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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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phokylides und die Essener

Der Inhalt des Dekalogs war also im Heiligkeitsgesetze gegeben, aber die Form
der kurzen Zusammenfassung und übersichtlichen Anordnung, mit Weglassung
alles Nationaljüdischen, mußte noch gefunden werden. Das erste Gesetz in
Form von zwölf kurzen Hauptgeboten ist das dem Bundesbuche (2. Mos. 21
bis 23) nahestehende Tempelkultusgesetz (2. Mos. 34, 10 bis 26). Es ist das
jüdische Zwölftafelgesetz, das allgemeine Landesgesetz des Priesterstaates. Die
Fluchtafel im Deuteronomium, eine Liste der schwersten heimlichen Verbrechen,
angeblich von Mose selbst bestimmt zur Verkündigung auf dem Ebal und
Garizim, den heiligen Höhen der Samariter, hat ebenfalls die Form des
Zwölftafelgesetzes (5. Mos. 27. 14 bis 26). Das gesamte Sinaigesetz, das
Mose auf Befehl Jahwehs niederschreibe, umfaßt das bürgerliche und das
Strafrecht und das Priesterrecht der Leviten (2. Mos. 21 bis 40). Dazu
kommt im vierten Buche Mose das Staatsrecht und im fünften das Familien-
und Erbrecht. Allmählich kam daneben auch ein allgemein gehaltnes religiös¬
sittliches Gesetz zustande -- der Dekalog.

Die Zehngebote sind aus dem Heiligkeitsgesetze allmählich herausgeschält
worden, als ein Zweitafclgesetz der xietg-s und der proditas. Das zehnte Gebot
war ursprünglich ein Verbot des Wuchers. Das Sabbatgebot erinnert noch
mit einem Worte (--akar "heiligen") an das Zwölftafclgesetz der Hierarchie in
Jerusalem. Sonst aber ist im Dekalog alles Jüdische abgestreift, und nun
konnte das mosaische Gesetz endlich Anspruch auf allgemeine Giltigkeit als
universalreligiöses Sittengesetz erheben. Von den Zehngeboten in dieser Form
hat der Verfasser des Heiligkeitsgesetzes noch nichts gewußt, sonst stünde auch
bei ihm das Gebot der Furcht vor Mutter und Vater nicht zwischen den
Geboten der Heiligung Jahwehs und des Sabbath. Der Dekalog, das erste
Gesetz, das Mose auf dem heiligen Berge aus der Hand Gottes empfing
(2. Mos. 20), ist das jüngste, nicht das älteste Stück der sogenannten mosaischen
Gesetzgebung. Er ist ebenso jung wie das vorausgehende Gerichtsverfassungs¬
gesetz, das Mose, auf deu Rat seines Schwiegervaters Jetro, in der Wüste
gegeben haben soll, indem er Unter- und Oberrichter über zehn, über fünfzig,
über hundert und über tausend einsetzte, und sich selbst in der höchsten In¬
stanz die Entscheidung der schwierigsten Rechtssachen vorbehielt, für die das
levitische Gerichtsorakel der Elohim, der Urim und Tummim, ausschlaggebend
war (2. Mos. 18).

Zur Zeit Alexanders des Großen schrieb Hekatäos von Abdera ein Buch
über die Juden, worin die Geschichte und die Gesetzgebung des jüdischen
Volkes behandelt war. Ein Zufall hat es gefügt, daß aus diesem Werke
noch einige Zeilen gerettet sind, ein allgemeines Urteil, dahin lautend, daß
unter der Herrschaft der Perser und der Mcckedoner vieles anders geworden
sei an den alten Gebräuchen der Juden. Das Urteil des griechischen ge¬
lehrten Beobachters erinnert lebhaft an die Art des Genusses des Tempel¬
opferfleisches, cui daS Blutigritzen und Tätowieren, an die Blutrache, die im


phokylides und die Essener

Der Inhalt des Dekalogs war also im Heiligkeitsgesetze gegeben, aber die Form
der kurzen Zusammenfassung und übersichtlichen Anordnung, mit Weglassung
alles Nationaljüdischen, mußte noch gefunden werden. Das erste Gesetz in
Form von zwölf kurzen Hauptgeboten ist das dem Bundesbuche (2. Mos. 21
bis 23) nahestehende Tempelkultusgesetz (2. Mos. 34, 10 bis 26). Es ist das
jüdische Zwölftafelgesetz, das allgemeine Landesgesetz des Priesterstaates. Die
Fluchtafel im Deuteronomium, eine Liste der schwersten heimlichen Verbrechen,
angeblich von Mose selbst bestimmt zur Verkündigung auf dem Ebal und
Garizim, den heiligen Höhen der Samariter, hat ebenfalls die Form des
Zwölftafelgesetzes (5. Mos. 27. 14 bis 26). Das gesamte Sinaigesetz, das
Mose auf Befehl Jahwehs niederschreibe, umfaßt das bürgerliche und das
Strafrecht und das Priesterrecht der Leviten (2. Mos. 21 bis 40). Dazu
kommt im vierten Buche Mose das Staatsrecht und im fünften das Familien-
und Erbrecht. Allmählich kam daneben auch ein allgemein gehaltnes religiös¬
sittliches Gesetz zustande — der Dekalog.

