Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
<Liü leerte Gibbon

verschwunden sein, wenn nicht die Stürme der Völkerwanderung, die Raub-
züge asiatischer und nordischer Barbaren und der Islam den Menschenraub
und Menschenhandel aufs neue in Gang gebracht hätten.

Wenden wir uns nun der andern angeblichen Ursache des vermeintlichen
Untergangs des italischen Bauernstandes zu, so hat sie nach Ferrero gar
nicht existiert; in einer besondern Abhandlung beweist er, daß das Altertum
den Getreidehandel im heutigen Sinne nicht gekannt hat. Er stützt sich be¬
sonders auf gelegentliche Äußerungen Zceuophons und des Redners Demosthenes.
In dessen Zeit vermochte der attische Boden die cmgewachsne Bevölkerung
Athens nicht mehr zu ernähren, und es mußten alljährlich 400000 bis
500000 Hektoliter Brotkorn eingeführt werden. Das konnte aber nur durch
strenge Maßregeln des Staates möglich gemacht werden. Unter Androhung
harter Strafen wurde den Kaufleuten und Reedern, die ätherische Waren aus-
führten, befohlen, als Rückfracht Getreide zu laden, und es kam vor, daß ein
Kapitän, der seine in der Krim gekaufte Getreideladung statt im Piräus in
einem Hafen außerhalb Attikas gelöscht hatte, mit dem Tode bestraft wurde.
"Während die meisten heutigen Industriestaaten die Einfuhr von Zerealien
durch Schutzzölle zu hemmen suchen, war Athen bestrebt, mit allen Mitteln
der Diplomatie und durch Kriege die ununterbrochne, reichliche Getreideeinfuhr
zu sichern." Der Getreidehandel war eben so unbequem, riskant und un¬
rentabel, daß sich kein Kaufmann aus freier Wahl damit abgeben mochte.
Nur sehr wenig Länder erzeugten manchmal einen Überschuß über den eignen
Bedarf; für gewöhnlich deckte die Ernte nur eben zur Not das heimische Be¬
dürfnis; aber dieses wurde eben auch gewöhnlich von der eignen Landwirt¬
schaft befriedigt. Es fehlte dem Händler also zunächst sowohl die feste Bezugs¬
quelle wie der feste Absatzmarkt. Die wenigen, die sich auf den faulen Handel
einließen, spekulierten auf die Hungersnöte, die bald in diesem, bald in jenem
Lande infolge einer Mißernte ausbrachen. Der heutige private Getreidehandel
ist die gleichmäßig arbeitende Maschine zur Versorgung der an beständiger
Unterproduktion leidenden Länder aus den Ländern der ebenso beständigen
Überschüsse. Beide Gebiete sind konstant und allgemein bekannt; zwischen
Einkauf- und Absatzmarkt bestehn feste Beziehungen (daß Rußland immer noch
von seiner autokratischen Regierung zwangsweise in der Gruppe der Export¬
länder festgehalten wird, auch seitdem es aus einem Lande periodischer ein
solches der ständigen Hungersnöte geworden ist, kann als eine unerhörte
Anomalie keinen Einwurf gegen die Gesetzmäßigkeit und Natürlichkeit des
Gesamtzustcmdcs abgeben). Und die Arbeit dieser Maschinerie gleicht die Preise
der verschiednen Länder aus. Nur im Wechsel der Jahre schwankt der Welt¬
preis mit dem Ertrage der Welternten, und nur auf diesen Wechsel in der
Zeit kann sich die Spekulation aufbauen. Die Spekulation des Altertums
gründete sich nicht auf temporelle sondern auf lokale Unterschiede: auf den
Unterschied der Getreidepreise zwischen einem Lande, das zufällig Überschüsse


<Liü leerte Gibbon

verschwunden sein, wenn nicht die Stürme der Völkerwanderung, die Raub-
züge asiatischer und nordischer Barbaren und der Islam den Menschenraub
und Menschenhandel aufs neue in Gang gebracht hätten.

