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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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volksrichtertum und Selbstverwaltung

treter aus dem Volke haben bei den Sitzungen des Reichsversicherungsamtes
als der obersten Instanz mitzuwirken.

Aus dem vorigen Jahrhundert sind noch die Seeämter zu erwähne",
kollegiale Behörden für die Untersuchung von Seeunfällen. Sie werden von
einem richterlichen Beamten geleitet, dem vier Beisitzer zur Seite stehn, von
denen mindestens zwei Berufsschiffer sein müssen. Das neue Jahrhundert ist
in den eingeschlagnen Bahnen der Sondergerichte weitergeschritten. Seit dem
Neichsgesetz vom 29. September 1901 gibt es Gewerbegerichte, die gewerbliche
Rechtsstreitigkeiten zwischen den Arbeitern und den Arbeitgebern entscheiden und
an die Stelle der ordentlichen Gerichte getreten sind. Sie sind mit einem
Vorsitzenden und mindestens zwei Beisitzern besetzt, von denen je einer dem
Arbeiter- und dem Arbeitgeberstande angehört. Nach gleichen Grundsätzen endlich
sind die seit 1904 bestehenden Kaufmannsgerichte zur Entscheidung von Streitig¬
keiten aus dem Dienst- und Lehrvcrhältnis zwischen den Kaufleuten, Hand¬
lungsgehilfen und Lehrlingen ins Leben gerufen worden; an den Sitzungen
nehmen mindestens vier Beisitzer teil, die zur Hälfte aus Kaufleuten, zur Hälfte
aus Handlungsgehilfen gewählt werden.

So hat in wenigen Jahrzehnten in Deutschland die Sondergerichtsbarkeit
und das Volksgerichtstum eine Ausdehnung erhalten, an die man früher nie
gedacht hat, und es ist keineswegs vorauszusehn, ob uns die Zukunft nicht
noch andre Sondergerichte bringen wird. Es ist zum Beispiel sehr wohl denkbar,
daß die so rührigen Landwirtschaftskammern Lohn- und Gesindestreitigkeiten oder
Klagen zwischen den Landwirten und den verschiedenartigsten Vieh- und Maschinen¬
lieferanten, den Feuer-, Hagel- und Unfallversicherungsanstalten für sich in
Anspruch nähmen und Schiedsgerichte bilden wollten, die mit Landwirten und
Gewerbetreibenden besetzt werden. In gleicher Weise könnten die Handwerks¬
kammern vorgehn und die Streitigkeiten ihrer Berufsgenossen den ordentlichen
Gerichten entziehn, sodaß diese schließlich mehr und mehr von ihrer Bedeutung
verlieren und überflüssig werden. Erst im Februar dieses Jahres war im
Reichstage bei dem Etat des Reichsjustizamts vou Sondergerichteu für Bureau¬
angestellte, Landarbeiter und Gesinde sowie von Jugendgerichten die Rede, und
zwar in derselben Sitzung, wo von sozialdemokratischer Seite wieder einmal
über Klassenjustiz geklagt und sogar von einem Redner der nationalliberalen
Partei diesen Beschwerden über den Klassencharakter mancher Richtersprüche
eine gewisse Berechtigung zugesprochen wurde. Die Bewegung zugunsten eines
ausgedehnten Volksrichtertums ist also noch nicht am Ende; man ist ja eben
bei der Arbeit, den ordentlichen Gerichten in Strafsachen noch mehr Schöffen
beizugeben und kleine, mittlere und große Schöffengerichte einzuführen, die in
allen Instanzen mit Berufs- und Volksrichtern besetzt werden sollen. Die
Einzelheiten sind noch nicht bekannt geworden, doch werden von juristischer
Seite die verschiedensten Vorschläge gemacht, die alle darauf hinauslaufen, das
Vertrauen des Volks zur Strafrechtspflege zu heben und zu stärken.


