Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das vorgoettzische Weimar

Amaliens ist die Einführung der Feuerversicherung, die sie in den Jahren 1763
bis 1772 trotz des Widerstandes der Stände und der Bevölkerung durchsetzte.

Über die öffentliche Sittlichkeit, soweit sie das Volk betraf, wurde mit
drakonischer Strenge gewacht. Bei den Entgleisungen der Honoratioren drückte
man dagegen ein Auge zu, und zwar aus dem Grunde, weil hier die wirtschaft¬
lichen Folgen weniger schwerwiegend waren als bei den Unbemittelten, deren
uneheliche Deszendenz in der Negel der Allgemeinheit zur Last fiel und das
Landstreichertum vermehrte. Aus demselben Grunde erneuerte Amalie 1763 auch
das Gesetz, das allen Männern unter vierundzwanzig Jahren das Heiraten verbot.

Es entsprach durchaus dem Geiste der Zeit, daß man mit immer neuen
Verordnungen den Luxus bekämpfte, was in einem Lande ohne nennenswerte
Industrie gewiß seine Berechtigung hatte. Hand in Hand damit gingen Amaliens
Bemühungen um die öffentliche Gesundheitspflege und die Hebung des Ent¬
bindungswesens, Bestrebungen, bei denen sie freilich dank den Vorurteilen und dem
Aberglauben ihrer Untertanen häufig genug auf Mißtrauen und Widerstand stieß.

Von ganz besondrer Bedeutung waren in dem Lande, dein die Rolle zufallen
sollte, die erste Pflegestätte geistiger Freiheit zu werden, die Stellung und die
Macht der Kirche. Sie war ein wesentlicher Teil des Staates, die Erhaltung
des strengsten Luthertums war die vornehmste Pflicht der Landesherrschaft. In
jedem Ereignis erkannte man den Finger Gottes; mit einer an den Gewissens¬
zwang des Katholizismus gemahnenden Machtfülle machte die Kirche ihren Einfluß
bis in das Privatleben des Einzelnen hinein geltend. Die Kirchenbuße wurde
der ihr zugrunde liegenden vernünftigen Idee entfremdet und zu einer entehrenden
Strafe gemacht, von der sich -- und das war das Bedenklichste! -- Vermögende
mit Geld loskaufen konnten.

Die Volksschule lag, besonders auf den, Lande, wie damals überall im argen.
Die Lehrer, als Glöckner und Küster den Pfarrern untergeben, mußten ein
Handwerk oder Ackerbau treiben. Sie hatten täglich vier Stunden zu unterrichten,
sollten aber auch "die Kirchhöfe mit allem Fleiß verwahren und acht haben, daß
dieselben nicht etwa von den Schweinen zerwühlet und die Gräber von den
Hunden aufgescharret werden". Die meisten waren wohl alte Soldaten, Bediente
oder verkommne Handwerker. Für die wenigen besser gestellten diente das
Gymnasium zu Weimar als Seminar. Es war überhaupt eine seltsame Mischung
verschiedner Bildungsanstalten. Im Jahre 1766, als Professor Musäus, der
Märcheudichter, als "Schulkollege" daran wirkte, zählte es in sechs Klassen
etwa vierhundert Schüler, darunter viele vom Lande, die bei "christlichen, ehr¬
lichen Leuten" untergebracht waren. Über Schulordnung und Lehrplan berichtet
Bode mancherlei Interessantes. Ergötzlich ist, daß zu den vielen Dingen, die
den Schülern verboten waren, auch das Schießen auf der Gasse, das "Auslaufen
auf die Dörfer", das Tabakrauchen und das Baden in der Ilm gehörten. "Kein
Schüler soll sich gelüsten lassen, sich mit Weibspersonen einzulassen und ihnen
die Ehe zu versprechen."


Das vorgoettzische Weimar

Amaliens ist die Einführung der Feuerversicherung, die sie in den Jahren 1763
bis 1772 trotz des Widerstandes der Stände und der Bevölkerung durchsetzte.

