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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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phokylides und >le Offener

oder auch nur dessen Teil, der in die sibyllinischen Bücher ausgenommen
worden ist, aus den "fadesten Gewässern der Predigermoral" eines Reform¬
juden stammt, wie Bernays sagt, oder aus den "lebendigsten Strömungen
der individuellsten Völkergeschichte und Poesie".

Die wichtigste Frage ist die nach dem Verhältnis des phokylideischen
Gedichts zu den alttestamentlichen Schriften, die die jüdischen Gesetze und die
jüdischen Weisheitslehren enthalten, Hier sind der Übereinstimmungen, wie
Bernays gezeigt hat, so viele, daß einem so bibelgläubigen Juden, wie er,
allerdings viel daran gelegen war. die Abhängigkeit des Phokylides vom
Alten Testament schlagend zu beweisen. Betrachten wir zunächst eins der
ältesten jüdischen Gesetzbücher, das sogenannte Heiligkeitsgesetz im Buche
Leviticus (3. Mos. 19). Zu Anfang steht das Doppelgebot der Heiligung
Jahwehs und der Furcht vor Mutter und Vater. Darauf folgt das Gebot
der Heiligung des Sabbath, dann Gebote der Mildtätigkeit und der Ent¬
haltung von fremdem Gut, Verbot des Meineids, des unrechten Erwerbs, des
ungerechten Gerichts, der Verleumdung, der Irreführung des Blinden, Gebot
der Liebe zum Nächsten, dem Volksgenossen, der Ehrfurcht vor einem grauen
Haupte, der Gleichberechtigung der Zugezognen und der Einheimischen, endlich
ein Hinweis auf rechtes Maß und Gewicht ^- alles im Einklang mit Phoky¬
lides. Das Heiligkeitsgesetz macht einen altertümlichen Eindruck wegen seiner
Vorschriften über den Genuß des Tempelopferfleisches, das nach arabischer
Sitte frisch verzehrt werden mußte, wenn es noch zuckte, über die Blutrache
-- "du sollst nicht stillsteyn bei deines Nächsten Blut" -- und über die Tracht
der Peijes, der Schläfenlocken. In einem Zusatz zum Heiligkeitsgesetze wird
die Verehrung der seinen, gefürchteter Wüstendämonen in Bocksgestalt, ver¬
boten. Das levitische Gesetz verbietet ferner, sich bei einem Trauerfalle blutig
zu ritzen -- eine Sitte, die daraus zu erklären ist, daß man durch das Blut
eine Verbindung mit dem Toten herzustellen glaubte -- und sich zu tätowieren.
Auf Stirn und Hände pflegte man Zeichen einzuritzen. Dazu kommt ein strenges
Mischeheverbot. Das Heiligkeitsgesetz spiegelt den individuellen Charakter der
Bevölkerung von Südpalästina im fünften oder sechsten Jahrhundert v. Chr.

Das Heiligkeitsgesetz beginnt mit dem Doppelgebot der Ehrung Gottes
und der Eltern. Nach dem Gebote der Furcht vor Mutter und Vater kommt
das Sabbatsgesetz, dann die Bestimmungen über den Genuß des Tempelopfer¬
fleisches, und darauf folgen die Vorschriften, die das Verhältnis zu dem
Bruder oder Volksgenossen und zu dem Fremden betreffen, Gebot der Mild¬
tätigkeit. Verbot des Diebstahls, der Lüge, des Meineids, des Mordes u. a.
Im Dekalog ist die Reihenfolge eine andre. Da sind die Gebote der Mas
und der xroditas unterschieden. Voran steht das Gebot der Heiligung Gottes
und des Sabbath, dann folgt die Ehrung der Eltern und im Anschluß daran
das Verbot des Mordes, des Ehebruchs, des Diebstahls usw.. zum Schutze
des Lebens, der Sitte, des Eigentums, überhaupt des Rechts jedes Einzelnen.


phokylides und >le Offener

oder auch nur dessen Teil, der in die sibyllinischen Bücher ausgenommen
worden ist, aus den „fadesten Gewässern der Predigermoral" eines Reform¬
juden stammt, wie Bernays sagt, oder aus den „lebendigsten Strömungen
der individuellsten Völkergeschichte und Poesie".

