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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Phokylides und die Lssener

beherrschten. Als sich Kroisos dem König Kyros von Persien- unterwerfen
mußte, verlor der Bund der ionischen Seestädte seinen Halt. Die Bürgerschaft'
von Milet schloß mit dem mächtigen Perserkönig einen Vertrag, unter ebenso
günstigen Bedingungen wie der König von Lydien. Den übrigen Städten soll
der weise Thales, ein aus Phönizien in Milet eingewanderter Mathematiker
und Philosoph, den Rat gegeben haben, sich zu einem Bunde zu vereinigen.
Ein kluger Rat für den Rumpf, von dem das Haupt abgetrennt war.

Unter persischer Herrschaft nahm Milet einen neuen Aufschwung. Die
persischen Könige förderten Handel und Verkehr, hoben den Ackerbau, den
Weinbau und die Gärtnerei und bewiesen in jeder Beziehung Verständnis
für die Eigenart der unterworfneu Völker. Sie wußten die Bedeutung der
Philosophenschulen in Milet und Ephesos zu würdigen, die unter Männern
wie Anaximander, dem Entdecker des Begriffs der Unendlichkeit, dem Ver¬
fertiger einer Erdkarte und einer Himmelskugel, und dem Denker Herakleitos,
dem Begründer der Lehre von dem allwaltenden Logos, zu hoher Blüte ge¬
langten. Die ionischen Griechen sind die Stifter der Wissenschaft. Der größte
unter den geistigen Führern dieser wunderbar neu bewegten Zeit war Pytha-
goras, dessen Schule später namentlich auf dem Gebiete der Mathematik und
in der Theorie der Musik Bedeutendes geleistet hat. Pythagoras selbst war
der größte sozialpolitische und religiöse Organisator der Griechen.*) Auf Grund
der Satzungen ihres Meisters bildeten die Pythagoreer Gemeinden und Vereine.
Der Bund der Pythagoreer dehnte sich aus von der Insel Samos bei Milet,
wo Pythagoras fürstliche Ehren genoß, bis nach Griechenland, ja nach Unter¬
italien und Sizilien. Die Römer wußten von dem König Numa Pompilius
besonders zu rühmen, daß er der Schüler des Pythagoras gewesen sei. Die
Mitglieder des Bundes der Pythagoreer verpflichteten sich zu gegenseitiger
Freundschaft und zu der pythagoreischen Lebensweise, der Reinheit des
Lebens. Die Liebesmahle der Pythagoreer, die sogenannten Orgien, sind erst
durch die Kirche in Verruf gebracht worden. Eigentümlich war den Pytha-
goreern der Monotheismus und der ideale Unsterblichkeitsglaube, der sich auch
in Palästina, und zwar ausschließlich bei den Essenern, den "Ansiedlern",
findet, die auch sonst den Pythagoreern verwandt zu sein scheinen. In Unter¬
italien hat man in alten Gräbern Goldtüfelchen gefunden, von denen eines
die Aufschrift trägt: "Seliger und Gebenedeiter, du wirst nicht mehr Sterb¬
licher, sondern ein Gott sein." Es lohnt sich, den Spuren dieses neuen Geistes
in Vorderasien, in Jonien und in Syrien, in Nord- und Südpalästina nach-
zugehn. Ein Pythagoreisches Lehrbuch der Lebensweisheit führte den Titel:
"Goldne Worte des Pythagoras". Außerdem ist noch ein ähnliches Lehrgedicht
erhalten unter dem Namen des Phokylides aus Milet, eines Zeitgenossen des
Pythagoras.



, ") Vgl. Ed. Meyer, Geschichte des Altertums. IV, 214 ff.
Grenzbote" I 190917
Phokylides und die Lssener

beherrschten. Als sich Kroisos dem König Kyros von Persien- unterwerfen
mußte, verlor der Bund der ionischen Seestädte seinen Halt. Die Bürgerschaft'
von Milet schloß mit dem mächtigen Perserkönig einen Vertrag, unter ebenso
günstigen Bedingungen wie der König von Lydien. Den übrigen Städten soll
der weise Thales, ein aus Phönizien in Milet eingewanderter Mathematiker
und Philosoph, den Rat gegeben haben, sich zu einem Bunde zu vereinigen.
Ein kluger Rat für den Rumpf, von dem das Haupt abgetrennt war.