Über die öffentliche Sittlichkeit, soweit sie das Volk betraf, wurde mit
drakonischer Strenge gewacht. Bei den Entgleisungen der Honoratioren drückte
man dagegen ein Auge zu, und zwar aus dem Grunde, weil hier die wirtschaft¬
lichen Folgen weniger schwerwiegend waren als bei den Unbemittelten, deren
uneheliche Deszendenz in der Negel der Allgemeinheit zur Last fiel und das
Landstreichertum vermehrte. Aus demselben Grunde erneuerte Amalie 1763 auch
das Gesetz, das allen Männern unter vierundzwanzig Jahren das Heiraten verbot.

Es entsprach durchaus dem Geiste der Zeit, daß man mit immer neuen
Verordnungen den Luxus bekämpfte, was in einem Lande ohne nennenswerte
Industrie gewiß seine Berechtigung hatte. Hand in Hand damit gingen Amaliens
Bemühungen um die öffentliche Gesundheitspflege und die Hebung des Ent¬
bindungswesens, Bestrebungen, bei denen sie freilich dank den Vorurteilen und dem
Aberglauben ihrer Untertanen häufig genug auf Mißtrauen und Widerstand stieß.

Von ganz besondrer Bedeutung waren in dem Lande, dein die Rolle zufallen
sollte, die erste Pflegestätte geistiger Freiheit zu werden, die Stellung und die
Macht der Kirche. Sie war ein wesentlicher Teil des Staates, die Erhaltung
des strengsten Luthertums war die vornehmste Pflicht der Landesherrschaft. In
jedem Ereignis erkannte man den Finger Gottes; mit einer an den Gewissens¬
zwang des Katholizismus gemahnenden Machtfülle machte die Kirche ihren Einfluß
bis in das Privatleben des Einzelnen hinein geltend. Die Kirchenbuße wurde
der ihr zugrunde liegenden vernünftigen Idee entfremdet und zu einer entehrenden
Strafe gemacht, von der sich — und das war das Bedenklichste! — Vermögende
mit Geld loskaufen konnten.

