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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Der Orient in unsrer historischen Bildung

Verständnis der allgemeinen Kulturbeziehungen, wird oft schwierig sein. Alles
geschichtliche Verstehen knüpft an das Wollen und Handeln der geschichtlichen
Persönlichkeiten an. Und darauf beruht der Bildungswert des geschichtlichen
Unterrichts. Das lebendige Vorbild des taten erfüllten Lebens ist es. was der
Geschichte ihren ethischen Wert gibt. Denn darin enthüllt sich -- machtvoller
als es jede Lehre vermag -- der höchste menschliche Lebenswert: der Wille und
die mit ihm verbundn- sittliche Verantwortung. Hier liegt die Schranke der
orientalischen Welt. Lebendige menschliche Größe, die uns fühlbar nahetritt, zu
der wir uns erhoben fühlen könnten, hat sie uns außer etwa dem ältern Kyrus
und Dareus kaum gezeigt.¬

Ermöglicht aber die bisher gewonnene Erkenntnis der orientalischen Ge
schichte ihre Berücksichtigung in unsrer historischen Bildung? Die Frage liegt
nahe bei den großen Gegensätzen unter den Forschern und bei der offenkundiger
Unsicherheit vieler einzelner Annahmen. Gerade neuerdings ist durch Ed. Meyers
bedeutende Abhandlung ..Sumerer und Semiten in Babylonien" (1906) ein
kulturgeschichtliches Problem von der größten Bedeutung, die Entstehung der
babylonischen Kultur, in ein neues Licht gerückt worden. Trotzdem darf man
nicht verkennen, daß es im Orient nicht schlechter steht als in der griechisch-
römischen Geschichte, vielfach sogar besser. Auch in der Geschichte des Altertums
sind wir über weite Strecken wenig unterrichtet, über viele, oft wichtige Ereig¬
nisse besteht mancherlei Ungewißheit. Und im bekannten Bereiche hat sich die
Auffassung von Persönlichkeiten. Vorgängen und Zuständen vielfach gewandet^
Was ist denn hier die historische Wahrheit? Die historische Betrachtung ist
immer Auffassung der Vergangenheit im Geiste der Gegenwart. Trotzdem ver¬
zichten wir nicht auf geschichtliches Erkennen.dunewibleibenma.sodarf

So vieles im einzelnen noch strittig ungg
deshalb doch nicht die in zahlreichen Erscheinungen zutage tretende historische
Tatsache verkannt werden, daß die babylonische Kultur eine Weltkultur war.
die ihre Nachwirkungen noch heute übt. obwohl das babylonische Weltbild als
Einheit seit Kopemikus und Galilei für unser Denken durch ein andres ersetzt
worden ist. Nicht minder interessant ist der große Versuch der Assyrer, über
der bunten Fülle der kleinern Stämme und ihrem Sonderleben einen Einheits¬
staat zu errichten. Sie haben das Werk des Kyrus und des großen Dareus
borbereitet.¬

Ein Vorzug der altorientalischen Geschichte aber liegt in der urkundlichen Über
lieferung durch Denkmäler. Wo die historische Überlieferung durch das Medium
der Literatur erfolgt, wird sie vielfach umgewandelt durch die Individualität
des Schriftstellers, durch die mannigfachen Wandlungen, die jeder Bericht in
längerer Überlieferung erleidet, oft auch durch rein literarische Abhängigkeits¬
verhältnisse und Absichten. Im Vergleich mit den historischen Berichten des
Alten Testaments oder der ältern griechischen Historiker, die - mit Ausnahme
des Thukydides - oft ein recht unklares Bild geben, hat das Tatsächliche in
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Grenzboten II 1908
Der Orient in unsrer historischen Bildung

Verständnis der allgemeinen Kulturbeziehungen, wird oft schwierig sein. Alles
geschichtliche Verstehen knüpft an das Wollen und Handeln der geschichtlichen
Persönlichkeiten an. Und darauf beruht der Bildungswert des geschichtlichen
Unterrichts. Das lebendige Vorbild des taten erfüllten Lebens ist es. was der
Geschichte ihren ethischen Wert gibt. Denn darin enthüllt sich — machtvoller
als es jede Lehre vermag — der höchste menschliche Lebenswert: der Wille und
die mit ihm verbundn- sittliche Verantwortung. Hier liegt die Schranke der
orientalischen Welt. Lebendige menschliche Größe, die uns fühlbar nahetritt, zu
der wir uns erhoben fühlen könnten, hat sie uns außer etwa dem ältern Kyrus
und Dareus kaum gezeigt.¬

Ermöglicht aber die bisher gewonnene Erkenntnis der orientalischen Ge
schichte ihre Berücksichtigung in unsrer historischen Bildung? Die Frage liegt
nahe bei den großen Gegensätzen unter den Forschern und bei der offenkundiger
Unsicherheit vieler einzelner Annahmen. Gerade neuerdings ist durch Ed. Meyers
bedeutende Abhandlung ..Sumerer und Semiten in Babylonien" (1906) ein
kulturgeschichtliches Problem von der größten Bedeutung, die Entstehung der
babylonischen Kultur, in ein neues Licht gerückt worden. Trotzdem darf man
nicht verkennen, daß es im Orient nicht schlechter steht als in der griechisch-
römischen Geschichte, vielfach sogar besser. Auch in der Geschichte des Altertums
sind wir über weite Strecken wenig unterrichtet, über viele, oft wichtige Ereig¬
nisse besteht mancherlei Ungewißheit. Und im bekannten Bereiche hat sich die
Auffassung von Persönlichkeiten. Vorgängen und Zuständen vielfach gewandet^
Was ist denn hier die historische Wahrheit? Die historische Betrachtung ist
immer Auffassung der Vergangenheit im Geiste der Gegenwart. Trotzdem ver¬
zichten wir nicht auf geschichtliches Erkennen.dunewibleibenma.sodarf

