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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die Tätigkeit der ungarischen Koalition

etwa hunderttausend Menschen jubelten dicht gedrängt in den Straßen, die
Menge spannte Wekerle, Kossuth und Polonyi die Pferde aus und ließ zur
Abwechslung wieder einmal den "konstitutionellen" König hochleben. Man
wird die große Begeisterung wohl in der Hauptsache auf die allgemeine Be¬
friedigung über die Beseitigung einer höchst unerquicklich gewordnen Lage und
auf das Friedensbedürfnis der Bevölkerung zu schreiben haben, der die aus¬
geworfne Militärfrage, wie die Ereignisse gezeigt haben, ziemlich unverständlich,
wenn nicht gleichgiltig war. In Wirklichkeit mußte das neue Ministerium
die bisherige Rekrutenziffer bewilligen und hatte sich noch -- was aber
zunächst verschwiegen blieb -- verpflichtet, im dringenden Falle auch eine
Erhöhung zuzugestehn, ferner mußte es das Zollbündnis mit Österreich bis
1917 verlängern, dem Ministerium Fejervary Indemnität erteilen und das
allgemeine Wahlrecht durchführen. Unter diesen Bedingungen, und noch dazu
ohne das allgemeine Wahlrecht, hätte die Koalition die Regierung schon
vierzehn Monate früher antreten können. Es gehört eine besondre politische
Beanlagung dazu, das als einen Sieg der Koalition über die Krone anzu¬
sehen, aber die Presse belehrte einstimmig die Bevölkerung in diesem Sinne.
Die Abklärung der Parteien, von der schon gesprochen worden ist, war in¬
zwischen vor sich gegangen, wenn auch nur im Sinne der an der Fortdauer
der bisherigen parlamentarischen Wirtschaft Beteiligten und Interessierten.
Die Führung dabei hatte die ungarische Großfinanz, die schon unter der
liberalen Parteiherrschaft die eigentliche politische Leitung in der Hand gehabt
hatte, und der nichts daran lag, daß die Koalition in ihrer gesunden
agrarischen Richtung zur Negierung kam. Die Finanzwelt hatte, um ihre
Macht zu zeigen, schon Fejervary unterstützt, aber bloß um der Koalition vor
Augen zu führen, daß sie ohne die Börse ohnmächtig sei. Der Wink wurde
verstanden, mußte ja auch verstanden werden, und danach kam nach und
nach die Verständigung zustande, bei der unter dem Namen der Koalition
die einstige parlamentarische Herrschaft wiederhergestellt wurde. Der Name
Wekerle sagt alles. So wurde aus dem Wahlsieg über die liberale Partei
einfach die Fortsetzung der bisherigen innern Politik unter den Führern der
gewählten Mehrheit, die wieder von dem ehemaligen liberalen Minister und
Vertrauensmann der Börse, Wekerle, geführt wurden. Die Heeresfragen hatte
man, soweit sie dringlicher Natur waren, bewilligt, die große Streitfrage aber
vertagt. Die Hoffnungen auf wirtschaftliche Reformen, um derentwillen das
Volk die Herrschaft der liberalen Partei gebrochen hatte, werden sich nicht ver¬
wirklichen.

Die Neuwahlen, die nun sofort ausgeschrieben wurden, brachten der
Kossuthpartei für sich allein die Mehrheit im Hause; die Gewählten waren
aber bei weitem nicht alle echte Kossuthianer. Wenn man in Betracht zieht,
daß gleich nach der Eröffnung der Session nicht weniger als 172 Abgeordneten
(von 453) die Diäten gepfändet wurden, läßt sich verstehn, wie viele ein wirt¬
schaftliches Interesse daran hatten, daß die Parlamentsmühle wieder klapperte


Die Tätigkeit der ungarischen Koalition

etwa hunderttausend Menschen jubelten dicht gedrängt in den Straßen, die
Menge spannte Wekerle, Kossuth und Polonyi die Pferde aus und ließ zur
Abwechslung wieder einmal den „konstitutionellen" König hochleben. Man
wird die große Begeisterung wohl in der Hauptsache auf die allgemeine Be¬
friedigung über die Beseitigung einer höchst unerquicklich gewordnen Lage und
auf das Friedensbedürfnis der Bevölkerung zu schreiben haben, der die aus¬
geworfne Militärfrage, wie die Ereignisse gezeigt haben, ziemlich unverständlich,
wenn nicht gleichgiltig war. In Wirklichkeit mußte das neue Ministerium
die bisherige Rekrutenziffer bewilligen und hatte sich noch — was aber
zunächst verschwiegen blieb — verpflichtet, im dringenden Falle auch eine
Erhöhung zuzugestehn, ferner mußte es das Zollbündnis mit Österreich bis
1917 verlängern, dem Ministerium Fejervary Indemnität erteilen und das
allgemeine Wahlrecht durchführen. Unter diesen Bedingungen, und noch dazu
ohne das allgemeine Wahlrecht, hätte die Koalition die Regierung schon
vierzehn Monate früher antreten können. Es gehört eine besondre politische
Beanlagung dazu, das als einen Sieg der Koalition über die Krone anzu¬
sehen, aber die Presse belehrte einstimmig die Bevölkerung in diesem Sinne.
Die Abklärung der Parteien, von der schon gesprochen worden ist, war in¬
zwischen vor sich gegangen, wenn auch nur im Sinne der an der Fortdauer
der bisherigen parlamentarischen Wirtschaft Beteiligten und Interessierten.
Die Führung dabei hatte die ungarische Großfinanz, die schon unter der
liberalen Parteiherrschaft die eigentliche politische Leitung in der Hand gehabt
hatte, und der nichts daran lag, daß die Koalition in ihrer gesunden
agrarischen Richtung zur Negierung kam. Die Finanzwelt hatte, um ihre
Macht zu zeigen, schon Fejervary unterstützt, aber bloß um der Koalition vor
Augen zu führen, daß sie ohne die Börse ohnmächtig sei. Der Wink wurde
verstanden, mußte ja auch verstanden werden, und danach kam nach und
nach die Verständigung zustande, bei der unter dem Namen der Koalition
die einstige parlamentarische Herrschaft wiederhergestellt wurde. Der Name
Wekerle sagt alles. So wurde aus dem Wahlsieg über die liberale Partei
einfach die Fortsetzung der bisherigen innern Politik unter den Führern der
gewählten Mehrheit, die wieder von dem ehemaligen liberalen Minister und
Vertrauensmann der Börse, Wekerle, geführt wurden. Die Heeresfragen hatte
man, soweit sie dringlicher Natur waren, bewilligt, die große Streitfrage aber
vertagt. Die Hoffnungen auf wirtschaftliche Reformen, um derentwillen das
Volk die Herrschaft der liberalen Partei gebrochen hatte, werden sich nicht ver¬
wirklichen.

Die Neuwahlen, die nun sofort ausgeschrieben wurden, brachten der
Kossuthpartei für sich allein die Mehrheit im Hause; die Gewählten waren
aber bei weitem nicht alle echte Kossuthianer. Wenn man in Betracht zieht,
daß gleich nach der Eröffnung der Session nicht weniger als 172 Abgeordneten
(von 453) die Diäten gepfändet wurden, läßt sich verstehn, wie viele ein wirt¬
schaftliches Interesse daran hatten, daß die Parlamentsmühle wieder klapperte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/71>, abgerufen am 04.07.2024.