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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Der Orient in unsrer historischen Bildung

stark gebunden ist, kann eine weitreichende und zuverlässige Tradition haben.
Die Chinesen werden dafür ein Muster sein. Aber schon das starke Bewußtsein
für genealogische Zusammenhänge festigt bisweilen die geschichtliche Erinnerung
für lange Zeiträume, wie bei den Irokesen und zentralasiatischen Türkvölkern.
Ganz anders liegen oft die Verhältnisse, wenn die geschichtliche Erinnerung
Angelegenheit eines Standes wird, z. B. des Priestertums oder eines berufs¬
mäßigen Dichterstandes. Hier greifen oft neben der frei gestaltenden Phantasie
auch bestimmte Tendenzen verwirrend ein. So wird die Tradition, wo sie sich
entwickelt, eine sehr verschiedenartige Erscheinung, über deren Wert nur die
Kenntnis der Voraussetzungen, unter denen sie entstanden ist, entscheiden kann.
Auf dem Boden der orientalischen Geschichte liegt gerade in der Frage nach
Art und Wesen der Tradition eine besondre Schwierigkeit.

Aber wenn wir für Hellas und Rom ein geschichtliches Verständnis gewinnen
können, so ist es für den Orient bei der Fülle seiner Dokumente und Denkmäler
nicht minder möglich. Vielfach sind neuerdings die orientalische und die griechische
Kultur aneinander gemessen worden. Unfraglich sind sie die beiden großen, unsre
Geschichte bestimmenden Mächte. Heute darf man ihr Verhältnis zueinander nicht
dahin bestimmen, daß der Orient nur die militärisch-politische Macht, das Griechen¬
tum aber die eigentliche Kulturmacht bedeute. Einerseits ist das Griechentum aus
einer vom Orient beherrschten Kultur erwachsen, andrerseits hat auch der Osten
geistig wie künstlerisch Großes geschaffen. Auch an ethischem Wert darf man
den Orient nicht herabsetzen. Gewiß hat Hellas einen einzigartigen Reichtum
an Persönlichen Größen. Aber neben allen wertvollen Erscheinungen stehn auch
w den besten Zeiten der griechischen Geschichte die Erscheinungen menschlicher
Niedrigkeit Auf der andern Seite sind zumal Indien und China reich an
denkenden und handelnden Menschen von höchster Genialität und sittlicher
Größe und Würde Auch in der babylonischen Kulturwelt kann es nicht an
Persönlichkeiten von tiefem, wertvollen Lebensgehalt gefehlt haben, die sich
hoch über die Maße des Gewöhnlichen erhoben. In Indien stehn neben den
tiefsinnigen Lehrern einer religiösen Weltanschauung, neben einem Yajnavalkya,
Buddha und Krischna die großen, echt philosophischen Denker wie Kapila und
Kanada.

Der Abstand zwischen dem Orient und Hellas ist dabei deutlich fühlbar.
Nur muß man den Wesensunterschied an der rechten Stelle suchen. Bei aller
Kulturhöhe, bei den erstaunlichen technischen Leistungen ihrer Kunst und bei den
großartigen Organisationen der politischen und sozialen Lebensordnungcn sind
die orientalischen Völker niemals aus einer gewissen Gebundenheit herausgetreten.
Dem Orient fehlt es nicht an großen Persönlichkeiten, aber es fehlt der sem
eignes Leben frei darstellende, in sich und aus sich eine Welt gestaltende Mensch.
Hier gerade liegt die Kulturbedeutung des Griechentums, das vor einer alten,
übermächtigen Kultur stand, in der es aufgegangen wäre, wenn nicht em Neues
und Bleibendes mit dem griechischen Wesen in die Geschichte getreten Ware.


Der Orient in unsrer historischen Bildung

stark gebunden ist, kann eine weitreichende und zuverlässige Tradition haben.
Die Chinesen werden dafür ein Muster sein. Aber schon das starke Bewußtsein
für genealogische Zusammenhänge festigt bisweilen die geschichtliche Erinnerung
für lange Zeiträume, wie bei den Irokesen und zentralasiatischen Türkvölkern.
Ganz anders liegen oft die Verhältnisse, wenn die geschichtliche Erinnerung
Angelegenheit eines Standes wird, z. B. des Priestertums oder eines berufs¬
mäßigen Dichterstandes. Hier greifen oft neben der frei gestaltenden Phantasie
auch bestimmte Tendenzen verwirrend ein. So wird die Tradition, wo sie sich
entwickelt, eine sehr verschiedenartige Erscheinung, über deren Wert nur die
Kenntnis der Voraussetzungen, unter denen sie entstanden ist, entscheiden kann.
Auf dem Boden der orientalischen Geschichte liegt gerade in der Frage nach
Art und Wesen der Tradition eine besondre Schwierigkeit.