Die Volksschule lag, besonders auf den, Lande, wie damals überall im argen.
Die Lehrer, als Glöckner und Küster den Pfarrern untergeben, mußten ein
Handwerk oder Ackerbau treiben. Sie hatten täglich vier Stunden zu unterrichten,
sollten aber auch „die Kirchhöfe mit allem Fleiß verwahren und acht haben, daß
dieselben nicht etwa von den Schweinen zerwühlet und die Gräber von den
Hunden aufgescharret werden". Die meisten waren wohl alte Soldaten, Bediente
oder verkommne Handwerker. Für die wenigen besser gestellten diente das
Gymnasium zu Weimar als Seminar. Es war überhaupt eine seltsame Mischung
verschiedner Bildungsanstalten. Im Jahre 1766, als Professor Musäus, der
Märcheudichter, als „Schulkollege" daran wirkte, zählte es in sechs Klassen
etwa vierhundert Schüler, darunter viele vom Lande, die bei „christlichen, ehr¬
lichen Leuten" untergebracht waren. Über Schulordnung und Lehrplan berichtet
Bode mancherlei Interessantes. Ergötzlich ist, daß zu den vielen Dingen, die
den Schülern verboten waren, auch das Schießen auf der Gasse, das „Auslaufen
auf die Dörfer", das Tabakrauchen und das Baden in der Ilm gehörten. „Kein
Schüler soll sich gelüsten lassen, sich mit Weibspersonen einzulassen und ihnen
die Ehe zu versprechen."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0422" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312107"/>
          <fw type="header" place="top"> Das vorgoettzische Weimar</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1682" prev="#ID_1681"> Amaliens ist die Einführung der Feuerversicherung, die sie in den Jahren 1763<lb/>
bis 1772 trotz des Widerstandes der Stände und der Bevölkerung durchsetzte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1683"> Über die öffentliche Sittlichkeit, soweit sie das Volk betraf, wurde mit<lb/>
drakonischer Strenge gewacht. Bei den Entgleisungen der Honoratioren drückte<lb/>
man dagegen ein Auge zu, und zwar aus dem Grunde, weil hier die wirtschaft¬<lb/>
lichen Folgen weniger schwerwiegend waren als bei den Unbemittelten, deren<lb/>
uneheliche Deszendenz in der Negel der Allgemeinheit zur Last fiel und das<lb/>
Landstreichertum vermehrte. Aus demselben Grunde erneuerte Amalie 1763 auch<lb/>
das Gesetz, das allen Männern unter vierundzwanzig Jahren das Heiraten verbot.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1684"> Es entsprach durchaus dem Geiste der Zeit, daß man mit immer neuen<lb/>
Verordnungen den Luxus bekämpfte, was in einem Lande ohne nennenswerte<lb/>
Industrie gewiß seine Berechtigung hatte. Hand in Hand damit gingen Amaliens<lb/>
Bemühungen um die öffentliche Gesundheitspflege und die Hebung des Ent¬<lb/>
bindungswesens, Bestrebungen, bei denen sie freilich dank den Vorurteilen und dem<lb/>
Aberglauben ihrer Untertanen häufig genug auf Mißtrauen und Widerstand stieß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1685"> Von ganz besondrer Bedeutung waren in dem Lande, dein die Rolle zufallen<lb/>
sollte, die erste Pflegestätte geistiger Freiheit zu werden, die Stellung und die<lb/>
Macht der Kirche. Sie war ein wesentlicher Teil des Staates, die Erhaltung<lb/>
des strengsten Luthertums war die vornehmste Pflicht der Landesherrschaft. In<lb/>
jedem Ereignis erkannte man den Finger Gottes; mit einer an den Gewissens¬<lb/>
zwang des Katholizismus gemahnenden Machtfülle machte die Kirche ihren Einfluß<lb/>
bis in das Privatleben des Einzelnen hinein geltend. Die Kirchenbuße wurde<lb/>
der ihr zugrunde liegenden vernünftigen Idee entfremdet und zu einer entehrenden<lb/>
Strafe gemacht, von der sich &#x2014; und das war das Bedenklichste! &#x2014; Vermögende<lb/>
mit Geld loskaufen konnten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1686"> Die Volksschule lag, besonders auf den, Lande, wie damals überall im argen.<lb/>
Die Lehrer, als Glöckner und Küster den Pfarrern untergeben, mußten ein<lb/>
Handwerk oder Ackerbau treiben. Sie hatten täglich vier Stunden zu unterrichten,<lb/>
sollten aber auch &#x201E;die Kirchhöfe mit allem Fleiß verwahren und acht haben, daß<lb/>
dieselben nicht etwa von den Schweinen zerwühlet und die Gräber von den<lb/>
Hunden aufgescharret werden". Die meisten waren wohl alte Soldaten, Bediente<lb/>
