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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Der Orient in unsrer historischen Bildung

Die griechische Demokratie entfesselte die auf einen engen Raum beschränkten
Kräfte des persönlichen Lebens, das sich in der Wissenschaft und Kunst, im
Staate wie in der Religion darstellt. Darauf beruht die Vielgestaltigkeit und
Beweglichkeit des griechischen Lebens, darauf seine Schwäche.

Damit werden wir beiden Seiten, dem Orient wie dem Griechentum, als
den wirksamsten Mächten unsers geschichtlichen Lebenskreises gerecht werden.
Das ist nötig gegenüber einseitigen und überspannten Ansprüchen zumal von
babylonischer Seite. Man möchte den Wert und die Bedeutung des griechischen
Geistes für die europäische Entwicklung möglichst verkleinern und zugunsten der
Babylonier herabsetzen. Bisweilen scheint es fast, als sollte nun Babylon an
die Stelle von Athen und Rom treten. Solche Verirrungen zeigen nur, daß
mancher ausgezeichnete Gelehrte sein eignes Gebiet, dem er die Kraft seines
ganzen Lebens zugewandt und worin er seine Erfolge gewonnen hat, für das
einzige hält, was als Wissenschaft gelten könne. Dabei stellt sich leicht das
Streben ein, die ganze Weltgeschichte von einem Punkte aus zu durchleuchten
und als Einheit zu erklären. Von der babylonischen Flut ist denn in der Tat
kein Gebiet der Welt verschont geblieben. In ihr ist nicht nur die Schöpfer¬
kraft des Griechentums versunken. Es gibt bald überhaupt nichts mehr auf der
Welt, was nicht babylonischen Ursprungs sein soll. Die Kultur der Chinesen
und Inder soll im Grunde babylonisch sein -- Berührungen sind in der Tat
vorhanden. Aber auch die kosmologischen Dichtungen der Polynesien Kalender¬
wesen, Architektur und religiöser Kultus der alten Mexikaner werden aus Babylon
abgeleitet. Gewiß sind oft überraschende Parallelen vorhanden, und die Ver¬
bindungen der Völkerwelt sind älter, mannigfacher und wirksamer, als man
früher bei einer allzu isolierenden Betrachtung annahm.

Wir stehn vor einem Gebiet unübersehbar reichen und großen Lebens,
wenn wir nach Osten blicken. Man kann seine Berücksichtigung in unsrer ge¬
schichtlichen Bildung damit begründen, daß die letzten Wurzeln unsrer Gesamt¬
kultur am Euphrat zu suchen sind. Wer in der eignen Zeit wirklich Bescheid
wissen will, der muß die Herkunft der Ströme kennen, die sie befruchten. Aber
nur was als lebendig wirkende Macht noch in unserm Dasein Bestand hat, was
für unser Bewußtsein Gegenwartswert hat, das allein hat auch in unsrer all¬
gemeinen Bildung Anspruch auf Beachtung. Was uns die wissenschaftliche
Forschung über die Bedeutung der babylonischen Kultur gelehrt hat, das ist
gewiß wertvoll und wichtig für historische Erkenntnis, aber es hat für unser
geistiges Sein kaum eine Bedeutung, es ist lediglich von antiquarischen Interesse.
Wohl läßt sich heilte manches seltsame Stück im europäischen Kulturleben, z. B. die
Astrologie, die sieben Wochentage u. a., auf babylonischen Ursprung zurück¬
führen. Aber wo ist jemals in der europäischen Entwicklung das Bewußtsein
für diesen Zusammenhang lebendig oder wirksam gewesen? Längst haben sich
andre Motive für uralte Überlieferungen eingeschoben. Gegenüber den vielfachen
Überspannungen wird man die einfache Wahrheit immer wieder betonen müssen,


Der Orient in unsrer historischen Bildung

Die griechische Demokratie entfesselte die auf einen engen Raum beschränkten
Kräfte des persönlichen Lebens, das sich in der Wissenschaft und Kunst, im
Staate wie in der Religion darstellt. Darauf beruht die Vielgestaltigkeit und
Beweglichkeit des griechischen Lebens, darauf seine Schwäche.

Damit werden wir beiden Seiten, dem Orient wie dem Griechentum, als
den wirksamsten Mächten unsers geschichtlichen Lebenskreises gerecht werden.
Das ist nötig gegenüber einseitigen und überspannten Ansprüchen zumal von
babylonischer Seite. Man möchte den Wert und die Bedeutung des griechischen
Geistes für die europäische Entwicklung möglichst verkleinern und zugunsten der
Babylonier herabsetzen. Bisweilen scheint es fast, als sollte nun Babylon an
die Stelle von Athen und Rom treten. Solche Verirrungen zeigen nur, daß
mancher ausgezeichnete Gelehrte sein eignes Gebiet, dem er die Kraft seines
ganzen Lebens zugewandt und worin er seine Erfolge gewonnen hat, für das
einzige hält, was als Wissenschaft gelten könne. Dabei stellt sich leicht das
Streben ein, die ganze Weltgeschichte von einem Punkte aus zu durchleuchten
und als Einheit zu erklären. Von der babylonischen Flut ist denn in der Tat
kein Gebiet der Welt verschont geblieben. In ihr ist nicht nur die Schöpfer¬
kraft des Griechentums versunken. Es gibt bald überhaupt nichts mehr auf der
Welt, was nicht babylonischen Ursprungs sein soll. Die Kultur der Chinesen
und Inder soll im Grunde babylonisch sein — Berührungen sind in der Tat
vorhanden. Aber auch die kosmologischen Dichtungen der Polynesien Kalender¬
wesen, Architektur und religiöser Kultus der alten Mexikaner werden aus Babylon
abgeleitet. Gewiß sind oft überraschende Parallelen vorhanden, und die Ver¬
bindungen der Völkerwelt sind älter, mannigfacher und wirksamer, als man
früher bei einer allzu isolierenden Betrachtung annahm.

