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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Neue Uunstbücher

" gerade nicht als einen berühmten Lateiner" gezeigt habe. Und doch war er einer
der besten Kenner der Bibel? d. h. in Italien der Vulgata? Man wird wohl
zugeben können, daß ihm das damals mit großen Ansprüchen auftretende cicero-
nianische Humanistenlatein nicht eigentlich bekannt war; aber ihm die Kenntnis
des spätmittelalterlichen Umgangslatein abzusprechen halten wir für verfehlt. Es
ist dies eine Frage der allgemeinen kulturgeschichtlichen Bildung, ebenso wie
folgendes eine Probe auf die Echtheit der literarischen Empfindlichkeit des Ver¬
fassers ist. Auf Seite 90 sagt Frey: "Wenn nach Lessings Vorgange von
Enthusiasten behauptet worden ist, Raffael wäre doch der göttliche Meister ge¬
worden, würde er auch ohne Hände auf die Welt gekommen sein, so vermag ich
mir diese Perspektive nicht recht vorzustellen." Dazu halten wir zunächst für
gut, die namenlosen Enthusiasten einmal auszuschalten und den Satz, den
Lessing den Maler Conti sprechen läßt, wörtlich zu zitieren: "Meinen Sie,
Prinz, daß Nasfael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er
unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?" Zu beachten ist, daß
auf diese Frage keine Antwort erfolgt. Und dann bitten wir den Leser, bei
Frey Seite 142 den Satz aus einem Briefe Michelangelos aus dem Oktober
1542 nachzulesen: 8i äipiMv col osrusllo 6 non von 1s mani, man malt mit
dem Hirn und nicht mit den Händen. Das ist ja Lessings Gedanke, hier wie
dort im Munde eines echten Künstlers. Was sagt Professor Frey zu dieser
Perspektive? Aber auch auf das bloße rechte Sehen wird man die Kritik beim
Lesen von Freys Werk zu erstrecken haben. Die Treppe eines bekannten Jugend¬
reliefs Michelangelos zum Beispiel (Madonna an der Treppe) ist von dem Künstler
nicht, wie Frey will, steil hinauf und in einem spitzen Winkel jenseits sofort
wieder absteigend dargestellt, sondern setzt sich nach erreichter Höhe zunächst eben
fort. Und der Berliner Giovannino soll immer noch von Michelangelo sein?

Von dem großen italienischen Genie zu einem kleinern deutschen, zu Philipp
Otto Runge. Die Jahrhundertausstellung klingt ja noch immer nach, und dem
einen oder dem andern ihrer Besucher mag die neu gewonnene Bekanntschaft
mit dem Maler Runge das interessanteste Erlebnis 1906 in Berlin gewesen sein.
Wir aber sind glücklich, Goethes klassische Worte über ihn, indem wir die
individuell-persönlichen Beziehungen ausscheiden, unterschreiben zu können: "Es
ist ein Individuum, wie sie selten geboren werden. Sein vorzüglich Talent, sein
wahres treues Wesen, als Künstler und Mensch, erweckt Neigung und Anhäng¬
lichkeit bei uns, und wenn seine Richtung ihn von dem Wege ablenkt, den wir
für den rechten halten, so erregt es in uns kein Mißfallen, sondern wir be¬
gleiten ihn gern, wohin seine eigentümliche Art ihn trägt." Den Menschen
Runge, wie wir ihn aus seinen Kunstwerken nur ahnen und fühlen, und wie
ihn der Gelehrte aus der zweibändigen Sammlung seiner Schriften besser kennt,
die 1840/41 sein ältester Bruder in Hamburg herausgab, bringt uns das neuste
(16.) Bändchen der "Statuen deutscher Kultur" (München, Beck) in freundlicher
und glücklicher Weise nahe: "Philipp Otto Runge, Gedanken und Gedichte."


Neue Uunstbücher

„ gerade nicht als einen berühmten Lateiner" gezeigt habe. Und doch war er einer
der besten Kenner der Bibel? d. h. in Italien der Vulgata? Man wird wohl
zugeben können, daß ihm das damals mit großen Ansprüchen auftretende cicero-
nianische Humanistenlatein nicht eigentlich bekannt war; aber ihm die Kenntnis
des spätmittelalterlichen Umgangslatein abzusprechen halten wir für verfehlt. Es
ist dies eine Frage der allgemeinen kulturgeschichtlichen Bildung, ebenso wie
folgendes eine Probe auf die Echtheit der literarischen Empfindlichkeit des Ver¬
fassers ist. Auf Seite 90 sagt Frey: „Wenn nach Lessings Vorgange von
Enthusiasten behauptet worden ist, Raffael wäre doch der göttliche Meister ge¬
worden, würde er auch ohne Hände auf die Welt gekommen sein, so vermag ich
mir diese Perspektive nicht recht vorzustellen." Dazu halten wir zunächst für
gut, die namenlosen Enthusiasten einmal auszuschalten und den Satz, den
Lessing den Maler Conti sprechen läßt, wörtlich zu zitieren: „Meinen Sie,
Prinz, daß Nasfael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er
unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?" Zu beachten ist, daß
auf diese Frage keine Antwort erfolgt. Und dann bitten wir den Leser, bei
Frey Seite 142 den Satz aus einem Briefe Michelangelos aus dem Oktober
1542 nachzulesen: 8i äipiMv col osrusllo 6 non von 1s mani, man malt mit
dem Hirn und nicht mit den Händen. Das ist ja Lessings Gedanke, hier wie
dort im Munde eines echten Künstlers. Was sagt Professor Frey zu dieser
Perspektive? Aber auch auf das bloße rechte Sehen wird man die Kritik beim
Lesen von Freys Werk zu erstrecken haben. Die Treppe eines bekannten Jugend¬
reliefs Michelangelos zum Beispiel (Madonna an der Treppe) ist von dem Künstler
nicht, wie Frey will, steil hinauf und in einem spitzen Winkel jenseits sofort
wieder absteigend dargestellt, sondern setzt sich nach erreichter Höhe zunächst eben
fort. Und der Berliner Giovannino soll immer noch von Michelangelo sein?

Von dem großen italienischen Genie zu einem kleinern deutschen, zu Philipp
Otto Runge. Die Jahrhundertausstellung klingt ja noch immer nach, und dem
einen oder dem andern ihrer Besucher mag die neu gewonnene Bekanntschaft
mit dem Maler Runge das interessanteste Erlebnis 1906 in Berlin gewesen sein.
Wir aber sind glücklich, Goethes klassische Worte über ihn, indem wir die
individuell-persönlichen Beziehungen ausscheiden, unterschreiben zu können: „Es
ist ein Individuum, wie sie selten geboren werden. Sein vorzüglich Talent, sein
wahres treues Wesen, als Künstler und Mensch, erweckt Neigung und Anhäng¬
lichkeit bei uns, und wenn seine Richtung ihn von dem Wege ablenkt, den wir
für den rechten halten, so erregt es in uns kein Mißfallen, sondern wir be¬
gleiten ihn gern, wohin seine eigentümliche Art ihn trägt." Den Menschen
Runge, wie wir ihn aus seinen Kunstwerken nur ahnen und fühlen, und wie
ihn der Gelehrte aus der zweibändigen Sammlung seiner Schriften besser kennt,
die 1840/41 sein ältester Bruder in Hamburg herausgab, bringt uns das neuste
(16.) Bändchen der „Statuen deutscher Kultur" (München, Beck) in freundlicher
und glücklicher Weise nahe: „Philipp Otto Runge, Gedanken und Gedichte."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/42>, abgerufen am 25.07.2024.