Wenden wir uns nun der andern angeblichen Ursache des vermeintlichen
Untergangs des italischen Bauernstandes zu, so hat sie nach Ferrero gar
nicht existiert; in einer besondern Abhandlung beweist er, daß das Altertum
den Getreidehandel im heutigen Sinne nicht gekannt hat. Er stützt sich be¬
sonders auf gelegentliche Äußerungen Zceuophons und des Redners Demosthenes.
In dessen Zeit vermochte der attische Boden die cmgewachsne Bevölkerung
Athens nicht mehr zu ernähren, und es mußten alljährlich 400000 bis
500000 Hektoliter Brotkorn eingeführt werden. Das konnte aber nur durch
strenge Maßregeln des Staates möglich gemacht werden. Unter Androhung
harter Strafen wurde den Kaufleuten und Reedern, die ätherische Waren aus-
führten, befohlen, als Rückfracht Getreide zu laden, und es kam vor, daß ein
Kapitän, der seine in der Krim gekaufte Getreideladung statt im Piräus in
einem Hafen außerhalb Attikas gelöscht hatte, mit dem Tode bestraft wurde.
„Während die meisten heutigen Industriestaaten die Einfuhr von Zerealien
durch Schutzzölle zu hemmen suchen, war Athen bestrebt, mit allen Mitteln
der Diplomatie und durch Kriege die ununterbrochne, reichliche Getreideeinfuhr
zu sichern." Der Getreidehandel war eben so unbequem, riskant und un¬
rentabel, daß sich kein Kaufmann aus freier Wahl damit abgeben mochte.
Nur sehr wenig Länder erzeugten manchmal einen Überschuß über den eignen
Bedarf; für gewöhnlich deckte die Ernte nur eben zur Not das heimische Be¬
dürfnis; aber dieses wurde eben auch gewöhnlich von der eignen Landwirt¬
schaft befriedigt. Es fehlte dem Händler also zunächst sowohl die feste Bezugs¬
quelle wie der feste Absatzmarkt. Die wenigen, die sich auf den faulen Handel
einließen, spekulierten auf die Hungersnöte, die bald in diesem, bald in jenem
Lande infolge einer Mißernte ausbrachen. Der heutige private Getreidehandel
ist die gleichmäßig arbeitende Maschine zur Versorgung der an beständiger
Unterproduktion leidenden Länder aus den Ländern der ebenso beständigen
Überschüsse. Beide Gebiete sind konstant und allgemein bekannt; zwischen
Einkauf- und Absatzmarkt bestehn feste Beziehungen (daß Rußland immer noch
von seiner autokratischen Regierung zwangsweise in der Gruppe der Export¬
länder festgehalten wird, auch seitdem es aus einem Lande periodischer ein
solches der ständigen Hungersnöte geworden ist, kann als eine unerhörte
Anomalie keinen Einwurf gegen die Gesetzmäßigkeit und Natürlichkeit des
Gesamtzustcmdcs abgeben). Und die Arbeit dieser Maschinerie gleicht die Preise
der verschiednen Länder aus. Nur im Wechsel der Jahre schwankt der Welt¬
preis mit dem Ertrage der Welternten, und nur auf diesen Wechsel in der
Zeit kann sich die Spekulation aufbauen. Die Spekulation des Altertums
gründete sich nicht auf temporelle sondern auf lokale Unterschiede: auf den
Unterschied der Getreidepreise zwischen einem Lande, das zufällig Überschüsse