Die wichtigste Frage ist die nach dem Verhältnis des phokylideischen
Gedichts zu den alttestamentlichen Schriften, die die jüdischen Gesetze und die
jüdischen Weisheitslehren enthalten, Hier sind der Übereinstimmungen, wie
Bernays gezeigt hat, so viele, daß einem so bibelgläubigen Juden, wie er,
allerdings viel daran gelegen war. die Abhängigkeit des Phokylides vom
Alten Testament schlagend zu beweisen. Betrachten wir zunächst eins der
ältesten jüdischen Gesetzbücher, das sogenannte Heiligkeitsgesetz im Buche
Leviticus (3. Mos. 19). Zu Anfang steht das Doppelgebot der Heiligung
Jahwehs und der Furcht vor Mutter und Vater. Darauf folgt das Gebot
der Heiligung des Sabbath, dann Gebote der Mildtätigkeit und der Ent¬
haltung von fremdem Gut, Verbot des Meineids, des unrechten Erwerbs, des
ungerechten Gerichts, der Verleumdung, der Irreführung des Blinden, Gebot
der Liebe zum Nächsten, dem Volksgenossen, der Ehrfurcht vor einem grauen
Haupte, der Gleichberechtigung der Zugezognen und der Einheimischen, endlich
ein Hinweis auf rechtes Maß und Gewicht ^- alles im Einklang mit Phoky¬
lides. Das Heiligkeitsgesetz macht einen altertümlichen Eindruck wegen seiner
Vorschriften über den Genuß des Tempelopferfleisches, das nach arabischer
Sitte frisch verzehrt werden mußte, wenn es noch zuckte, über die Blutrache
— „du sollst nicht stillsteyn bei deines Nächsten Blut" — und über die Tracht
der Peijes, der Schläfenlocken. In einem Zusatz zum Heiligkeitsgesetze wird
die Verehrung der seinen, gefürchteter Wüstendämonen in Bocksgestalt, ver¬
boten. Das levitische Gesetz verbietet ferner, sich bei einem Trauerfalle blutig
zu ritzen — eine Sitte, die daraus zu erklären ist, daß man durch das Blut
eine Verbindung mit dem Toten herzustellen glaubte — und sich zu tätowieren.
Auf Stirn und Hände pflegte man Zeichen einzuritzen. Dazu kommt ein strenges
Mischeheverbot. Das Heiligkeitsgesetz spiegelt den individuellen Charakter der
Bevölkerung von Südpalästina im fünften oder sechsten Jahrhundert v. Chr.

Das Heiligkeitsgesetz beginnt mit dem Doppelgebot der Ehrung Gottes
und der Eltern. Nach dem Gebote der Furcht vor Mutter und Vater kommt
das Sabbatsgesetz, dann die Bestimmungen über den Genuß des Tempelopfer¬
fleisches, und darauf folgen die Vorschriften, die das Verhältnis zu dem
Bruder oder Volksgenossen und zu dem Fremden betreffen, Gebot der Mild¬
tätigkeit. Verbot des Diebstahls, der Lüge, des Meineids, des Mordes u. a.
Im Dekalog ist die Reihenfolge eine andre. Da sind die Gebote der Mas
und der xroditas unterschieden. Voran steht das Gebot der Heiligung Gottes
und des Sabbath, dann folgt die Ehrung der Eltern und im Anschluß daran
das Verbot des Mordes, des Ehebruchs, des Diebstahls usw.. zum Schutze
des Lebens, der Sitte, des Eigentums, überhaupt des Rechts jedes Einzelnen.