oder verkommne Handwerker. Für die wenigen besser gestellten diente das<lb/>
Gymnasium zu Weimar als Seminar. Es war überhaupt eine seltsame Mischung<lb/>
verschiedner Bildungsanstalten. Im Jahre 1766, als Professor Musäus, der<lb/>
Märcheudichter, als &#x201E;Schulkollege" daran wirkte, zählte es in sechs Klassen<lb/>
etwa vierhundert Schüler, darunter viele vom Lande, die bei &#x201E;christlichen, ehr¬<lb/>
lichen Leuten" untergebracht waren. Über Schulordnung und Lehrplan berichtet<lb/>
Bode mancherlei Interessantes. Ergötzlich ist, daß zu den vielen Dingen, die<lb/>
den Schülern verboten waren, auch das Schießen auf der Gasse, das &#x201E;Auslaufen<lb/>
auf die Dörfer", das Tabakrauchen und das Baden in der Ilm gehörten. &#x201E;Kein<lb/>
Schüler soll sich gelüsten lassen, sich mit Weibspersonen einzulassen und ihnen<lb/>
die Ehe zu versprechen."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0422] Das vorgoettzische Weimar Amaliens ist die Einführung der Feuerversicherung, die sie in den Jahren 1763 bis 1772 trotz des Widerstandes der Stände und der Bevölkerung durchsetzte. Über die öffentliche Sittlichkeit, soweit sie das Volk betraf, wurde mit drakonischer Strenge gewacht. Bei den Entgleisungen der Honoratioren drückte man dagegen ein Auge zu, und zwar aus dem Grunde, weil hier die wirtschaft¬ lichen Folgen weniger schwerwiegend waren als bei den Unbemittelten, deren uneheliche Deszendenz in der Negel der Allgemeinheit zur Last fiel und das Landstreichertum vermehrte. Aus demselben Grunde erneuerte Amalie 1763 auch das Gesetz, das allen Männern unter vierundzwanzig Jahren das Heiraten verbot. Es entsprach durchaus dem Geiste der Zeit, daß man mit immer neuen Verordnungen den Luxus bekämpfte, was in einem Lande ohne nennenswerte Industrie gewiß seine Berechtigung hatte. Hand in Hand damit gingen Amaliens Bemühungen um die öffentliche Gesundheitspflege und die Hebung des Ent¬ bindungswesens, Bestrebungen, bei denen sie freilich dank den Vorurteilen und dem Aberglauben ihrer Untertanen häufig genug auf Mißtrauen und Widerstand stieß. Von ganz besondrer Bedeutung waren in dem Lande, dein die Rolle zufallen sollte, die erste Pflegestätte geistiger Freiheit zu werden, die Stellung und die Macht der Kirche. Sie war ein wesentlicher Teil des Staates, die Erhaltung des strengsten Luthertums war die vornehmste Pflicht der Landesherrschaft. In jedem Ereignis erkannte man den Finger Gottes; mit einer an den Gewissens¬ zwang des Katholizismus gemahnenden Machtfülle machte die Kirche ihren Einfluß bis in das Privatleben des Einzelnen hinein geltend. Die Kirchenbuße wurde der ihr zugrunde liegenden vernünftigen Idee entfremdet und zu einer entehrenden Strafe gemacht, von der sich — und das war das Bedenklichste! — Vermögende mit Geld loskaufen konnten. Die Volksschule lag, besonders auf den, Lande, wie damals überall im argen. Die Lehrer, als Glöckner und Küster den Pfarrern untergeben, mußten ein Handwerk oder Ackerbau treiben. Sie hatten täglich vier Stunden zu unterrichten, sollten aber auch „die Kirchhöfe mit allem Fleiß verwahren und acht haben, daß dieselben nicht etwa von den Schweinen zerwühlet und die Gräber von den Hunden aufgescharret werden". Die meisten waren wohl alte Soldaten, Bediente oder verkommne Handwerker. Für die wenigen besser gestellten diente das Gymnasium zu Weimar als Seminar. Es war überhaupt eine seltsame Mischung verschiedner Bildungsanstalten. Im Jahre 1766, als Professor Musäus, der Märcheudichter, als „Schulkollege" daran wirkte, zählte es in sechs Klassen etwa vierhundert Schüler, darunter viele vom Lande, die bei „christlichen, ehr¬ lichen Leuten" untergebracht waren. Über Schulordnung und Lehrplan berichtet Bode mancherlei Interessantes. Ergötzlich ist, daß zu den vielen Dingen, die den Schülern verboten waren, auch das Schießen auf der Gasse, das „Auslaufen auf die Dörfer", das Tabakrauchen und das Baden in der Ilm gehörten. „Kein Schüler soll sich gelüsten lassen, sich mit Weibspersonen einzulassen und ihnen die Ehe zu versprechen."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/422
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/422>, abgerufen am 24.07.2024.