Aber wenn wir für Hellas und Rom ein geschichtliches Verständnis gewinnen
können, so ist es für den Orient bei der Fülle seiner Dokumente und Denkmäler
nicht minder möglich. Vielfach sind neuerdings die orientalische und die griechische
Kultur aneinander gemessen worden. Unfraglich sind sie die beiden großen, unsre
Geschichte bestimmenden Mächte. Heute darf man ihr Verhältnis zueinander nicht
dahin bestimmen, daß der Orient nur die militärisch-politische Macht, das Griechen¬
tum aber die eigentliche Kulturmacht bedeute. Einerseits ist das Griechentum aus
einer vom Orient beherrschten Kultur erwachsen, andrerseits hat auch der Osten
geistig wie künstlerisch Großes geschaffen. Auch an ethischem Wert darf man
den Orient nicht herabsetzen. Gewiß hat Hellas einen einzigartigen Reichtum
an Persönlichen Größen. Aber neben allen wertvollen Erscheinungen stehn auch
w den besten Zeiten der griechischen Geschichte die Erscheinungen menschlicher
Niedrigkeit Auf der andern Seite sind zumal Indien und China reich an
denkenden und handelnden Menschen von höchster Genialität und sittlicher
Größe und Würde Auch in der babylonischen Kulturwelt kann es nicht an
Persönlichkeiten von tiefem, wertvollen Lebensgehalt gefehlt haben, die sich
hoch über die Maße des Gewöhnlichen erhoben. In Indien stehn neben den
tiefsinnigen Lehrern einer religiösen Weltanschauung, neben einem Yajnavalkya,
Buddha und Krischna die großen, echt philosophischen Denker wie Kapila und
Kanada.

Der Abstand zwischen dem Orient und Hellas ist dabei deutlich fühlbar.
Nur muß man den Wesensunterschied an der rechten Stelle suchen. Bei aller
Kulturhöhe, bei den erstaunlichen technischen Leistungen ihrer Kunst und bei den
großartigen Organisationen der politischen und sozialen Lebensordnungcn sind
die orientalischen Völker niemals aus einer gewissen Gebundenheit herausgetreten.
Dem Orient fehlt es nicht an großen Persönlichkeiten, aber es fehlt der sem
eignes Leben frei darstellende, in sich und aus sich eine Welt gestaltende Mensch.
Hier gerade liegt die Kulturbedeutung des Griechentums, das vor einer alten,
übermächtigen Kultur stand, in der es aufgegangen wäre, wenn nicht em Neues
und Bleibendes mit dem griechischen Wesen in die Geschichte getreten Ware.


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[0375] Der Orient in unsrer historischen Bildung stark gebunden ist, kann eine weitreichende und zuverlässige Tradition haben. Die Chinesen werden dafür ein Muster sein. Aber schon das starke Bewußtsein für genealogische Zusammenhänge festigt bisweilen die geschichtliche Erinnerung für lange Zeiträume, wie bei den Irokesen und zentralasiatischen Türkvölkern. Ganz anders liegen oft die Verhältnisse, wenn die geschichtliche Erinnerung Angelegenheit eines Standes wird, z. B. des Priestertums oder eines berufs¬ mäßigen Dichterstandes. Hier greifen oft neben der frei gestaltenden Phantasie auch bestimmte Tendenzen verwirrend ein. So wird die Tradition, wo sie sich entwickelt, eine sehr verschiedenartige Erscheinung, über deren Wert nur die Kenntnis der Voraussetzungen, unter denen sie entstanden ist, entscheiden kann. Auf dem Boden der orientalischen Geschichte liegt gerade in der Frage nach Art und Wesen der Tradition eine besondre Schwierigkeit. Aber wenn wir für Hellas und Rom ein geschichtliches Verständnis gewinnen können, so ist es für den Orient bei der Fülle seiner Dokumente und Denkmäler nicht minder möglich. Vielfach sind neuerdings die orientalische und die griechische Kultur aneinander gemessen worden. Unfraglich sind sie die beiden großen, unsre Geschichte bestimmenden Mächte. Heute darf man ihr Verhältnis zueinander nicht dahin bestimmen, daß der Orient nur die militärisch-politische Macht, das Griechen¬ tum aber die eigentliche Kulturmacht bedeute. Einerseits ist das Griechentum aus einer vom Orient beherrschten Kultur erwachsen, andrerseits hat auch der Osten geistig wie künstlerisch Großes geschaffen. Auch an ethischem Wert darf man den Orient nicht herabsetzen. Gewiß hat Hellas einen einzigartigen Reichtum an Persönlichen Größen. Aber neben allen wertvollen Erscheinungen stehn auch w den besten Zeiten der griechischen Geschichte die Erscheinungen menschlicher Niedrigkeit Auf der andern Seite sind zumal Indien und China reich an denkenden und handelnden Menschen von höchster Genialität und sittlicher Größe und Würde Auch in der babylonischen Kulturwelt kann es nicht an Persönlichkeiten von tiefem, wertvollen Lebensgehalt gefehlt haben, die sich hoch über die Maße des Gewöhnlichen erhoben. In Indien stehn neben den tiefsinnigen Lehrern einer religiösen Weltanschauung, neben einem Yajnavalkya, Buddha und Krischna die großen, echt philosophischen Denker wie Kapila und Kanada. Der Abstand zwischen dem Orient und Hellas ist dabei deutlich fühlbar. Nur muß man den Wesensunterschied an der rechten Stelle suchen. Bei aller Kulturhöhe, bei den erstaunlichen technischen Leistungen ihrer Kunst und bei den großartigen Organisationen der politischen und sozialen Lebensordnungcn sind die orientalischen Völker niemals aus einer gewissen Gebundenheit herausgetreten. Dem Orient fehlt es nicht an großen Persönlichkeiten, aber es fehlt der sem eignes Leben frei darstellende, in sich und aus sich eine Welt gestaltende Mensch. Hier gerade liegt die Kulturbedeutung des Griechentums, das vor einer alten, übermächtigen Kultur stand, in der es aufgegangen wäre, wenn nicht em Neues und Bleibendes mit dem griechischen Wesen in die Geschichte getreten Ware.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/375>, abgerufen am 24.07.2024.