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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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j)bokvlides und die Essener

Verfasser dieses Sammelwerkes hat aus mancherlei Quellen geschöpft und unter
andern auch eine altchristliche Schrift benutzt, das Kerygma des Petrus. In
den neuen Christenschulen erhielt die alte griechische Weisheitslehre einige
christliche Zusätze, so ein Verbot des Genusses von Mutwurst und von Götzen¬
opferfleisch und ein Lob des Gotteswortes der Offenbarungsweisheit.

Die Übereinstimmung mit dem Alten und dem Neuen Testamente konnte
der wissenschaftlichen Forschung nicht lange entgehn. Zuerst entdeckte ein
deutscher Humanist, Friedrich Sylburg, indem griechischen Lehrgedichte Spuren
jüdischer und christlicher Lehre, die er als Zusätze zu dem echten Werke des
Phokylides betrachtete, zum Zwecke des Gebrauchs in christlichen Schulen.
Dann wollte Jos. Scaliger, Angehöriger eines berühmten französischen Huge¬
nottengeschlechts, das Ganze einem Juden oder lieber einem Christen zu¬
schreiben, der nur die Maske des griechischen Gnomendichters angenommen
habe. Im neunzehnten Jahrhundert stellte der orthodox-jüdische Gelehrte
Jakob Bernays zuerst eine eingehende Vergleichung des phokylideischen Lehr¬
gedichts mit dem Alten Testament an. Das Ergebnis lautete, der Verfasser
sei ein alexandrinischer, von dem Glauben seiner Väter abgefallner Jude
gewesen, der den Sabbat unerwähnt lasse, der allem Nationaljüdischen aus
dem Wege gehe, und der nicht den Mut gehabt habe zu einem offnen
Angriffe auf das Heidentum. Bernays sah in dem biblisch-unbiblischen Lehr¬
gedichte nichts weiter als eine "moralische Anthologie" und schob das an¬
geblich kraft- und farblose Machwerk eines Reformjuden mit Verachtung bei¬
seite. Seitdem ist nur von dem alexandrinischen Pseudophokylides die Rede.

Unbefangne Untersuchung auf Grund erweiterter Altertumsforschung hat
nun aber in der neusten Zeit zu der Entdeckung jener eigentümlichen Un¬
sterblichkeitsauffassung geführt, die in Zusammenhang steht mit den alt-
griechischen pythagoreisch-orphischen Mysterien. Andrerseits besteht aber auch
ein innerer Zusammenhang zwischen der Sittenlehre und dem Unsterblichkeits¬
glauben des Phokylides und der Lehre von den beiden Wegen des Lebens
und des Todes und dem Unsterblichkeitsglauben in der altchristlichen Apostel¬
lehre, der kürzlich wiederentdeckten Didache, der ursprünglichen christlichen
Kirchengemeindeordnung. Das Verhältnis der Weisheitslehre des Phokylides
.zur Didache bedarf noch einer gründlichen Untersuchung. Die Vermutung ist
nicht abzuweisen, daß wenigstens der Kern der uns vorliegenden griechischen
Gnomensammlung in ionischer Sprache von Phokylides selbst herrührt,*) daß
also dieses alte Lehrgedicht such Einfluß geübt hat auf die jüdische und die
älteste christliche Literatur, auf ihre Sittenlehre**) und vor allem auf ihren
Unsterblichkeitsglauben. Es ist die Frage, ob das Lehrgedicht des Phokylides




'"-'"*) Vgl. Dieterich, Nekyiä, Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalyps"
(Leipzig, Teubner). . ^. .......^
-zzgl. P, Drews bei Hennecke, neutestamentliche Apokryphen, Harod,, S. 260. 363. 268.
j)bokvlides und die Essener

Verfasser dieses Sammelwerkes hat aus mancherlei Quellen geschöpft und unter
andern auch eine altchristliche Schrift benutzt, das Kerygma des Petrus. In
den neuen Christenschulen erhielt die alte griechische Weisheitslehre einige
christliche Zusätze, so ein Verbot des Genusses von Mutwurst und von Götzen¬
opferfleisch und ein Lob des Gotteswortes der Offenbarungsweisheit.

Die Übereinstimmung mit dem Alten und dem Neuen Testamente konnte
der wissenschaftlichen Forschung nicht lange entgehn. Zuerst entdeckte ein
deutscher Humanist, Friedrich Sylburg, indem griechischen Lehrgedichte Spuren
jüdischer und christlicher Lehre, die er als Zusätze zu dem echten Werke des
Phokylides betrachtete, zum Zwecke des Gebrauchs in christlichen Schulen.
Dann wollte Jos. Scaliger, Angehöriger eines berühmten französischen Huge¬
nottengeschlechts, das Ganze einem Juden oder lieber einem Christen zu¬
schreiben, der nur die Maske des griechischen Gnomendichters angenommen
habe. Im neunzehnten Jahrhundert stellte der orthodox-jüdische Gelehrte
Jakob Bernays zuerst eine eingehende Vergleichung des phokylideischen Lehr¬
gedichts mit dem Alten Testament an. Das Ergebnis lautete, der Verfasser
sei ein alexandrinischer, von dem Glauben seiner Väter abgefallner Jude
gewesen, der den Sabbat unerwähnt lasse, der allem Nationaljüdischen aus
dem Wege gehe, und der nicht den Mut gehabt habe zu einem offnen
Angriffe auf das Heidentum. Bernays sah in dem biblisch-unbiblischen Lehr¬
gedichte nichts weiter als eine „moralische Anthologie" und schob das an¬
geblich kraft- und farblose Machwerk eines Reformjuden mit Verachtung bei¬
seite. Seitdem ist nur von dem alexandrinischen Pseudophokylides die Rede.

