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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Studien über die Romantik

die Schrecken des Rückzuges war er herabzumindern beflissen, teils aus Liebe
zum Paradoxen, teils um seine Kaltblütigkeit glänzen zu lassen, die ihn "diese
titanische Episode wie ein Glas Limonade genießen ließ". Von den Qualen
der hungernden und frierenden Soldaten hat er freilich selbst nichts empfunden.
"Er reiste im Wagen, war freier Herr seiner Entschließungen, und an Lebens¬
mitteln kann es ihm nicht gefehlt haben, da es ja seine amtliche Obliegenheit
war, diese den andern zu verschaffen. Als er seine Energie nachlassen fühlte,
schützte er Unwohlsein vor, nahm die Post und fuhr in einem Zuge bis nach
Königsberg, wo er sich am Abend seiner Ankunft "die Milde des Titus"
anhörte."

Wie sind die beiden wunderlichen Käuze in eine "Philosophie des Im¬
perialismus" geraten? Mir den zweiten könnte man im Scherz geltend machen,
daß er Beamter eines Imperators gewesen ist. Und romantisch kann man sie
nur nennen, wenn man alles zur Romantik rechnet, was jenseits der Grenzen
spießbürgerlicher Ordnung liegt. Um den Titel seines Buches einigermaßen
gerechtfertigt erscheinen zu lassen, hat Seilliere den beiden Monographien eine
Einleitung vorausgeschickt, die eine Verbindung zwischen ihnen herstellen soll.
Die drei Kapitel dieser Einleitung sind überschrieben: Die dreifache Wurzel des
romantischen Seelenzustandes, Die fünf Generationen des Romantismus, Die
Heilung der romantischen Krankheit. Auf eine kritische Analyse dieser Ab¬
handlung muß ich verzichten, weil sie sich zu einem ganzen Buche auswachsen
würde. Ein paar Bemerkungen mögen zu einiger Klärung der darin ange¬
richteten Verwicklung von Tatsachen und Theorien einiges beitragen. Seilliere
wird von einer sehr achtungswerten Tendenz beseelt. Was er Romantismus
nennt, das ist der Inbegriff alles Krankhaften im heutigen Seelen- und Völker¬
leben: das Überwuchern der Vernunft durch Gefühle, Phantasien und sinnliche
Triebe, die Ertötung des Pflichtgefühls durch das Betonen des Rechts auf
Genuß, das Streben der gierigen ungebildeten Massen nach der Gewalt im
Staate, das Schwelgen der fein organisierten Geister im ästhetischen Genuß ohne
Rücksicht auf ihre Pflichten gegen das Gemeinwesen. Er steht diesem "Roman¬
tismus" gegenüber, etwa so wie bei uns die Männer des kategorischen Im¬
perativs einerseits den Sozialdemokraten, andrerseits den um die "Jugend" und
den "Simplicissimus" oder um das Berliner Theater sich scharenden literarischen
Feinschmeckern gegenüberstehn; man mag auch an die vernichtende Kritik denken,
die Schiller an Bürger geübt hat, und an die Entrüstung, die in frommen
Kreisen Schlegels Lucinde hervorrief. Natürlich sind wir darin mit ihm ein¬
verstanden. Besonders da er dabei augenscheinlich einen patriotischen Zweck im
Auge hat, den er freilich nicht offen auszusprechen wagt -- wir werden ihn
sogleich andeuten. Aber wenn er alle diese von ihm bekämpften Krankheits¬
erscheinungen in die Kategorie "Romantik" zusammenpreßt, so gibt er einen
falschen Begriff von dem, was wir in Deutschland unter diesem Worte verstehn.
Außerdem verteilt er die geschichtlichen Tatsachen falsch in die beiden Kategorien


Studien über die Romantik

die Schrecken des Rückzuges war er herabzumindern beflissen, teils aus Liebe
zum Paradoxen, teils um seine Kaltblütigkeit glänzen zu lassen, die ihn „diese
titanische Episode wie ein Glas Limonade genießen ließ". Von den Qualen
der hungernden und frierenden Soldaten hat er freilich selbst nichts empfunden.
„Er reiste im Wagen, war freier Herr seiner Entschließungen, und an Lebens¬
mitteln kann es ihm nicht gefehlt haben, da es ja seine amtliche Obliegenheit
war, diese den andern zu verschaffen. Als er seine Energie nachlassen fühlte,
schützte er Unwohlsein vor, nahm die Post und fuhr in einem Zuge bis nach
Königsberg, wo er sich am Abend seiner Ankunft »die Milde des Titus«
anhörte."

