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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die neue Baugesinnung

wir noch niedrig, wenn wir das Verhältnis der Grundstücksbesitzer zu den Mietern
wie eins zu fünf annehmen. In manchen Vierteln dürfte das Verhältnis eins
zu zehn nichts seltnes sein.

Es ist aber wohl kein Zweifel, daß bei der subjektivistischen Richtung des
gesamten modernen Lebens die Sehnsucht nach Freiheit in den eignen vier
Wänden von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunehmen wird. Wir Stadtmenschen sind
ja eigentlich noch gar keine richtigen Städter, wir sind einstweilen ganz über¬
wiegend Landflüchtige, vom reichen Tisch des freien Landes als überzählig
Verstoßne, und das uralte Bauernblut des Germanen wird sich auch nicht gar
so schnell an das steinerne Meer der Stadt gewöhnen, es wird immer wieder
hinaus verlangen ins freie Feld und in den rauschenden Wald. Und so wird
die modernste Form der Hörigkeit: die Wohnhörigkeit, ebenso überwunden werden
wie die frühern unfreien Lebensverhältnisse der Ahnen auch. Erscheint die Miet¬
kaserne wirklich schon als der Weisheit letzter Schluß? Wenn auch nicht
überall das Eigenhaus an ihre Stelle treten kann -- das Einzelwohnhaus ist
kein unerreichbares Ideal, und ein besseres, scheint mir, als die kollektivistisch
bewirtschaftete Zinskaserne mit ihren Zentralen fürs Stiefelputzen, Kaffeekochen
und Kindererziehen.

Einstweilen freilich ist der rein kapitalistisch arbeitende Grundbesitz, nament¬
lich um unsre aufblühenden Großstädte herum, in schier unbezwinglicher Position.
Alles, was irgendwie als Bauland in Betracht kommt und Nutzen verspricht, hat
die Spekulation entweder unmittelbar in Beschlag genommen oder mittelbar
übermäßig im Wert gesteigert. Berlin kann sein besondres Lied davon singen.
Der Spekulationswert kann aber nur zum allerkleinsten Teile durch den Ertrag
von Einzelwohnhäusern gedeckt werden, zumeist muß die Mietkaserne das Terrain
erschließen und die erstrebte Dividende abwerfen. Wenn (der leider früh ver¬
storbne) Paul Voigt das Anwachsen des Bodenwerts innerhalb der deutschen
Großstädte für die Jahre 1870 bis 1898 auf siebeneinhalb Milliarden Mark
Zuwachswerte berechnet, so schätzen wir heute mit zehn Milliarden kaum zu
hoch, und die Wertsteigcrung des Bodens rund um die Stadtgrenzen dürfte
jenem Betrage allermindestens gleichkommen. Somit scheinen die Aussichten für
die allgemeine Umgestaltung unsers Wohnungswesens auf Grund des Einzel¬
wohnhauses noch recht trübe. Und mit einiger Sehnsucht schauen wir nach
England hinüber, wo zwar neuerdings in einzelnen Städten das kontinentale
Etagenmiethaus an Boden gewinnt, die überwältigende Mehrheit der Be¬
völkerung aber nach wie vor am überlieferten Einzelwohnhause festhält. Allein
die Hoffnung auf den Ausbau des städtischen Vorortverkehrs läßt uns an
die Verwirklichung des Ideals glauben, daß nach und nach auch der nomadi¬
sierende so gut wie der ansässige Städter sein Haus für sich werde genießen
können.

Zu diesen Gedanken regt ein Werk über "Das Einzelwohnhaus der Neu¬
zeit" an, das E. Haenel und H. Tscharmann kürzlich herausgegeben haben (Leipzig,


Die neue Baugesinnung

wir noch niedrig, wenn wir das Verhältnis der Grundstücksbesitzer zu den Mietern
wie eins zu fünf annehmen. In manchen Vierteln dürfte das Verhältnis eins
zu zehn nichts seltnes sein.

Es ist aber wohl kein Zweifel, daß bei der subjektivistischen Richtung des
gesamten modernen Lebens die Sehnsucht nach Freiheit in den eignen vier
Wänden von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunehmen wird. Wir Stadtmenschen sind
ja eigentlich noch gar keine richtigen Städter, wir sind einstweilen ganz über¬
wiegend Landflüchtige, vom reichen Tisch des freien Landes als überzählig
Verstoßne, und das uralte Bauernblut des Germanen wird sich auch nicht gar
so schnell an das steinerne Meer der Stadt gewöhnen, es wird immer wieder
hinaus verlangen ins freie Feld und in den rauschenden Wald. Und so wird
die modernste Form der Hörigkeit: die Wohnhörigkeit, ebenso überwunden werden
wie die frühern unfreien Lebensverhältnisse der Ahnen auch. Erscheint die Miet¬
kaserne wirklich schon als der Weisheit letzter Schluß? Wenn auch nicht
überall das Eigenhaus an ihre Stelle treten kann — das Einzelwohnhaus ist
kein unerreichbares Ideal, und ein besseres, scheint mir, als die kollektivistisch
bewirtschaftete Zinskaserne mit ihren Zentralen fürs Stiefelputzen, Kaffeekochen
und Kindererziehen.