So vieles im einzelnen noch strittig ungg
deshalb doch nicht die in zahlreichen Erscheinungen zutage tretende historische
Tatsache verkannt werden, daß die babylonische Kultur eine Weltkultur war.
die ihre Nachwirkungen noch heute übt. obwohl das babylonische Weltbild als
Einheit seit Kopemikus und Galilei für unser Denken durch ein andres ersetzt
worden ist. Nicht minder interessant ist der große Versuch der Assyrer, über
der bunten Fülle der kleinern Stämme und ihrem Sonderleben einen Einheits¬
staat zu errichten. Sie haben das Werk des Kyrus und des großen Dareus
borbereitet.¬

Ein Vorzug der altorientalischen Geschichte aber liegt in der urkundlichen Über
lieferung durch Denkmäler. Wo die historische Überlieferung durch das Medium
der Literatur erfolgt, wird sie vielfach umgewandelt durch die Individualität
des Schriftstellers, durch die mannigfachen Wandlungen, die jeder Bericht in
längerer Überlieferung erleidet, oft auch durch rein literarische Abhängigkeits¬
verhältnisse und Absichten. Im Vergleich mit den historischen Berichten des
Alten Testaments oder der ältern griechischen Historiker, die - mit Ausnahme
des Thukydides - oft ein recht unklares Bild geben, hat das Tatsächliche in
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[0373] Der Orient in unsrer historischen Bildung Verständnis der allgemeinen Kulturbeziehungen, wird oft schwierig sein. Alles geschichtliche Verstehen knüpft an das Wollen und Handeln der geschichtlichen Persönlichkeiten an. Und darauf beruht der Bildungswert des geschichtlichen Unterrichts. Das lebendige Vorbild des taten erfüllten Lebens ist es. was der Geschichte ihren ethischen Wert gibt. Denn darin enthüllt sich — machtvoller als es jede Lehre vermag — der höchste menschliche Lebenswert: der Wille und die mit ihm verbundn- sittliche Verantwortung. Hier liegt die Schranke der orientalischen Welt. Lebendige menschliche Größe, die uns fühlbar nahetritt, zu der wir uns erhoben fühlen könnten, hat sie uns außer etwa dem ältern Kyrus und Dareus kaum gezeigt.¬ Ermöglicht aber die bisher gewonnene Erkenntnis der orientalischen Ge schichte ihre Berücksichtigung in unsrer historischen Bildung? Die Frage liegt nahe bei den großen Gegensätzen unter den Forschern und bei der offenkundiger Unsicherheit vieler einzelner Annahmen. Gerade neuerdings ist durch Ed. Meyers bedeutende Abhandlung ..Sumerer und Semiten in Babylonien" (1906) ein kulturgeschichtliches Problem von der größten Bedeutung, die Entstehung der babylonischen Kultur, in ein neues Licht gerückt worden. Trotzdem darf man nicht verkennen, daß es im Orient nicht schlechter steht als in der griechisch- römischen Geschichte, vielfach sogar besser. Auch in der Geschichte des Altertums sind wir über weite Strecken wenig unterrichtet, über viele, oft wichtige Ereig¬ nisse besteht mancherlei Ungewißheit. Und im bekannten Bereiche hat sich die Auffassung von Persönlichkeiten. Vorgängen und Zuständen vielfach gewandet^ Was ist denn hier die historische Wahrheit? Die historische Betrachtung ist immer Auffassung der Vergangenheit im Geiste der Gegenwart. Trotzdem ver¬ zichten wir nicht auf geschichtliches Erkennen.dunewibleibenma.sodarf So vieles im einzelnen noch strittig ungg deshalb doch nicht die in zahlreichen Erscheinungen zutage tretende historische Tatsache verkannt werden, daß die babylonische Kultur eine Weltkultur war. die ihre Nachwirkungen noch heute übt. obwohl das babylonische Weltbild als Einheit seit Kopemikus und Galilei für unser Denken durch ein andres ersetzt worden ist. Nicht minder interessant ist der große Versuch der Assyrer, über der bunten Fülle der kleinern Stämme und ihrem Sonderleben einen Einheits¬ staat zu errichten. Sie haben das Werk des Kyrus und des großen Dareus borbereitet.¬ Ein Vorzug der altorientalischen Geschichte aber liegt in der urkundlichen Über lieferung durch Denkmäler. Wo die historische Überlieferung durch das Medium der Literatur erfolgt, wird sie vielfach umgewandelt durch die Individualität des Schriftstellers, durch die mannigfachen Wandlungen, die jeder Bericht in längerer Überlieferung erleidet, oft auch durch rein literarische Abhängigkeits¬ verhältnisse und Absichten. Im Vergleich mit den historischen Berichten des Alten Testaments oder der ältern griechischen Historiker, die - mit Ausnahme des Thukydides - oft ein recht unklares Bild geben, hat das Tatsächliche in ^ Grenzboten II 1908

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/373>, abgerufen am 24.07.2024.