Wir stehn vor einem Gebiet unübersehbar reichen und großen Lebens,
wenn wir nach Osten blicken. Man kann seine Berücksichtigung in unsrer ge¬
schichtlichen Bildung damit begründen, daß die letzten Wurzeln unsrer Gesamt¬
kultur am Euphrat zu suchen sind. Wer in der eignen Zeit wirklich Bescheid
wissen will, der muß die Herkunft der Ströme kennen, die sie befruchten. Aber
nur was als lebendig wirkende Macht noch in unserm Dasein Bestand hat, was
für unser Bewußtsein Gegenwartswert hat, das allein hat auch in unsrer all¬
gemeinen Bildung Anspruch auf Beachtung. Was uns die wissenschaftliche
Forschung über die Bedeutung der babylonischen Kultur gelehrt hat, das ist
gewiß wertvoll und wichtig für historische Erkenntnis, aber es hat für unser
geistiges Sein kaum eine Bedeutung, es ist lediglich von antiquarischen Interesse.
Wohl läßt sich heilte manches seltsame Stück im europäischen Kulturleben, z. B. die
Astrologie, die sieben Wochentage u. a., auf babylonischen Ursprung zurück¬
führen. Aber wo ist jemals in der europäischen Entwicklung das Bewußtsein
für diesen Zusammenhang lebendig oder wirksam gewesen? Längst haben sich
andre Motive für uralte Überlieferungen eingeschoben. Gegenüber den vielfachen
Überspannungen wird man die einfache Wahrheit immer wieder betonen müssen,


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[0376] Der Orient in unsrer historischen Bildung Die griechische Demokratie entfesselte die auf einen engen Raum beschränkten Kräfte des persönlichen Lebens, das sich in der Wissenschaft und Kunst, im Staate wie in der Religion darstellt. Darauf beruht die Vielgestaltigkeit und Beweglichkeit des griechischen Lebens, darauf seine Schwäche. Damit werden wir beiden Seiten, dem Orient wie dem Griechentum, als den wirksamsten Mächten unsers geschichtlichen Lebenskreises gerecht werden. Das ist nötig gegenüber einseitigen und überspannten Ansprüchen zumal von babylonischer Seite. Man möchte den Wert und die Bedeutung des griechischen Geistes für die europäische Entwicklung möglichst verkleinern und zugunsten der Babylonier herabsetzen. Bisweilen scheint es fast, als sollte nun Babylon an die Stelle von Athen und Rom treten. Solche Verirrungen zeigen nur, daß mancher ausgezeichnete Gelehrte sein eignes Gebiet, dem er die Kraft seines ganzen Lebens zugewandt und worin er seine Erfolge gewonnen hat, für das einzige hält, was als Wissenschaft gelten könne. Dabei stellt sich leicht das Streben ein, die ganze Weltgeschichte von einem Punkte aus zu durchleuchten und als Einheit zu erklären. Von der babylonischen Flut ist denn in der Tat kein Gebiet der Welt verschont geblieben. In ihr ist nicht nur die Schöpfer¬ kraft des Griechentums versunken. Es gibt bald überhaupt nichts mehr auf der Welt, was nicht babylonischen Ursprungs sein soll. Die Kultur der Chinesen und Inder soll im Grunde babylonisch sein — Berührungen sind in der Tat vorhanden. Aber auch die kosmologischen Dichtungen der Polynesien Kalender¬ wesen, Architektur und religiöser Kultus der alten Mexikaner werden aus Babylon abgeleitet. Gewiß sind oft überraschende Parallelen vorhanden, und die Ver¬ bindungen der Völkerwelt sind älter, mannigfacher und wirksamer, als man früher bei einer allzu isolierenden Betrachtung annahm. Wir stehn vor einem Gebiet unübersehbar reichen und großen Lebens, wenn wir nach Osten blicken. Man kann seine Berücksichtigung in unsrer ge¬ schichtlichen Bildung damit begründen, daß die letzten Wurzeln unsrer Gesamt¬ kultur am Euphrat zu suchen sind. Wer in der eignen Zeit wirklich Bescheid wissen will, der muß die Herkunft der Ströme kennen, die sie befruchten. Aber nur was als lebendig wirkende Macht noch in unserm Dasein Bestand hat, was für unser Bewußtsein Gegenwartswert hat, das allein hat auch in unsrer all¬ gemeinen Bildung Anspruch auf Beachtung. Was uns die wissenschaftliche Forschung über die Bedeutung der babylonischen Kultur gelehrt hat, das ist gewiß wertvoll und wichtig für historische Erkenntnis, aber es hat für unser geistiges Sein kaum eine Bedeutung, es ist lediglich von antiquarischen Interesse. Wohl läßt sich heilte manches seltsame Stück im europäischen Kulturleben, z. B. die Astrologie, die sieben Wochentage u. a., auf babylonischen Ursprung zurück¬ führen. Aber wo ist jemals in der europäischen Entwicklung das Bewußtsein für diesen Zusammenhang lebendig oder wirksam gewesen? Längst haben sich andre Motive für uralte Überlieferungen eingeschoben. Gegenüber den vielfachen Überspannungen wird man die einfache Wahrheit immer wieder betonen müssen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/376>, abgerufen am 24.07.2024.