesen Staat eine organisierte Räuberbande ge¬
scholten. Und weil sein Enthusiasmus ihn sogar auch im Gefängnisse noch
beglücke, werde er, der Vater, sich hüten, ihn darin irrezumachen. „Ver¬
folgen Sie, hochgeehrte Frau Baronin, ruhig Ihren Weg, kümmern Sie sich
nicht um die Sigheles, lesen Sie nicht den »Nassenkampf« des Gumplowicz,
das könnte Ihnen trübe Stunden bereiten, und bleiben Sie stets, was Sie
sind: die Vorkämpferin einer schönen Idee! Um es aber bleiben zu können,
bewahren Sie sich stets die Überzeugung, daß diese Idee die Wahrheit, die
eine und einzige ist! Und diesen Glauben möge kein Professorengeschwätz
Ihnen je rauben." Daß Menschen verschiedner geistiger Richtungen einander
nicht bekehren können, ist richtig, aber daß es die Wissenschaft bloß mit Tat¬
sachen und gar nicht mit dem, was sein soll, zu tun habe, ist nicht wahr,
denn es gibt bekanntlich auch eine Ethik, und die Frage, ob und wieweit
die Ethik auch für den Staat und für den Völkerverkehr gelte, ist vorläufig
noch nicht entschieden, also Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung.

Gegen Carreri habe ich mich einmal zu polemisieren veranlaßt gesehen, aber
in dem, was er der Suttner schreibt, stimme ich ihm bei. Sie werde sich erinnern,
daß sie beide von Anfang an in der Sache verschiedne Standpunkte einge-
nommen hätten, und die Konsequenz müsse sie auf den seinen hinüberführen,
weil ja auch sie sich zur Entwicklungslehre bekenne. „Diese weiß nichts von
einem gänzlichen Aufhören des Kampfes und kennt nur eine allmähliche Ver¬
edlung der Kampfweise. Sie weiß auch nichts von einem gänzlichen Schwinden
der Not — nicht zu verwechseln mit dem Elend der Armut, dem sehr gut


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[0155] Bertha von Suttner Eine grundsätzliche kritische Wertung dieser Bewegung, die hier nicht beabsichtigt ist, könnte gut an die Briefe von Gumplowicz und Carreri an¬ knüpfen. Der jüngere Gumplowicz saß wegen anarchistischer Äußerungen in Plötzensee. Die Baronin veranstaltete eine Sympathiekundgebung für ihn. Das veranlaßte einen Briefwechsel mit seinem Vater, dem sehr konservativen Grazer Professor. „Ich soll Ihnen, schrieb dieser, meine Ansicht sagen über Ihren Artikel »Zweierlei Moral«, womit ich zugleich meine Ansicht äußern müßte über Ihre ganze Friedensphilosophie. Ich will Ihnen einen Gegen¬ vorschlag machen: werfen Sie mich lieber gleich mit dem abscheulichen Sighele in einen Topf und lassen Sie diese schlechten Kerls von Professoren ganz beiseite — es ist mit ihnen nichts anzufangen. Die verderben Ihnen nur den Humor, Ihren edelsten Lebensgenuß." Er sei weit entfernt davon, ihr das Bild zu Sais entschleiern, sie bekehren zu wollen; weit lieber würde er sich von ihr bekehren lassen, wenn das möglich wäre. Der Unterschied zwischen der Wissenschaft und den Weltverbesserern bestehe darin, daß jene Tatsachen konstatiere, diese predigten, wie die Welt sein soll, die Welt anders machen wollten, als sie Gott geschaffen hat. So sei ja auch sein Sohn in Plötzensee gesinnt. Es entrüste ihn, daß der Staat, der über Brot in Hülle und Fülle verfüge, so unmoralisch sein könne, die Arbeitlosen darben zu lassen, und habe darum diesen Staat eine organisierte Räuberbande ge¬ scholten. Und weil sein Enthusiasmus ihn sogar auch im Gefängnisse noch beglücke, werde er, der Vater, sich hüten, ihn darin irrezumachen. „Ver¬ folgen Sie, hochgeehrte Frau Baronin, ruhig Ihren Weg, kümmern Sie sich nicht um die Sigheles, lesen Sie nicht den »Nassenkampf« des Gumplowicz, das könnte Ihnen trübe Stunden bereiten, und bleiben Sie stets, was Sie sind: die Vorkämpferin einer schönen Idee! Um es aber bleiben zu können, bewahren Sie sich stets die Überzeugung, daß diese Idee die Wahrheit, die eine und einzige ist! Und diesen Glauben möge kein Professorengeschwätz Ihnen je rauben." Daß Menschen verschiedner geistiger Richtungen einander nicht bekehren können, ist richtig, aber daß es die Wissenschaft bloß mit Tat¬ sachen und gar nicht mit dem, was sein soll, zu tun habe, ist nicht wahr, denn es gibt bekanntlich auch eine Ethik, und die Frage, ob und wieweit die Ethik auch für den Staat und für den Völkerverkehr gelte, ist vorläufig noch nicht entschieden, also Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung. Gegen Carreri habe ich mich einmal zu polemisieren veranlaßt gesehen, aber in dem, was er der Suttner schreibt, stimme ich ihm bei. Sie werde sich erinnern, daß sie beide von Anfang an in der Sache verschiedne Standpunkte einge- nommen hätten, und die Konsequenz müsse sie auf den seinen hinüberführen, weil ja auch sie sich zur Entwicklungslehre bekenne. „Diese weiß nichts von einem gänzlichen Aufhören des Kampfes und kennt nur eine allmähliche Ver¬ edlung der Kampfweise. Sie weiß auch nichts von einem gänzlichen Schwinden der Not — nicht zu verwechseln mit dem Elend der Armut, dem sehr gut

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/155>, abgerufen am 23.07.2024.