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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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volksrichtertum und Selbstverwaltung

Haupt nichts zu tun haben. Die gebotne Entschädigung für Arbeits- und
Zeitverlust wird nicht sehr locken, besonders wenn nach den Sitzungen, wie
es sich die Zeugen gefallen lassen müssen, in den Gerichtsschreibereien um
die Höhe der Entschädigung gefeilscht werden muß: gleiche Sätze, wie bei den
Abgeordneten, können doch wohl kaum angenommen werden, da für die
Schöffen vielfach Reisekosten dazu kommen, die für jeden einzelnen besonders
berechnet werden. Vielen würde mit einem dürftigen Entgelt trotzdem nicht
gedient sein; sie versäumen in ihrer Wirtschaft immer noch mehr, als ihnen
vom Staate geboten werden kann, und die Arbeiter vollends, mögen sie in
Fabriken oder in der Landwirtschaft beschäftigt sein, werden keine große Lust
haben, sich in ihren Sonntagsstaat zu werfen und in die Stadt zu laufen,
um an Schöffensitzungen teilzunehmen, die ihnen im Grunde genommen höchst
gleichgiltig sind. Die Führer der Sozialdemokraten sind in diesem Punkte
zwar andrer Meinung und erwarten alles Heil von der Beteiligung der Ge¬
nossen an der Rechtsprechung: wer jedoch die arbeitende Bevölkerung einiger¬
maßen kennt, wird sich sagen, daß sie sich nach der Ausübung eines solchen
Rechts herzlich wenig sehnt.

Um die Probe aufs Exempel zu machen, braucht man nur einmal die
Zustände in der Selbstverwaltung heranzuziehn.

Am 19. November 1909 sind in Preußen hundert Jahre verflossen,
seitdem Freiherr vom Stein die Städteordnung schuf und dadurch die Bürger¬
schaft zur tätigen Mitwirkung an der Gemeindeverwaltung veranlaßte. Durch
spätere Gesetze ist dann diese Verwaltungstätigkeit des Volkes erweitert und
ausgebaut worden, und in gleicher Weise hat die Kirche eine synodale Ver¬
fassung bekommen, wodurch die Vertretung der Laiengemeinde an der kirch¬
lichen Verwaltung gewährleistet worden ist. Man kann also mit Recht sagen,
daß die politischen Rechte des Volkes in jeder Weise anerkannt und ver¬
wirklicht worden sind, da grundsätzlich auch die unbemittelten Volksschichten
von der Ausübung dieser Rechte nicht ausgeschlossen werden.

Und doch hören die Klagen über schlechte Wahrung der wohlerworbnen
Volksrechte nicht auf, zumal auf dem Gebiete der kirchlichen Verwaltung. Es
finden sich zuweilen kaum so viel Männer zu den Kirchenwcihlen ein. daß die
nötige Zahl der zu wählenden Mitglieder für die Gemeindekirchenvertretung
herauskommt; wer zur Wahl erscheint, kann beinahe sicher sein, gewählt zu
werden. Aus dem Arbeiterstande erscheint überhaupt niemand, wenn er nicht
etwa von der Dienstherrschaft mit sanfter Gewalt zur Eintragung in die
Wählerliste und zur Wahl genötigt worden ist. Die Geistlichen wissen, wie
schwierig es unter Umständen ist, eine beschlußfähige Mehrheit für die Sitzung
zusammenzubringen und müssen dazu oft genug im letzten Augenblick die
säumigen Mitglieder herbeiholen lassen oder eine neue Sitzung anberaumen,
in der ohne Mehrheit beschlossen werden kann. Nun mag allerdings dieser
Übelstand bei den Kirchenwahlen auf die bedauernswerte Gleichgiltigkeit so vieler
Männer, namentlich auch in den höhern Kreisen, in kirchlichen Angelegenheiten


volksrichtertum und Selbstverwaltung

Haupt nichts zu tun haben. Die gebotne Entschädigung für Arbeits- und
Zeitverlust wird nicht sehr locken, besonders wenn nach den Sitzungen, wie
es sich die Zeugen gefallen lassen müssen, in den Gerichtsschreibereien um
die Höhe der Entschädigung gefeilscht werden muß: gleiche Sätze, wie bei den
Abgeordneten, können doch wohl kaum angenommen werden, da für die
Schöffen vielfach Reisekosten dazu kommen, die für jeden einzelnen besonders
berechnet werden. Vielen würde mit einem dürftigen Entgelt trotzdem nicht
gedient sein; sie versäumen in ihrer Wirtschaft immer noch mehr, als ihnen
vom Staate geboten werden kann, und die Arbeiter vollends, mögen sie in
Fabriken oder in der Landwirtschaft beschäftigt sein, werden keine große Lust
haben, sich in ihren Sonntagsstaat zu werfen und in die Stadt zu laufen,
um an Schöffensitzungen teilzunehmen, die ihnen im Grunde genommen höchst
gleichgiltig sind. Die Führer der Sozialdemokraten sind in diesem Punkte
zwar andrer Meinung und erwarten alles Heil von der Beteiligung der Ge¬
nossen an der Rechtsprechung: wer jedoch die arbeitende Bevölkerung einiger¬
maßen kennt, wird sich sagen, daß sie sich nach der Ausübung eines solchen
Rechts herzlich wenig sehnt.

Um die Probe aufs Exempel zu machen, braucht man nur einmal die
Zustände in der Selbstverwaltung heranzuziehn.

Am 19. November 1909 sind in Preußen hundert Jahre verflossen,
seitdem Freiherr vom Stein die Städteordnung schuf und dadurch die Bürger¬
schaft zur tätigen Mitwirkung an der Gemeindeverwaltung veranlaßte. Durch
spätere Gesetze ist dann diese Verwaltungstätigkeit des Volkes erweitert und
ausgebaut worden, und in gleicher Weise hat die Kirche eine synodale Ver¬
fassung bekommen, wodurch die Vertretung der Laiengemeinde an der kirch¬
lichen Verwaltung gewährleistet worden ist. Man kann also mit Recht sagen,
daß die politischen Rechte des Volkes in jeder Weise anerkannt und ver¬
wirklicht worden sind, da grundsätzlich auch die unbemittelten Volksschichten
von der Ausübung dieser Rechte nicht ausgeschlossen werden.

Und doch hören die Klagen über schlechte Wahrung der wohlerworbnen
Volksrechte nicht auf, zumal auf dem Gebiete der kirchlichen Verwaltung. Es
finden sich zuweilen kaum so viel Männer zu den Kirchenwcihlen ein. daß die
nötige Zahl der zu wählenden Mitglieder für die Gemeindekirchenvertretung
herauskommt; wer zur Wahl erscheint, kann beinahe sicher sein, gewählt zu
werden. Aus dem Arbeiterstande erscheint überhaupt niemand, wenn er nicht
etwa von der Dienstherrschaft mit sanfter Gewalt zur Eintragung in die
Wählerliste und zur Wahl genötigt worden ist. Die Geistlichen wissen, wie
schwierig es unter Umständen ist, eine beschlußfähige Mehrheit für die Sitzung
zusammenzubringen und müssen dazu oft genug im letzten Augenblick die
säumigen Mitglieder herbeiholen lassen oder eine neue Sitzung anberaumen,
in der ohne Mehrheit beschlossen werden kann. Nun mag allerdings dieser
Übelstand bei den Kirchenwahlen auf die bedauernswerte Gleichgiltigkeit so vieler
Männer, namentlich auch in den höhern Kreisen, in kirchlichen Angelegenheiten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/515>, abgerufen am 24.07.2024.