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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Der Grient in unsrer historischen Bildung

der orientalischen Überlieferung oft eine erfreuliche Sicherheit. Natürlich fehlt
es in offiziellen Berichten über die Taten der Könige nicht an Übertreibungen
oder an Verhüllungen, wo etwas zu verschweigen war. Das gehört aber zum
Stil der Königsinschriften. Der König ist ein Gott, oder er steht den Göttern
nahe; so wird ihm menschliches Geschick ferngehalten. Freilich haben wir bisher
zwar große Massen an Aufzeichnungen geschichtlichen Inhalts aus dem alten
Orient; aber eine wirkliche Geschichtsdarstellung fehlt noch. In Indien ist die
Literatur von dem spekulativen Geist und der Kraft der Phantasie beherrscht.
Die geschichtliche Erinnerung ist ins Epos eingegangen. Die ungeheuer reiche
indische Literatur hat kein einziges wirkliches Geschichtswerk. Als den "geschichts-
losen Weltteil der Brahmanen" hat G. Bühler Indien bezeichnet, und auch
Pischel betont, daß den Indern der geschichtliche Sinn fehlt. Selbst die als
historische Dokumente wichtigen Inschriften zeigen auffallend wenig den Charakter
einer Geschichtsdarstellung. Der große Buddhistenkönig Asoka legt in Inschriften
seine Überzeugungen dar und ermahnt seine Völker zu moralischem Wandel.
Und die Inschriften der Guptadynastie (zweites bis fünftes Jahrhundert n. Chr.)
sind Preisgedichte auf Herrscher, ganz im Stil der höfischen Kunstpoesie gehalten.
Die beiden buddhistischen Mönchschroniken aus Ceylon (fünftes Jahrh, n. Chr.),
die wir durch W. Geiger kennen gelernt haben, sind rein legendarischen Charakters.
Erst aus dem zwölften Jahrhundert n. Chr. lernen wir eine Königschronik aus
Kaschmir kennen, die Rajatarangini. Das will wenigstens eine Landesgeschichte
sein. Aber auch dieses Werk, in Versen geschrieben, ist ganz im Stil des
dichterischen Panegyrikus gehalten und hat einen vielfach märchenhaften Charakter,
obgleich es nicht ohne historischen Gehalt ist. Otterberg, der kürzlich die indische
Geschichtschreibung zu würdigen gesucht hat, hat wohl mit Recht gesagt, daß
aus dem indischen Geist ebensowenig ein echtes Geschichtswerk erstehen könne,
wie seine Kunst einen Apollo zu schaffen vermöchte.

Dagegen hat ein andres Volk des Orients, die Chinesen, mit Recht den
Ruhm, die besten Überlieferer geschichtlicher Ereignisse zu sein. Freilich haftet
ihr Blick am einzelnen; es fehlt an dem Gefühl für die innern Zusammen¬
hänge, an historischer Perspektive, wie solche auch ihrer Malerei fehlt. Aus
Westasien ist zwar kein eigentliches Geschichtswerk erhalten; aber es ist nicht
ausgeschlossen, daß es solche gab. Wir werden noch glückliche Funde abwarten
müssen, ehe ein Urteil über die orientalische Geschichtschreibung möglich ist. Die
historischen Bücher des Alten Testaments genügen dafür bei weitem nicht.

Überhaupt liegt ein besonders schwieriges Problem in der Tatsache, daß
die "Tradition" auf verschieden Gebieten sehr verschieden zu bewerten ist. Sie
ist ein Spiegelbild der nationalen Geistesart; das geschichtliche Bewußtsein, der
Umfang wie die Sicherheit der Erinnerung hängen sowohl von den Beziehungen
des Volkes zu seinem Boden wie von der sozialen Konstruktion des Volkskörpers
ab. Ein Volk, das seit der ältesten Zeit als Ackerbauer mit seinem Boden ver¬
wachsen ist, bei dem überdies in Familien- und Stammesgemeinschaft das Leben