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0088" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/309699"/>
          <fw type="header" place="top"> &lt;Liü leerte Gibbon</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_273" prev="#ID_272"> verschwunden sein, wenn nicht die Stürme der Völkerwanderung, die Raub-<lb/>
züge asiatischer und nordischer Barbaren und der Islam den Menschenraub<lb/>
und Menschenhandel aufs neue in Gang gebracht hätten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_274" next="#ID_275"> Wenden wir uns nun der andern angeblichen Ursache des vermeintlichen<lb/>
Untergangs des italischen Bauernstandes zu, so hat sie nach Ferrero gar<lb/>
nicht existiert; in einer besondern Abhandlung beweist er, daß das Altertum<lb/>
den Getreidehandel im heutigen Sinne nicht gekannt hat.  Er stützt sich be¬<lb/>
sonders auf gelegentliche Äußerungen Zceuophons und des Redners Demosthenes.<lb/>
In dessen Zeit vermochte der attische Boden die cmgewachsne Bevölkerung<lb/>
Athens nicht mehr zu ernähren, und es mußten alljährlich 400000 bis<lb/>
500000 Hektoliter Brotkorn eingeführt werden.  Das konnte aber nur durch<lb/>
strenge Maßregeln des Staates möglich gemacht werden.  Unter Androhung<lb/>
harter Strafen wurde den Kaufleuten und Reedern, die ätherische Waren aus-<lb/>
führten, befohlen, als Rückfracht Getreide zu laden, und es kam vor, daß ein<lb/>
Kapitän, der seine in der Krim gekaufte Getreideladung statt im Piräus in<lb/>
einem Hafen außerhalb Attikas gelöscht hatte, mit dem Tode bestraft wurde.<lb/>
&#x201E;Während die meisten heutigen Industriestaaten die Einfuhr von Zerealien<lb/>
durch Schutzzölle zu hemmen suchen, war Athen bestrebt, mit allen Mitteln<lb/>
der Diplomatie und durch Kriege die ununterbrochne, reichliche Getreideeinfuhr<lb/>
zu sichern."  Der Getreidehandel war eben so unbequem, riskant und un¬<lb/>
rentabel, daß sich kein Kaufmann aus freier Wahl damit abgeben mochte.<lb/>
Nur sehr wenig Länder erzeugten manchmal einen Überschuß über den eignen<lb/>
Bedarf; für gewöhnlich deckte die Ernte nur eben zur Not das heimische Be¬<lb/>
dürfnis; aber dieses wurde eben auch gewöhnlich von der eignen Landwirt¬<lb/>
schaft befriedigt. Es fehlte dem Händler also zunächst sowohl die feste Bezugs¬<lb/>
quelle wie der feste Absatzmarkt. Die wenigen, die sich auf den faulen Handel<lb/>
einließen, spekulierten auf die Hungersnöte, die bald in diesem, bald in jenem<lb/>
Lande infolge einer Mißernte ausbrachen. Der heutige private Getreidehandel<lb/>
ist die gleichmäßig arbeitende Maschine zur Versorgung der an beständiger<lb/>
Unterproduktion leidenden Länder aus den Ländern der ebenso beständigen<lb/>
Überschüsse.  Beide Gebiete sind konstant und allgemein bekannt; zwischen<lb/>
Einkauf- und Absatzmarkt bestehn feste Beziehungen (daß Rußland immer noch<lb/>
von seiner autokratischen Regierung zwangsweise in der Gruppe der Export¬<lb/>
länder festgehalten wird, auch seitdem es aus einem Lande periodischer ein<lb/>
solches der ständigen Hungersnöte geworden ist, kann als eine unerhörte<lb/>
Anomalie keinen Einwurf gegen die Gesetzmäßigkeit und Natürlichkeit des<lb/>
Gesamtzustcmdcs abgeben). Und die Arbeit dieser Maschinerie gleicht die Preise<lb/>
der verschiednen Länder aus. Nur im Wechsel der Jahre schwankt der Welt¬<lb/>
preis mit dem Ertrage der Welternten, und nur auf diesen Wechsel in der<lb/>
Zeit kann sich die Spekulation aufbauen. Die Spekulation des Altertums<lb/>
