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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Der Grient in unsrer historischen Bildung

der andern Seite steht die Wissenschaft, die sich ebenfalls in steter Wandlung
des Wachsens und der innern Erneuerung bewegt. Keine höhere Bildung ist
denkbar, die nicht aus dem befruchtenden Zusammenhang mit der wissenschaft¬
lichen Arbeit hervorwächst. Aber kann und darf die Schule alles, was an sich
wertvoll und wissenswert ist, in sich aufnehmen, ohne dadurch den innern Wert
ihrer Leistung bedenklich zu gefährden? Das ist eine Frage, die neuerdings für
den Geschichtsunterricht nahegelegt worden ist, einmal durch die innere Wandlung
der Geschichtsforschung, die neben die politische Geschichte die Geschichte der Wirt¬
schaft und des geistigen Lebens gestellt hat, sodann aber durch die zeitliche wie
räumlich-ethnographische Ausdehnung der Geschichte. Die bisher "geschichts-
losen" Völker Amerikas, Afrikas und der Südsee sind in der letzten Zeit Gegen¬
stand historischer Bemühungen geworden. Und zeitlich sind wir durch die Aus¬
grabungen im Nillande und in Babylonien um Jahrtausende nach rückwärts
geführt worden, ohne damit auch nur annähernd die Anfänge geschichtlichen
Lebens gewonnen zu haben.

In der letzten Zeit ist mehrfach die Aufnahme der altonentalischen Ge¬
schichte in den höhern Unterricht gefordert worden. In der Tat liegt die Frage
nahe, ob wir den großartigen Ausbau der alten Geschichte wie er durch die
Entzifferung der Hieroglyphen, der altpersischen und der babylonischen Keilschrift
und in der letzten Zeit durch die Auffindung des Archivs der hethiti chen Könige
in Boghazköi erreicht worden ist. unberücksichtigt lassen dürfen. Babylon zumal
erweist sich immer mehr als die große Kulturzcntrale. die auf Jahrtausende ganz
Westasien beherrscht und weit darüber hinaus gewirkt hat. Erst wenn ihm die
gebührende Stellung auch im Unterricht zugewiesen werde, kämen wir zu wahr¬
hafter Einheitlichkeit unsrer geschichtlichen Bildung. Erst vom Orient aus ver¬
möge man auch das ..klassische" Altertum in richtiger historischer Perspektive
An sehen.

Mit diesen Ansprüchen scheint uns allzufern liegendes und schon aus
praktischen Gründell uuerfüllbares gefordert zu werden. Doch gilt es auch hier,
das Berechtigte in den neuen Forderungen zu erkennen, wenn wir zugleich das
betonen, wodurch sie beschränkt werden. Es lassen sich in der Tat Gründe
dafür geltend machen, daß unsre geschichtliche Bildung den orientalischen Kultur¬
völkern ein höheres Maß von Beachtung zuwenden müsse.

Zwei Tatsachen legen diese neuen Forderungen auch dem allgemeinen
Interesse nahe Durch die Erschließung der altorientalischen Denkmäler hat
unser geschichtliches Gesamtbild eine tiefgreifende Umgestaltung erfahren. Die
Völker des Orients haben nicht nur für sich betrachtet ein bedeutsames ge¬
schichtliches Leben geführt, sie haben auch auf die Anfänge der europäischen
Kultur stark eingewirkt, sie haben unsre Geschichte mehrfach politisch wie kulturell
nachhaltig beeinflußt und angeregt. Aber nicht nur die Erweiterung der ge¬
schichtlichen Forschung kann es nahelegen, die geschichtliche Bildung durch
einen weitern Umblick. durch eine universale Betrachtung der Zusammenhange


Der Grient in unsrer historischen Bildung

der andern Seite steht die Wissenschaft, die sich ebenfalls in steter Wandlung
des Wachsens und der innern Erneuerung bewegt. Keine höhere Bildung ist
denkbar, die nicht aus dem befruchtenden Zusammenhang mit der wissenschaft¬
lichen Arbeit hervorwächst. Aber kann und darf die Schule alles, was an sich
wertvoll und wissenswert ist, in sich aufnehmen, ohne dadurch den innern Wert
ihrer Leistung bedenklich zu gefährden? Das ist eine Frage, die neuerdings für
den Geschichtsunterricht nahegelegt worden ist, einmal durch die innere Wandlung
der Geschichtsforschung, die neben die politische Geschichte die Geschichte der Wirt¬
schaft und des geistigen Lebens gestellt hat, sodann aber durch die zeitliche wie
räumlich-ethnographische Ausdehnung der Geschichte. Die bisher „geschichts-
losen" Völker Amerikas, Afrikas und der Südsee sind in der letzten Zeit Gegen¬
stand historischer Bemühungen geworden. Und zeitlich sind wir durch die Aus¬
grabungen im Nillande und in Babylonien um Jahrtausende nach rückwärts
geführt worden, ohne damit auch nur annähernd die Anfänge geschichtlichen
Lebens gewonnen zu haben.

