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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die neue Baugesinnung

europäischen Zivilisation entschieden hat", wo wir wiederum lieber sagen
würden: das Schicksal Europas. -- Das Rätsel des Untergangs der an¬
tiken Welt ist ja schon von Otto secat einigermaßen aufgehellt worden, von
Ferreros nächsten Bänden dürfen wir weitere Aufhellungen erwarten. . j


Carl Ientsch


Die neue Baugesinnung
i

?it Absicht sage ich so und nicht: die neue Baukunst; denn die
ist noch nicht recht da. Aber sie will kommen, sie hat Vorläufer
mit guter Botschaft und glaubwürdigen Zeugnissen gesandt, sie
hat Propheten und Wahrsager erweckt, und im Volke der Laien
regt sich langsam aber unverkennbar erstarkend eine Zuversicht
zum neuen Leben in der Baukunst, eine neue Baugesinnung.

Es könnte einem Angst werden um die Lebenskraft dieser Gesinnung, wenn
man ihren stark theoretischen, bewußt geweckten Ursprung bedenkt. Aber es waren
wohl auch in frühern Zeiten des Stilübergangs immer erst Einzelne, die vom
Hauche des neuen Geistes berührt und fähig wurden zur Forderung oder gleich
zur Schöpfung neuer Formen für diesen Geist. Die Bewußtheit unsers heutigen
Lebens, das auf Selbstanalyse bedacht ist wie keines vor ihm, hat auch die
bewußte Theorie vor die Praxis der neuen Formensprache gesetzt, der unsre
Architektur zustrebt. Wir wollen die Frage offen lassen, ob die gesteigerte Öffent¬
lichkeit in solchen Kultur- und Kunstwandlungen mehr geschadet oder genutzt
hat. Denkt man an den großartigsten Versuch, eine neue Baugesinnung in der
breitesten Öffentlichkeit zu wecken, an die Dresdner Kunstgewerbeausstellung des
Jahres 1906 zurück, so ist man geneigt, den Nutzen der konzentrierter Öffent¬
lichkeit, der eine solche Ausstellung ausgesetzt ist, höher anzuschlagen als den
Schaden, den sie allenfalls durch Festlegung der Phantasie stiften kann. Nun
ist gar noch ein Sammelwerk über die Ausstellung erschienen (München, Vruck-
mann, 15 Mark gebunden), das die dort empfangner Eindrücke zu vertiefen
lind praktisch nutzbar zu machen bestimmt ist. Nach den einleitenden Aufsätzen
von Schumacher, Gurlitt, Muthesius, Naumann u. a. folgen an 460 Abbil¬
dungen, die eine Auswahl der besten Räume und Einzelstücke zeigen. Die
Formen werden klar, aber die Farben? Wie schwer sind sie aus den ein¬
farbigen Rasterdrucken ohne die geringsten Angaben zu rekonstruieren? Ich
glaube doch, daß solche Sammelwerke den Sprung ins Farbige werden wagen
müssen, wenn sie wirklich nutzen wollen. Wie oft ist nur die Farbe das einigende
Element, das die Formen erst verständlich macht. Ein besondrer Vorwurf ist
demi vorzüglich ausgestatteten Werke auf Grund dieses Mangels nicht zu machen,


Die neue Baugesinnung

europäischen Zivilisation entschieden hat", wo wir wiederum lieber sagen
würden: das Schicksal Europas. — Das Rätsel des Untergangs der an¬
tiken Welt ist ja schon von Otto secat einigermaßen aufgehellt worden, von
Ferreros nächsten Bänden dürfen wir weitere Aufhellungen erwarten. . j


Carl Ientsch


Die neue Baugesinnung
i

?it Absicht sage ich so und nicht: die neue Baukunst; denn die
ist noch nicht recht da. Aber sie will kommen, sie hat Vorläufer
mit guter Botschaft und glaubwürdigen Zeugnissen gesandt, sie
hat Propheten und Wahrsager erweckt, und im Volke der Laien
regt sich langsam aber unverkennbar erstarkend eine Zuversicht
zum neuen Leben in der Baukunst, eine neue Baugesinnung.