gründete sich nicht auf temporelle sondern auf lokale Unterschiede: auf den<lb/>
Unterschied der Getreidepreise zwischen einem Lande, das zufällig Überschüsse</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0088] <Liü leerte Gibbon verschwunden sein, wenn nicht die Stürme der Völkerwanderung, die Raub- züge asiatischer und nordischer Barbaren und der Islam den Menschenraub und Menschenhandel aufs neue in Gang gebracht hätten. Wenden wir uns nun der andern angeblichen Ursache des vermeintlichen Untergangs des italischen Bauernstandes zu, so hat sie nach Ferrero gar nicht existiert; in einer besondern Abhandlung beweist er, daß das Altertum den Getreidehandel im heutigen Sinne nicht gekannt hat. Er stützt sich be¬ sonders auf gelegentliche Äußerungen Zceuophons und des Redners Demosthenes. In dessen Zeit vermochte der attische Boden die cmgewachsne Bevölkerung Athens nicht mehr zu ernähren, und es mußten alljährlich 400000 bis 500000 Hektoliter Brotkorn eingeführt werden. Das konnte aber nur durch strenge Maßregeln des Staates möglich gemacht werden. Unter Androhung harter Strafen wurde den Kaufleuten und Reedern, die ätherische Waren aus- führten, befohlen, als Rückfracht Getreide zu laden, und es kam vor, daß ein Kapitän, der seine in der Krim gekaufte Getreideladung statt im Piräus in einem Hafen außerhalb Attikas gelöscht hatte, mit dem Tode bestraft wurde. „Während die meisten heutigen Industriestaaten die Einfuhr von Zerealien durch Schutzzölle zu hemmen suchen, war Athen bestrebt, mit allen Mitteln der Diplomatie und durch Kriege die ununterbrochne, reichliche Getreideeinfuhr zu sichern." Der Getreidehandel war eben so unbequem, riskant und un¬ rentabel, daß sich kein Kaufmann aus freier Wahl damit abgeben mochte. Nur sehr wenig Länder erzeugten manchmal einen Überschuß über den eignen Bedarf; für gewöhnlich deckte die Ernte nur eben zur Not das heimische Be¬ dürfnis; aber dieses wurde eben auch gewöhnlich von der eignen Landwirt¬ schaft befriedigt. Es fehlte dem Händler also zunächst sowohl die feste Bezugs¬ quelle wie der feste Absatzmarkt. Die wenigen, die sich auf den faulen Handel einließen, spekulierten auf die Hungersnöte, die bald in diesem, bald in jenem Lande infolge einer Mißernte ausbrachen. Der heutige private Getreidehandel ist die gleichmäßig arbeitende Maschine zur Versorgung der an beständiger Unterproduktion leidenden Länder aus den Ländern der ebenso beständigen Überschüsse. Beide Gebiete sind konstant und allgemein bekannt; zwischen Einkauf- und Absatzmarkt bestehn feste Beziehungen (daß Rußland immer noch von seiner autokratischen Regierung zwangsweise in der Gruppe der Export¬ länder festgehalten wird, auch seitdem es aus einem Lande periodischer ein solches der ständigen Hungersnöte geworden ist, kann als eine unerhörte Anomalie keinen Einwurf gegen die Gesetzmäßigkeit und Natürlichkeit des Gesamtzustcmdcs abgeben). Und die Arbeit dieser Maschinerie gleicht die Preise der verschiednen Länder aus. Nur im Wechsel der Jahre schwankt der Welt¬ preis mit dem Ertrage der Welternten, und nur auf diesen Wechsel in der Zeit kann sich die Spekulation aufbauen. Die Spekulation des Altertums gründete sich nicht auf temporelle sondern auf lokale Unterschiede: auf den Unterschied der Getreidepreise zwischen einem Lande, das zufällig Überschüsse

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/88
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/88>, abgerufen am 24.07.2024.