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[0141] phokylides und >le Offener oder auch nur dessen Teil, der in die sibyllinischen Bücher ausgenommen worden ist, aus den „fadesten Gewässern der Predigermoral" eines Reform¬ juden stammt, wie Bernays sagt, oder aus den „lebendigsten Strömungen der individuellsten Völkergeschichte und Poesie". Die wichtigste Frage ist die nach dem Verhältnis des phokylideischen Gedichts zu den alttestamentlichen Schriften, die die jüdischen Gesetze und die jüdischen Weisheitslehren enthalten, Hier sind der Übereinstimmungen, wie Bernays gezeigt hat, so viele, daß einem so bibelgläubigen Juden, wie er, allerdings viel daran gelegen war. die Abhängigkeit des Phokylides vom Alten Testament schlagend zu beweisen. Betrachten wir zunächst eins der ältesten jüdischen Gesetzbücher, das sogenannte Heiligkeitsgesetz im Buche Leviticus (3. Mos. 19). Zu Anfang steht das Doppelgebot der Heiligung Jahwehs und der Furcht vor Mutter und Vater. Darauf folgt das Gebot der Heiligung des Sabbath, dann Gebote der Mildtätigkeit und der Ent¬ haltung von fremdem Gut, Verbot des Meineids, des unrechten Erwerbs, des ungerechten Gerichts, der Verleumdung, der Irreführung des Blinden, Gebot der Liebe zum Nächsten, dem Volksgenossen, der Ehrfurcht vor einem grauen Haupte, der Gleichberechtigung der Zugezognen und der Einheimischen, endlich ein Hinweis auf rechtes Maß und Gewicht ^- alles im Einklang mit Phoky¬ lides. Das Heiligkeitsgesetz macht einen altertümlichen Eindruck wegen seiner Vorschriften über den Genuß des Tempelopferfleisches, das nach arabischer Sitte frisch verzehrt werden mußte, wenn es noch zuckte, über die Blutrache — „du sollst nicht stillsteyn bei deines Nächsten Blut" — und über die Tracht der Peijes, der Schläfenlocken. In einem Zusatz zum Heiligkeitsgesetze wird die Verehrung der seinen, gefürchteter Wüstendämonen in Bocksgestalt, ver¬ boten. Das levitische Gesetz verbietet ferner, sich bei einem Trauerfalle blutig zu ritzen — eine Sitte, die daraus zu erklären ist, daß man durch das Blut eine Verbindung mit dem Toten herzustellen glaubte — und sich zu tätowieren. Auf Stirn und Hände pflegte man Zeichen einzuritzen. Dazu kommt ein strenges Mischeheverbot. Das Heiligkeitsgesetz spiegelt den individuellen Charakter der Bevölkerung von Südpalästina im fünften oder sechsten Jahrhundert v. Chr. Das Heiligkeitsgesetz beginnt mit dem Doppelgebot der Ehrung Gottes und der Eltern. Nach dem Gebote der Furcht vor Mutter und Vater kommt das Sabbatsgesetz, dann die Bestimmungen über den Genuß des Tempelopfer¬ fleisches, und darauf folgen die Vorschriften, die das Verhältnis zu dem Bruder oder Volksgenossen und zu dem Fremden betreffen, Gebot der Mild¬ tätigkeit. Verbot des Diebstahls, der Lüge, des Meineids, des Mordes u. a. Im Dekalog ist die Reihenfolge eine andre. Da sind die Gebote der Mas und der xroditas unterschieden. Voran steht das Gebot der Heiligung Gottes und des Sabbath, dann folgt die Ehrung der Eltern und im Anschluß daran das Verbot des Mordes, des Ehebruchs, des Diebstahls usw.. zum Schutze des Lebens, der Sitte, des Eigentums, überhaupt des Rechts jedes Einzelnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/141>, abgerufen am 23.07.2024.