Es könnte einem Angst werden um die Lebenskraft dieser Gesinnung, wenn
man ihren stark theoretischen, bewußt geweckten Ursprung bedenkt. Aber es waren
wohl auch in frühern Zeiten des Stilübergangs immer erst Einzelne, die vom
Hauche des neuen Geistes berührt und fähig wurden zur Forderung oder gleich
zur Schöpfung neuer Formen für diesen Geist. Die Bewußtheit unsers heutigen
Lebens, das auf Selbstanalyse bedacht ist wie keines vor ihm, hat auch die
bewußte Theorie vor die Praxis der neuen Formensprache gesetzt, der unsre
Architektur zustrebt. Wir wollen die Frage offen lassen, ob die gesteigerte Öffent¬
lichkeit in solchen Kultur- und Kunstwandlungen mehr geschadet oder genutzt
hat. Denkt man an den großartigsten Versuch, eine neue Baugesinnung in der
breitesten Öffentlichkeit zu wecken, an die Dresdner Kunstgewerbeausstellung des
Jahres 1906 zurück, so ist man geneigt, den Nutzen der konzentrierter Öffent¬
lichkeit, der eine solche Ausstellung ausgesetzt ist, höher anzuschlagen als den
Schaden, den sie allenfalls durch Festlegung der Phantasie stiften kann. Nun
ist gar noch ein Sammelwerk über die Ausstellung erschienen (München, Vruck-
mann, 15 Mark gebunden), das die dort empfangner Eindrücke zu vertiefen
lind praktisch nutzbar zu machen bestimmt ist. Nach den einleitenden Aufsätzen
von Schumacher, Gurlitt, Muthesius, Naumann u. a. folgen an 460 Abbil¬
dungen, die eine Auswahl der besten Räume und Einzelstücke zeigen. Die
Formen werden klar, aber die Farben? Wie schwer sind sie aus den ein¬
farbigen Rasterdrucken ohne die geringsten Angaben zu rekonstruieren? Ich
glaube doch, daß solche Sammelwerke den Sprung ins Farbige werden wagen
müssen, wenn sie wirklich nutzen wollen. Wie oft ist nur die Farbe das einigende
Element, das die Formen erst verständlich macht. Ein besondrer Vorwurf ist
demi vorzüglich ausgestatteten Werke auf Grund dieses Mangels nicht zu machen,


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[0092] Die neue Baugesinnung europäischen Zivilisation entschieden hat", wo wir wiederum lieber sagen würden: das Schicksal Europas. — Das Rätsel des Untergangs der an¬ tiken Welt ist ja schon von Otto secat einigermaßen aufgehellt worden, von Ferreros nächsten Bänden dürfen wir weitere Aufhellungen erwarten. . j Carl Ientsch Die neue Baugesinnung i ?it Absicht sage ich so und nicht: die neue Baukunst; denn die ist noch nicht recht da. Aber sie will kommen, sie hat Vorläufer mit guter Botschaft und glaubwürdigen Zeugnissen gesandt, sie hat Propheten und Wahrsager erweckt, und im Volke der Laien regt sich langsam aber unverkennbar erstarkend eine Zuversicht zum neuen Leben in der Baukunst, eine neue Baugesinnung. Es könnte einem Angst werden um die Lebenskraft dieser Gesinnung, wenn man ihren stark theoretischen, bewußt geweckten Ursprung bedenkt. Aber es waren wohl auch in frühern Zeiten des Stilübergangs immer erst Einzelne, die vom Hauche des neuen Geistes berührt und fähig wurden zur Forderung oder gleich zur Schöpfung neuer Formen für diesen Geist. Die Bewußtheit unsers heutigen Lebens, das auf Selbstanalyse bedacht ist wie keines vor ihm, hat auch die bewußte Theorie vor die Praxis der neuen Formensprache gesetzt, der unsre Architektur zustrebt. Wir wollen die Frage offen lassen, ob die gesteigerte Öffent¬ lichkeit in solchen Kultur- und Kunstwandlungen mehr geschadet oder genutzt hat. Denkt man an den großartigsten Versuch, eine neue Baugesinnung in der breitesten Öffentlichkeit zu wecken, an die Dresdner Kunstgewerbeausstellung des Jahres 1906 zurück, so ist man geneigt, den Nutzen der konzentrierter Öffent¬ lichkeit, der eine solche Ausstellung ausgesetzt ist, höher anzuschlagen als den Schaden, den sie allenfalls durch Festlegung der Phantasie stiften kann. Nun ist gar noch ein Sammelwerk über die Ausstellung erschienen (München, Vruck- mann, 15 Mark gebunden), das die dort empfangner Eindrücke zu vertiefen lind praktisch nutzbar zu machen bestimmt ist. Nach den einleitenden Aufsätzen von Schumacher, Gurlitt, Muthesius, Naumann u. a. folgen an 460 Abbil¬ dungen, die eine Auswahl der besten Räume und Einzelstücke zeigen. Die Formen werden klar, aber die Farben? Wie schwer sind sie aus den ein¬ farbigen Rasterdrucken ohne die geringsten Angaben zu rekonstruieren? Ich glaube doch, daß solche Sammelwerke den Sprung ins Farbige werden wagen müssen, wenn sie wirklich nutzen wollen. Wie oft ist nur die Farbe das einigende Element, das die Formen erst verständlich macht. Ein besondrer Vorwurf ist demi vorzüglich ausgestatteten Werke auf Grund dieses Mangels nicht zu machen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/92>, abgerufen am 24.07.2024.