Wie sind die beiden wunderlichen Käuze in eine „Philosophie des Im¬
perialismus" geraten? Mir den zweiten könnte man im Scherz geltend machen,
daß er Beamter eines Imperators gewesen ist. Und romantisch kann man sie
nur nennen, wenn man alles zur Romantik rechnet, was jenseits der Grenzen
spießbürgerlicher Ordnung liegt. Um den Titel seines Buches einigermaßen
gerechtfertigt erscheinen zu lassen, hat Seilliere den beiden Monographien eine
Einleitung vorausgeschickt, die eine Verbindung zwischen ihnen herstellen soll.
Die drei Kapitel dieser Einleitung sind überschrieben: Die dreifache Wurzel des
romantischen Seelenzustandes, Die fünf Generationen des Romantismus, Die
Heilung der romantischen Krankheit. Auf eine kritische Analyse dieser Ab¬
handlung muß ich verzichten, weil sie sich zu einem ganzen Buche auswachsen
würde. Ein paar Bemerkungen mögen zu einiger Klärung der darin ange¬
richteten Verwicklung von Tatsachen und Theorien einiges beitragen. Seilliere
wird von einer sehr achtungswerten Tendenz beseelt. Was er Romantismus
nennt, das ist der Inbegriff alles Krankhaften im heutigen Seelen- und Völker¬
leben: das Überwuchern der Vernunft durch Gefühle, Phantasien und sinnliche
Triebe, die Ertötung des Pflichtgefühls durch das Betonen des Rechts auf
Genuß, das Streben der gierigen ungebildeten Massen nach der Gewalt im
Staate, das Schwelgen der fein organisierten Geister im ästhetischen Genuß ohne
Rücksicht auf ihre Pflichten gegen das Gemeinwesen. Er steht diesem „Roman¬
tismus" gegenüber, etwa so wie bei uns die Männer des kategorischen Im¬
perativs einerseits den Sozialdemokraten, andrerseits den um die „Jugend" und
den „Simplicissimus" oder um das Berliner Theater sich scharenden literarischen
Feinschmeckern gegenüberstehn; man mag auch an die vernichtende Kritik denken,
die Schiller an Bürger geübt hat, und an die Entrüstung, die in frommen
Kreisen Schlegels Lucinde hervorrief. Natürlich sind wir darin mit ihm ein¬
verstanden. Besonders da er dabei augenscheinlich einen patriotischen Zweck im
Auge hat, den er freilich nicht offen auszusprechen wagt — wir werden ihn
sogleich andeuten. Aber wenn er alle diese von ihm bekämpften Krankheits¬
erscheinungen in die Kategorie „Romantik" zusammenpreßt, so gibt er einen
falschen Begriff von dem, was wir in Deutschland unter diesem Worte verstehn.
Außerdem verteilt er die geschichtlichen Tatsachen falsch in die beiden Kategorien


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[0526] Studien über die Romantik die Schrecken des Rückzuges war er herabzumindern beflissen, teils aus Liebe zum Paradoxen, teils um seine Kaltblütigkeit glänzen zu lassen, die ihn „diese titanische Episode wie ein Glas Limonade genießen ließ". Von den Qualen der hungernden und frierenden Soldaten hat er freilich selbst nichts empfunden. „Er reiste im Wagen, war freier Herr seiner Entschließungen, und an Lebens¬ mitteln kann es ihm nicht gefehlt haben, da es ja seine amtliche Obliegenheit war, diese den andern zu verschaffen. Als er seine Energie nachlassen fühlte, schützte er Unwohlsein vor, nahm die Post und fuhr in einem Zuge bis nach Königsberg, wo er sich am Abend seiner Ankunft »die Milde des Titus« anhörte." Wie sind die beiden wunderlichen Käuze in eine „Philosophie des Im¬ perialismus" geraten? Mir den zweiten könnte man im Scherz geltend machen, daß er Beamter eines Imperators gewesen ist. Und romantisch kann man sie nur nennen, wenn man alles zur Romantik rechnet, was jenseits der Grenzen spießbürgerlicher Ordnung liegt. Um den Titel seines Buches einigermaßen gerechtfertigt erscheinen zu lassen, hat Seilliere den beiden Monographien eine Einleitung vorausgeschickt, die eine Verbindung zwischen ihnen herstellen soll. Die drei Kapitel dieser Einleitung sind überschrieben: Die dreifache Wurzel des romantischen Seelenzustandes, Die fünf Generationen des Romantismus, Die Heilung der romantischen Krankheit. Auf eine kritische Analyse dieser Ab¬ handlung muß ich verzichten, weil sie sich zu einem ganzen Buche auswachsen würde. Ein paar Bemerkungen mögen zu einiger Klärung der darin ange¬ richteten Verwicklung von Tatsachen und Theorien einiges beitragen. Seilliere wird von einer sehr achtungswerten Tendenz beseelt. Was er Romantismus nennt, das ist der Inbegriff alles Krankhaften im heutigen Seelen- und Völker¬ leben: das Überwuchern der Vernunft durch Gefühle, Phantasien und sinnliche Triebe, die Ertötung des Pflichtgefühls durch das Betonen des Rechts auf Genuß, das Streben der gierigen ungebildeten Massen nach der Gewalt im Staate, das Schwelgen der fein organisierten Geister im ästhetischen Genuß ohne Rücksicht auf ihre Pflichten gegen das Gemeinwesen. Er steht diesem „Roman¬ tismus" gegenüber, etwa so wie bei uns die Männer des kategorischen Im¬ perativs einerseits den Sozialdemokraten, andrerseits den um die „Jugend" und den „Simplicissimus" oder um das Berliner Theater sich scharenden literarischen Feinschmeckern gegenüberstehn; man mag auch an die vernichtende Kritik denken, die Schiller an Bürger geübt hat, und an die Entrüstung, die in frommen Kreisen Schlegels Lucinde hervorrief. Natürlich sind wir darin mit ihm ein¬ verstanden. Besonders da er dabei augenscheinlich einen patriotischen Zweck im Auge hat, den er freilich nicht offen auszusprechen wagt — wir werden ihn sogleich andeuten. Aber wenn er alle diese von ihm bekämpften Krankheits¬ erscheinungen in die Kategorie „Romantik" zusammenpreßt, so gibt er einen falschen Begriff von dem, was wir in Deutschland unter diesem Worte verstehn. Außerdem verteilt er die geschichtlichen Tatsachen falsch in die beiden Kategorien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/526>, abgerufen am 24.07.2024.