Der Grient in unsrer historischen Bildung

der orientalischen Überlieferung oft eine erfreuliche Sicherheit. Natürlich fehlt
es in offiziellen Berichten über die Taten der Könige nicht an Übertreibungen
oder an Verhüllungen, wo etwas zu verschweigen war. Das gehört aber zum
Stil der Königsinschriften. Der König ist ein Gott, oder er steht den Göttern
nahe; so wird ihm menschliches Geschick ferngehalten. Freilich haben wir bisher
zwar große Massen an Aufzeichnungen geschichtlichen Inhalts aus dem alten
Orient; aber eine wirkliche Geschichtsdarstellung fehlt noch. In Indien ist die
Literatur von dem spekulativen Geist und der Kraft der Phantasie beherrscht.
Die geschichtliche Erinnerung ist ins Epos eingegangen. Die ungeheuer reiche
indische Literatur hat kein einziges wirkliches Geschichtswerk. Als den „geschichts-
losen Weltteil der Brahmanen" hat G. Bühler Indien bezeichnet, und auch
Pischel betont, daß den Indern der geschichtliche Sinn fehlt. Selbst die als
historische Dokumente wichtigen Inschriften zeigen auffallend wenig den Charakter
einer Geschichtsdarstellung. Der große Buddhistenkönig Asoka legt in Inschriften
seine Überzeugungen dar und ermahnt seine Völker zu moralischem Wandel.
Und die Inschriften der Guptadynastie (zweites bis fünftes Jahrhundert n. Chr.)
sind Preisgedichte auf Herrscher, ganz im Stil der höfischen Kunstpoesie gehalten.
Die beiden buddhistischen Mönchschroniken aus Ceylon (fünftes Jahrh, n. Chr.),
die wir durch W. Geiger kennen gelernt haben, sind rein legendarischen Charakters.
Erst aus dem zwölften Jahrhundert n. Chr. lernen wir eine Königschronik aus
Kaschmir kennen, die Rajatarangini. Das will wenigstens eine Landesgeschichte
sein. Aber auch dieses Werk, in Versen geschrieben, ist ganz im Stil des
dichterischen Panegyrikus gehalten und hat einen vielfach märchenhaften Charakter,
obgleich es nicht ohne historischen Gehalt ist. Otterberg, der kürzlich die indische
Geschichtschreibung zu würdigen gesucht hat, hat wohl mit Recht gesagt, daß
aus dem indischen Geist ebensowenig ein echtes Geschichtswerk erstehen könne,
wie seine Kunst einen Apollo zu schaffen vermöchte.

Dagegen hat ein andres Volk des Orients, die Chinesen, mit Recht den
Ruhm, die besten Überlieferer geschichtlicher Ereignisse zu sein. Freilich haftet
ihr Blick am einzelnen; es fehlt an dem Gefühl für die innern Zusammen¬
hänge, an historischer Perspektive, wie solche auch ihrer Malerei fehlt. Aus
Westasien ist zwar kein eigentliches Geschichtswerk erhalten; aber es ist nicht
ausgeschlossen, daß es solche gab. Wir werden noch glückliche Funde abwarten
müssen, ehe ein Urteil über die orientalische Geschichtschreibung möglich ist. Die
historischen Bücher des Alten Testaments genügen dafür bei weitem nicht.

Überhaupt liegt ein besonders schwieriges Problem in der Tatsache, daß
die „Tradition" auf verschieden Gebieten sehr verschieden zu bewerten ist. Sie
ist ein Spiegelbild der nationalen Geistesart; das geschichtliche Bewußtsein, der
Umfang wie die Sicherheit der Erinnerung hängen sowohl von den Beziehungen
des Volkes zu seinem Boden wie von der sozialen Konstruktion des Volkskörpers
ab. Ein Volk, das seit der ältesten Zeit als Ackerbauer mit seinem Boden ver¬
wachsen ist, bei dem überdies in Familien- und Stammesgemeinschaft das Leben