Einstweilen freilich ist der rein kapitalistisch arbeitende Grundbesitz, nament¬
lich um unsre aufblühenden Großstädte herum, in schier unbezwinglicher Position.
Alles, was irgendwie als Bauland in Betracht kommt und Nutzen verspricht, hat
die Spekulation entweder unmittelbar in Beschlag genommen oder mittelbar
übermäßig im Wert gesteigert. Berlin kann sein besondres Lied davon singen.
Der Spekulationswert kann aber nur zum allerkleinsten Teile durch den Ertrag
von Einzelwohnhäusern gedeckt werden, zumeist muß die Mietkaserne das Terrain
erschließen und die erstrebte Dividende abwerfen. Wenn (der leider früh ver¬
storbne) Paul Voigt das Anwachsen des Bodenwerts innerhalb der deutschen
Großstädte für die Jahre 1870 bis 1898 auf siebeneinhalb Milliarden Mark
Zuwachswerte berechnet, so schätzen wir heute mit zehn Milliarden kaum zu
hoch, und die Wertsteigcrung des Bodens rund um die Stadtgrenzen dürfte
jenem Betrage allermindestens gleichkommen. Somit scheinen die Aussichten für
die allgemeine Umgestaltung unsers Wohnungswesens auf Grund des Einzel¬
wohnhauses noch recht trübe. Und mit einiger Sehnsucht schauen wir nach
England hinüber, wo zwar neuerdings in einzelnen Städten das kontinentale
Etagenmiethaus an Boden gewinnt, die überwältigende Mehrheit der Be¬
völkerung aber nach wie vor am überlieferten Einzelwohnhause festhält. Allein
die Hoffnung auf den Ausbau des städtischen Vorortverkehrs läßt uns an
die Verwirklichung des Ideals glauben, daß nach und nach auch der nomadi¬
sierende so gut wie der ansässige Städter sein Haus für sich werde genießen
können.

Zu diesen Gedanken regt ein Werk über „Das Einzelwohnhaus der Neu¬
zeit" an, das E. Haenel und H. Tscharmann kürzlich herausgegeben haben (Leipzig,


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[0094] Die neue Baugesinnung wir noch niedrig, wenn wir das Verhältnis der Grundstücksbesitzer zu den Mietern wie eins zu fünf annehmen. In manchen Vierteln dürfte das Verhältnis eins zu zehn nichts seltnes sein. Es ist aber wohl kein Zweifel, daß bei der subjektivistischen Richtung des gesamten modernen Lebens die Sehnsucht nach Freiheit in den eignen vier Wänden von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunehmen wird. Wir Stadtmenschen sind ja eigentlich noch gar keine richtigen Städter, wir sind einstweilen ganz über¬ wiegend Landflüchtige, vom reichen Tisch des freien Landes als überzählig Verstoßne, und das uralte Bauernblut des Germanen wird sich auch nicht gar so schnell an das steinerne Meer der Stadt gewöhnen, es wird immer wieder hinaus verlangen ins freie Feld und in den rauschenden Wald. Und so wird die modernste Form der Hörigkeit: die Wohnhörigkeit, ebenso überwunden werden wie die frühern unfreien Lebensverhältnisse der Ahnen auch. Erscheint die Miet¬ kaserne wirklich schon als der Weisheit letzter Schluß? Wenn auch nicht überall das Eigenhaus an ihre Stelle treten kann — das Einzelwohnhaus ist kein unerreichbares Ideal, und ein besseres, scheint mir, als die kollektivistisch bewirtschaftete Zinskaserne mit ihren Zentralen fürs Stiefelputzen, Kaffeekochen und Kindererziehen. Einstweilen freilich ist der rein kapitalistisch arbeitende Grundbesitz, nament¬ lich um unsre aufblühenden Großstädte herum, in schier unbezwinglicher Position. Alles, was irgendwie als Bauland in Betracht kommt und Nutzen verspricht, hat die Spekulation entweder unmittelbar in Beschlag genommen oder mittelbar übermäßig im Wert gesteigert. Berlin kann sein besondres Lied davon singen. Der Spekulationswert kann aber nur zum allerkleinsten Teile durch den Ertrag von Einzelwohnhäusern gedeckt werden, zumeist muß die Mietkaserne das Terrain erschließen und die erstrebte Dividende abwerfen. Wenn (der leider früh ver¬ storbne) Paul Voigt das Anwachsen des Bodenwerts innerhalb der deutschen Großstädte für die Jahre 1870 bis 1898 auf siebeneinhalb Milliarden Mark Zuwachswerte berechnet, so schätzen wir heute mit zehn Milliarden kaum zu hoch, und die Wertsteigcrung des Bodens rund um die Stadtgrenzen dürfte jenem Betrage allermindestens gleichkommen. Somit scheinen die Aussichten für die allgemeine Umgestaltung unsers Wohnungswesens auf Grund des Einzel¬ wohnhauses noch recht trübe. Und mit einiger Sehnsucht schauen wir nach England hinüber, wo zwar neuerdings in einzelnen Städten das kontinentale Etagenmiethaus an Boden gewinnt, die überwältigende Mehrheit der Be¬ völkerung aber nach wie vor am überlieferten Einzelwohnhause festhält. Allein die Hoffnung auf den Ausbau des städtischen Vorortverkehrs läßt uns an die Verwirklichung des Ideals glauben, daß nach und nach auch der nomadi¬ sierende so gut wie der ansässige Städter sein Haus für sich werde genießen können. Zu diesen Gedanken regt ein Werk über „Das Einzelwohnhaus der Neu¬ zeit" an, das E. Haenel und H. Tscharmann kürzlich herausgegeben haben (Leipzig,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/94>, abgerufen am 24.07.2024.