Unbefangne Untersuchung auf Grund erweiterter Altertumsforschung hat
nun aber in der neusten Zeit zu der Entdeckung jener eigentümlichen Un¬
sterblichkeitsauffassung geführt, die in Zusammenhang steht mit den alt-
griechischen pythagoreisch-orphischen Mysterien. Andrerseits besteht aber auch
ein innerer Zusammenhang zwischen der Sittenlehre und dem Unsterblichkeits¬
glauben des Phokylides und der Lehre von den beiden Wegen des Lebens
und des Todes und dem Unsterblichkeitsglauben in der altchristlichen Apostel¬
lehre, der kürzlich wiederentdeckten Didache, der ursprünglichen christlichen
Kirchengemeindeordnung. Das Verhältnis der Weisheitslehre des Phokylides
.zur Didache bedarf noch einer gründlichen Untersuchung. Die Vermutung ist
nicht abzuweisen, daß wenigstens der Kern der uns vorliegenden griechischen
Gnomensammlung in ionischer Sprache von Phokylides selbst herrührt,*) daß
also dieses alte Lehrgedicht such Einfluß geübt hat auf die jüdische und die
älteste christliche Literatur, auf ihre Sittenlehre**) und vor allem auf ihren
Unsterblichkeitsglauben. Es ist die Frage, ob das Lehrgedicht des Phokylides




'"-'"*) Vgl. Dieterich, Nekyiä, Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalyps«
(Leipzig, Teubner). . ^. .......^
-zzgl. P, Drews bei Hennecke, neutestamentliche Apokryphen, Harod,, S. 260. 363. 268.
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[0140] j)bokvlides und die Essener Verfasser dieses Sammelwerkes hat aus mancherlei Quellen geschöpft und unter andern auch eine altchristliche Schrift benutzt, das Kerygma des Petrus. In den neuen Christenschulen erhielt die alte griechische Weisheitslehre einige christliche Zusätze, so ein Verbot des Genusses von Mutwurst und von Götzen¬ opferfleisch und ein Lob des Gotteswortes der Offenbarungsweisheit. Die Übereinstimmung mit dem Alten und dem Neuen Testamente konnte der wissenschaftlichen Forschung nicht lange entgehn. Zuerst entdeckte ein deutscher Humanist, Friedrich Sylburg, indem griechischen Lehrgedichte Spuren jüdischer und christlicher Lehre, die er als Zusätze zu dem echten Werke des Phokylides betrachtete, zum Zwecke des Gebrauchs in christlichen Schulen. Dann wollte Jos. Scaliger, Angehöriger eines berühmten französischen Huge¬ nottengeschlechts, das Ganze einem Juden oder lieber einem Christen zu¬ schreiben, der nur die Maske des griechischen Gnomendichters angenommen habe. Im neunzehnten Jahrhundert stellte der orthodox-jüdische Gelehrte Jakob Bernays zuerst eine eingehende Vergleichung des phokylideischen Lehr¬ gedichts mit dem Alten Testament an. Das Ergebnis lautete, der Verfasser sei ein alexandrinischer, von dem Glauben seiner Väter abgefallner Jude gewesen, der den Sabbat unerwähnt lasse, der allem Nationaljüdischen aus dem Wege gehe, und der nicht den Mut gehabt habe zu einem offnen Angriffe auf das Heidentum. Bernays sah in dem biblisch-unbiblischen Lehr¬ gedichte nichts weiter als eine „moralische Anthologie" und schob das an¬ geblich kraft- und farblose Machwerk eines Reformjuden mit Verachtung bei¬ seite. Seitdem ist nur von dem alexandrinischen Pseudophokylides die Rede. Unbefangne Untersuchung auf Grund erweiterter Altertumsforschung hat nun aber in der neusten Zeit zu der Entdeckung jener eigentümlichen Un¬ sterblichkeitsauffassung geführt, die in Zusammenhang steht mit den alt- griechischen pythagoreisch-orphischen Mysterien. Andrerseits besteht aber auch ein innerer Zusammenhang zwischen der Sittenlehre und dem Unsterblichkeits¬ glauben des Phokylides und der Lehre von den beiden Wegen des Lebens und des Todes und dem Unsterblichkeitsglauben in der altchristlichen Apostel¬ lehre, der kürzlich wiederentdeckten Didache, der ursprünglichen christlichen Kirchengemeindeordnung. Das Verhältnis der Weisheitslehre des Phokylides .zur Didache bedarf noch einer gründlichen Untersuchung. Die Vermutung ist nicht abzuweisen, daß wenigstens der Kern der uns vorliegenden griechischen Gnomensammlung in ionischer Sprache von Phokylides selbst herrührt,*) daß also dieses alte Lehrgedicht such Einfluß geübt hat auf die jüdische und die älteste christliche Literatur, auf ihre Sittenlehre**) und vor allem auf ihren Unsterblichkeitsglauben. Es ist die Frage, ob das Lehrgedicht des Phokylides '"-'"*) Vgl. Dieterich, Nekyiä, Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalyps« (Leipzig, Teubner). . ^. .......^ -zzgl. P, Drews bei Hennecke, neutestamentliche Apokryphen, Harod,, S. 260. 363. 268.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/140>, abgerufen am 23.07.2024.