Die Zehngebote sind aus dem Heiligkeitsgesetze allmählich herausgeschält
worden, als ein Zweitafclgesetz der xietg-s und der proditas. Das zehnte Gebot
war ursprünglich ein Verbot des Wuchers. Das Sabbatgebot erinnert noch
mit einem Worte (--akar „heiligen") an das Zwölftafclgesetz der Hierarchie in
Jerusalem. Sonst aber ist im Dekalog alles Jüdische abgestreift, und nun
konnte das mosaische Gesetz endlich Anspruch auf allgemeine Giltigkeit als
universalreligiöses Sittengesetz erheben. Von den Zehngeboten in dieser Form
hat der Verfasser des Heiligkeitsgesetzes noch nichts gewußt, sonst stünde auch
bei ihm das Gebot der Furcht vor Mutter und Vater nicht zwischen den
Geboten der Heiligung Jahwehs und des Sabbath. Der Dekalog, das erste
Gesetz, das Mose auf dem heiligen Berge aus der Hand Gottes empfing
(2. Mos. 20), ist das jüngste, nicht das älteste Stück der sogenannten mosaischen
Gesetzgebung. Er ist ebenso jung wie das vorausgehende Gerichtsverfassungs¬
gesetz, das Mose, auf deu Rat seines Schwiegervaters Jetro, in der Wüste
gegeben haben soll, indem er Unter- und Oberrichter über zehn, über fünfzig,
über hundert und über tausend einsetzte, und sich selbst in der höchsten In¬
stanz die Entscheidung der schwierigsten Rechtssachen vorbehielt, für die das
levitische Gerichtsorakel der Elohim, der Urim und Tummim, ausschlaggebend
war (2. Mos. 18).

Zur Zeit Alexanders des Großen schrieb Hekatäos von Abdera ein Buch
über die Juden, worin die Geschichte und die Gesetzgebung des jüdischen
Volkes behandelt war. Ein Zufall hat es gefügt, daß aus diesem Werke
noch einige Zeilen gerettet sind, ein allgemeines Urteil, dahin lautend, daß
unter der Herrschaft der Perser und der Mcckedoner vieles anders geworden
sei an den alten Gebräuchen der Juden. Das Urteil des griechischen ge¬
lehrten Beobachters erinnert lebhaft an die Art des Genusses des Tempel¬
opferfleisches, cui daS Blutigritzen und Tätowieren, an die Blutrache, die im


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[0142] phokylides und die Essener Der Inhalt des Dekalogs war also im Heiligkeitsgesetze gegeben, aber die Form der kurzen Zusammenfassung und übersichtlichen Anordnung, mit Weglassung alles Nationaljüdischen, mußte noch gefunden werden. Das erste Gesetz in Form von zwölf kurzen Hauptgeboten ist das dem Bundesbuche (2. Mos. 21 bis 23) nahestehende Tempelkultusgesetz (2. Mos. 34, 10 bis 26). Es ist das jüdische Zwölftafelgesetz, das allgemeine Landesgesetz des Priesterstaates. Die Fluchtafel im Deuteronomium, eine Liste der schwersten heimlichen Verbrechen, angeblich von Mose selbst bestimmt zur Verkündigung auf dem Ebal und Garizim, den heiligen Höhen der Samariter, hat ebenfalls die Form des Zwölftafelgesetzes (5. Mos. 27. 14 bis 26). Das gesamte Sinaigesetz, das Mose auf Befehl Jahwehs niederschreibe, umfaßt das bürgerliche und das Strafrecht und das Priesterrecht der Leviten (2. Mos. 21 bis 40). Dazu kommt im vierten Buche Mose das Staatsrecht und im fünften das Familien- und Erbrecht. Allmählich kam daneben auch ein allgemein gehaltnes religiös¬ sittliches Gesetz zustande — der Dekalog. Die Zehngebote sind aus dem Heiligkeitsgesetze allmählich herausgeschält worden, als ein Zweitafclgesetz der xietg-s und der proditas. Das zehnte Gebot war ursprünglich ein Verbot des Wuchers. Das Sabbatgebot erinnert noch mit einem Worte (--akar „heiligen") an das Zwölftafclgesetz der Hierarchie in Jerusalem. Sonst aber ist im Dekalog alles Jüdische abgestreift, und nun konnte das mosaische Gesetz endlich Anspruch auf allgemeine Giltigkeit als universalreligiöses Sittengesetz erheben. Von den Zehngeboten in dieser Form hat der Verfasser des Heiligkeitsgesetzes noch nichts gewußt, sonst stünde auch bei ihm das Gebot der Furcht vor Mutter und Vater nicht zwischen den Geboten der Heiligung Jahwehs und des Sabbath. Der Dekalog, das erste Gesetz, das Mose auf dem heiligen Berge aus der Hand Gottes empfing (2. Mos. 20), ist das jüngste, nicht das älteste Stück der sogenannten mosaischen Gesetzgebung. Er ist ebenso jung wie das vorausgehende Gerichtsverfassungs¬ gesetz, das Mose, auf deu Rat seines Schwiegervaters Jetro, in der Wüste gegeben haben soll, indem er Unter- und Oberrichter über zehn, über fünfzig, über hundert und über tausend einsetzte, und sich selbst in der höchsten In¬ stanz die Entscheidung der schwierigsten Rechtssachen vorbehielt, für die das levitische Gerichtsorakel der Elohim, der Urim und Tummim, ausschlaggebend war (2. Mos. 18). Zur Zeit Alexanders des Großen schrieb Hekatäos von Abdera ein Buch über die Juden, worin die Geschichte und die Gesetzgebung des jüdischen Volkes behandelt war. Ein Zufall hat es gefügt, daß aus diesem Werke noch einige Zeilen gerettet sind, ein allgemeines Urteil, dahin lautend, daß unter der Herrschaft der Perser und der Mcckedoner vieles anders geworden sei an den alten Gebräuchen der Juden. Das Urteil des griechischen ge¬ lehrten Beobachters erinnert lebhaft an die Art des Genusses des Tempel¬ opferfleisches, cui daS Blutigritzen und Tätowieren, an die Blutrache, die im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/142>, abgerufen am 23.07.2024.