Unter persischer Herrschaft nahm Milet einen neuen Aufschwung. Die
persischen Könige förderten Handel und Verkehr, hoben den Ackerbau, den
Weinbau und die Gärtnerei und bewiesen in jeder Beziehung Verständnis
für die Eigenart der unterworfneu Völker. Sie wußten die Bedeutung der
Philosophenschulen in Milet und Ephesos zu würdigen, die unter Männern
wie Anaximander, dem Entdecker des Begriffs der Unendlichkeit, dem Ver¬
fertiger einer Erdkarte und einer Himmelskugel, und dem Denker Herakleitos,
dem Begründer der Lehre von dem allwaltenden Logos, zu hoher Blüte ge¬
langten. Die ionischen Griechen sind die Stifter der Wissenschaft. Der größte
unter den geistigen Führern dieser wunderbar neu bewegten Zeit war Pytha-
goras, dessen Schule später namentlich auf dem Gebiete der Mathematik und
in der Theorie der Musik Bedeutendes geleistet hat. Pythagoras selbst war
der größte sozialpolitische und religiöse Organisator der Griechen.*) Auf Grund
der Satzungen ihres Meisters bildeten die Pythagoreer Gemeinden und Vereine.
Der Bund der Pythagoreer dehnte sich aus von der Insel Samos bei Milet,
wo Pythagoras fürstliche Ehren genoß, bis nach Griechenland, ja nach Unter¬
italien und Sizilien. Die Römer wußten von dem König Numa Pompilius
besonders zu rühmen, daß er der Schüler des Pythagoras gewesen sei. Die
Mitglieder des Bundes der Pythagoreer verpflichteten sich zu gegenseitiger
Freundschaft und zu der pythagoreischen Lebensweise, der Reinheit des
Lebens. Die Liebesmahle der Pythagoreer, die sogenannten Orgien, sind erst
durch die Kirche in Verruf gebracht worden. Eigentümlich war den Pytha-
goreern der Monotheismus und der ideale Unsterblichkeitsglaube, der sich auch
in Palästina, und zwar ausschließlich bei den Essenern, den „Ansiedlern",
findet, die auch sonst den Pythagoreern verwandt zu sein scheinen. In Unter¬
italien hat man in alten Gräbern Goldtüfelchen gefunden, von denen eines
die Aufschrift trägt: „Seliger und Gebenedeiter, du wirst nicht mehr Sterb¬
licher, sondern ein Gott sein." Es lohnt sich, den Spuren dieses neuen Geistes
in Vorderasien, in Jonien und in Syrien, in Nord- und Südpalästina nach-
zugehn. Ein Pythagoreisches Lehrbuch der Lebensweisheit führte den Titel:
„Goldne Worte des Pythagoras". Außerdem ist noch ein ähnliches Lehrgedicht
erhalten unter dem Namen des Phokylides aus Milet, eines Zeitgenossen des
Pythagoras.



, ") Vgl. Ed. Meyer, Geschichte des Altertums. IV, 214 ff.
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[0137] Phokylides und die Lssener beherrschten. Als sich Kroisos dem König Kyros von Persien- unterwerfen mußte, verlor der Bund der ionischen Seestädte seinen Halt. Die Bürgerschaft' von Milet schloß mit dem mächtigen Perserkönig einen Vertrag, unter ebenso günstigen Bedingungen wie der König von Lydien. Den übrigen Städten soll der weise Thales, ein aus Phönizien in Milet eingewanderter Mathematiker und Philosoph, den Rat gegeben haben, sich zu einem Bunde zu vereinigen. Ein kluger Rat für den Rumpf, von dem das Haupt abgetrennt war. Unter persischer Herrschaft nahm Milet einen neuen Aufschwung. Die persischen Könige förderten Handel und Verkehr, hoben den Ackerbau, den Weinbau und die Gärtnerei und bewiesen in jeder Beziehung Verständnis für die Eigenart der unterworfneu Völker. Sie wußten die Bedeutung der Philosophenschulen in Milet und Ephesos zu würdigen, die unter Männern wie Anaximander, dem Entdecker des Begriffs der Unendlichkeit, dem Ver¬ fertiger einer Erdkarte und einer Himmelskugel, und dem Denker Herakleitos, dem Begründer der Lehre von dem allwaltenden Logos, zu hoher Blüte ge¬ langten. Die ionischen Griechen sind die Stifter der Wissenschaft. Der größte unter den geistigen Führern dieser wunderbar neu bewegten Zeit war Pytha- goras, dessen Schule später namentlich auf dem Gebiete der Mathematik und in der Theorie der Musik Bedeutendes geleistet hat. Pythagoras selbst war der größte sozialpolitische und religiöse Organisator der Griechen.*) Auf Grund der Satzungen ihres Meisters bildeten die Pythagoreer Gemeinden und Vereine. Der Bund der Pythagoreer dehnte sich aus von der Insel Samos bei Milet, wo Pythagoras fürstliche Ehren genoß, bis nach Griechenland, ja nach Unter¬ italien und Sizilien. Die Römer wußten von dem König Numa Pompilius besonders zu rühmen, daß er der Schüler des Pythagoras gewesen sei. Die Mitglieder des Bundes der Pythagoreer verpflichteten sich zu gegenseitiger Freundschaft und zu der pythagoreischen Lebensweise, der Reinheit des Lebens. Die Liebesmahle der Pythagoreer, die sogenannten Orgien, sind erst durch die Kirche in Verruf gebracht worden. Eigentümlich war den Pytha- goreern der Monotheismus und der ideale Unsterblichkeitsglaube, der sich auch in Palästina, und zwar ausschließlich bei den Essenern, den „Ansiedlern", findet, die auch sonst den Pythagoreern verwandt zu sein scheinen. In Unter¬ italien hat man in alten Gräbern Goldtüfelchen gefunden, von denen eines die Aufschrift trägt: „Seliger und Gebenedeiter, du wirst nicht mehr Sterb¬ licher, sondern ein Gott sein." Es lohnt sich, den Spuren dieses neuen Geistes in Vorderasien, in Jonien und in Syrien, in Nord- und Südpalästina nach- zugehn. Ein Pythagoreisches Lehrbuch der Lebensweisheit führte den Titel: „Goldne Worte des Pythagoras". Außerdem ist noch ein ähnliches Lehrgedicht erhalten unter dem Namen des Phokylides aus Milet, eines Zeitgenossen des Pythagoras. , ") Vgl. Ed. Meyer, Geschichte des Altertums. IV, 214 ff. Grenzbote» I 190917

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/137>, abgerufen am 12.12.2024.