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[0374] Der Grient in unsrer historischen Bildung der orientalischen Überlieferung oft eine erfreuliche Sicherheit. Natürlich fehlt es in offiziellen Berichten über die Taten der Könige nicht an Übertreibungen oder an Verhüllungen, wo etwas zu verschweigen war. Das gehört aber zum Stil der Königsinschriften. Der König ist ein Gott, oder er steht den Göttern nahe; so wird ihm menschliches Geschick ferngehalten. Freilich haben wir bisher zwar große Massen an Aufzeichnungen geschichtlichen Inhalts aus dem alten Orient; aber eine wirkliche Geschichtsdarstellung fehlt noch. In Indien ist die Literatur von dem spekulativen Geist und der Kraft der Phantasie beherrscht. Die geschichtliche Erinnerung ist ins Epos eingegangen. Die ungeheuer reiche indische Literatur hat kein einziges wirkliches Geschichtswerk. Als den „geschichts- losen Weltteil der Brahmanen" hat G. Bühler Indien bezeichnet, und auch Pischel betont, daß den Indern der geschichtliche Sinn fehlt. Selbst die als historische Dokumente wichtigen Inschriften zeigen auffallend wenig den Charakter einer Geschichtsdarstellung. Der große Buddhistenkönig Asoka legt in Inschriften seine Überzeugungen dar und ermahnt seine Völker zu moralischem Wandel. Und die Inschriften der Guptadynastie (zweites bis fünftes Jahrhundert n. Chr.) sind Preisgedichte auf Herrscher, ganz im Stil der höfischen Kunstpoesie gehalten. Die beiden buddhistischen Mönchschroniken aus Ceylon (fünftes Jahrh, n. Chr.), die wir durch W. Geiger kennen gelernt haben, sind rein legendarischen Charakters. Erst aus dem zwölften Jahrhundert n. Chr. lernen wir eine Königschronik aus Kaschmir kennen, die Rajatarangini. Das will wenigstens eine Landesgeschichte sein. Aber auch dieses Werk, in Versen geschrieben, ist ganz im Stil des dichterischen Panegyrikus gehalten und hat einen vielfach märchenhaften Charakter, obgleich es nicht ohne historischen Gehalt ist. Otterberg, der kürzlich die indische Geschichtschreibung zu würdigen gesucht hat, hat wohl mit Recht gesagt, daß aus dem indischen Geist ebensowenig ein echtes Geschichtswerk erstehen könne, wie seine Kunst einen Apollo zu schaffen vermöchte. Dagegen hat ein andres Volk des Orients, die Chinesen, mit Recht den Ruhm, die besten Überlieferer geschichtlicher Ereignisse zu sein. Freilich haftet ihr Blick am einzelnen; es fehlt an dem Gefühl für die innern Zusammen¬ hänge, an historischer Perspektive, wie solche auch ihrer Malerei fehlt. Aus Westasien ist zwar kein eigentliches Geschichtswerk erhalten; aber es ist nicht ausgeschlossen, daß es solche gab. Wir werden noch glückliche Funde abwarten müssen, ehe ein Urteil über die orientalische Geschichtschreibung möglich ist. Die historischen Bücher des Alten Testaments genügen dafür bei weitem nicht. Überhaupt liegt ein besonders schwieriges Problem in der Tatsache, daß die „Tradition" auf verschieden Gebieten sehr verschieden zu bewerten ist. Sie ist ein Spiegelbild der nationalen Geistesart; das geschichtliche Bewußtsein, der Umfang wie die Sicherheit der Erinnerung hängen sowohl von den Beziehungen des Volkes zu seinem Boden wie von der sozialen Konstruktion des Volkskörpers ab. Ein Volk, das seit der ältesten Zeit als Ackerbauer mit seinem Boden ver¬ wachsen ist, bei dem überdies in Familien- und Stammesgemeinschaft das Leben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/374>, abgerufen am 24.07.2024.