Grenzboten II 1908 65
volksrichtertum und Selbstverwaltung

treter aus dem Volke haben bei den Sitzungen des Reichsversicherungsamtes
als der obersten Instanz mitzuwirken.

Aus dem vorigen Jahrhundert sind noch die Seeämter zu erwähne»,
kollegiale Behörden für die Untersuchung von Seeunfällen. Sie werden von
einem richterlichen Beamten geleitet, dem vier Beisitzer zur Seite stehn, von
denen mindestens zwei Berufsschiffer sein müssen. Das neue Jahrhundert ist
in den eingeschlagnen Bahnen der Sondergerichte weitergeschritten. Seit dem
Neichsgesetz vom 29. September 1901 gibt es Gewerbegerichte, die gewerbliche
Rechtsstreitigkeiten zwischen den Arbeitern und den Arbeitgebern entscheiden und
an die Stelle der ordentlichen Gerichte getreten sind. Sie sind mit einem
Vorsitzenden und mindestens zwei Beisitzern besetzt, von denen je einer dem
Arbeiter- und dem Arbeitgeberstande angehört. Nach gleichen Grundsätzen endlich
sind die seit 1904 bestehenden Kaufmannsgerichte zur Entscheidung von Streitig¬
keiten aus dem Dienst- und Lehrvcrhältnis zwischen den Kaufleuten, Hand¬
lungsgehilfen und Lehrlingen ins Leben gerufen worden; an den Sitzungen
nehmen mindestens vier Beisitzer teil, die zur Hälfte aus Kaufleuten, zur Hälfte
aus Handlungsgehilfen gewählt werden.

So hat in wenigen Jahrzehnten in Deutschland die Sondergerichtsbarkeit
und das Volksgerichtstum eine Ausdehnung erhalten, an die man früher nie
gedacht hat, und es ist keineswegs vorauszusehn, ob uns die Zukunft nicht
noch andre Sondergerichte bringen wird. Es ist zum Beispiel sehr wohl denkbar,
daß die so rührigen Landwirtschaftskammern Lohn- und Gesindestreitigkeiten oder
Klagen zwischen den Landwirten und den verschiedenartigsten Vieh- und Maschinen¬
lieferanten, den Feuer-, Hagel- und Unfallversicherungsanstalten für sich in
Anspruch nähmen und Schiedsgerichte bilden wollten, die mit Landwirten und
Gewerbetreibenden besetzt werden. In gleicher Weise könnten die Handwerks¬
kammern vorgehn und die Streitigkeiten ihrer Berufsgenossen den ordentlichen
Gerichten entziehn, sodaß diese schließlich mehr und mehr von ihrer Bedeutung
verlieren und überflüssig werden. Erst im Februar dieses Jahres war im
Reichstage bei dem Etat des Reichsjustizamts vou Sondergerichteu für Bureau¬
angestellte, Landarbeiter und Gesinde sowie von Jugendgerichten die Rede, und
zwar in derselben Sitzung, wo von sozialdemokratischer Seite wieder einmal
über Klassenjustiz geklagt und sogar von einem Redner der nationalliberalen
Partei diesen Beschwerden über den Klassencharakter mancher Richtersprüche
eine gewisse Berechtigung zugesprochen wurde. Die Bewegung zugunsten eines
ausgedehnten Volksrichtertums ist also noch nicht am Ende; man ist ja eben
bei der Arbeit, den ordentlichen Gerichten in Strafsachen noch mehr Schöffen
beizugeben und kleine, mittlere und große Schöffengerichte einzuführen, die in
allen Instanzen mit Berufs- und Volksrichtern besetzt werden sollen. Die
Einzelheiten sind noch nicht bekannt geworden, doch werden von juristischer
Seite die verschiedensten Vorschläge gemacht, die alle darauf hinauslaufen, das
Vertrauen des Volks zur Strafrechtspflege zu heben und zu stärken.


Grenzboten II 1908 65
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/513>, abgerufen am 24.07.2024.