In der letzten Zeit ist mehrfach die Aufnahme der altonentalischen Ge¬
schichte in den höhern Unterricht gefordert worden. In der Tat liegt die Frage
nahe, ob wir den großartigen Ausbau der alten Geschichte wie er durch die
Entzifferung der Hieroglyphen, der altpersischen und der babylonischen Keilschrift
und in der letzten Zeit durch die Auffindung des Archivs der hethiti chen Könige
in Boghazköi erreicht worden ist. unberücksichtigt lassen dürfen. Babylon zumal
erweist sich immer mehr als die große Kulturzcntrale. die auf Jahrtausende ganz
Westasien beherrscht und weit darüber hinaus gewirkt hat. Erst wenn ihm die
gebührende Stellung auch im Unterricht zugewiesen werde, kämen wir zu wahr¬
hafter Einheitlichkeit unsrer geschichtlichen Bildung. Erst vom Orient aus ver¬
möge man auch das ..klassische" Altertum in richtiger historischer Perspektive
An sehen.

Mit diesen Ansprüchen scheint uns allzufern liegendes und schon aus
praktischen Gründell uuerfüllbares gefordert zu werden. Doch gilt es auch hier,
das Berechtigte in den neuen Forderungen zu erkennen, wenn wir zugleich das
betonen, wodurch sie beschränkt werden. Es lassen sich in der Tat Gründe
dafür geltend machen, daß unsre geschichtliche Bildung den orientalischen Kultur¬
völkern ein höheres Maß von Beachtung zuwenden müsse.

Zwei Tatsachen legen diese neuen Forderungen auch dem allgemeinen
Interesse nahe Durch die Erschließung der altorientalischen Denkmäler hat
unser geschichtliches Gesamtbild eine tiefgreifende Umgestaltung erfahren. Die
Völker des Orients haben nicht nur für sich betrachtet ein bedeutsames ge¬
schichtliches Leben geführt, sie haben auch auf die Anfänge der europäischen
Kultur stark eingewirkt, sie haben unsre Geschichte mehrfach politisch wie kulturell
nachhaltig beeinflußt und angeregt. Aber nicht nur die Erweiterung der ge¬
schichtlichen Forschung kann es nahelegen, die geschichtliche Bildung durch
einen weitern Umblick. durch eine universale Betrachtung der Zusammenhange


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[0371] Der Grient in unsrer historischen Bildung der andern Seite steht die Wissenschaft, die sich ebenfalls in steter Wandlung des Wachsens und der innern Erneuerung bewegt. Keine höhere Bildung ist denkbar, die nicht aus dem befruchtenden Zusammenhang mit der wissenschaft¬ lichen Arbeit hervorwächst. Aber kann und darf die Schule alles, was an sich wertvoll und wissenswert ist, in sich aufnehmen, ohne dadurch den innern Wert ihrer Leistung bedenklich zu gefährden? Das ist eine Frage, die neuerdings für den Geschichtsunterricht nahegelegt worden ist, einmal durch die innere Wandlung der Geschichtsforschung, die neben die politische Geschichte die Geschichte der Wirt¬ schaft und des geistigen Lebens gestellt hat, sodann aber durch die zeitliche wie räumlich-ethnographische Ausdehnung der Geschichte. Die bisher „geschichts- losen" Völker Amerikas, Afrikas und der Südsee sind in der letzten Zeit Gegen¬ stand historischer Bemühungen geworden. Und zeitlich sind wir durch die Aus¬ grabungen im Nillande und in Babylonien um Jahrtausende nach rückwärts geführt worden, ohne damit auch nur annähernd die Anfänge geschichtlichen Lebens gewonnen zu haben. In der letzten Zeit ist mehrfach die Aufnahme der altonentalischen Ge¬ schichte in den höhern Unterricht gefordert worden. In der Tat liegt die Frage nahe, ob wir den großartigen Ausbau der alten Geschichte wie er durch die Entzifferung der Hieroglyphen, der altpersischen und der babylonischen Keilschrift und in der letzten Zeit durch die Auffindung des Archivs der hethiti chen Könige in Boghazköi erreicht worden ist. unberücksichtigt lassen dürfen. Babylon zumal erweist sich immer mehr als die große Kulturzcntrale. die auf Jahrtausende ganz Westasien beherrscht und weit darüber hinaus gewirkt hat. Erst wenn ihm die gebührende Stellung auch im Unterricht zugewiesen werde, kämen wir zu wahr¬ hafter Einheitlichkeit unsrer geschichtlichen Bildung. Erst vom Orient aus ver¬ möge man auch das ..klassische" Altertum in richtiger historischer Perspektive An sehen. Mit diesen Ansprüchen scheint uns allzufern liegendes und schon aus praktischen Gründell uuerfüllbares gefordert zu werden. Doch gilt es auch hier, das Berechtigte in den neuen Forderungen zu erkennen, wenn wir zugleich das betonen, wodurch sie beschränkt werden. Es lassen sich in der Tat Gründe dafür geltend machen, daß unsre geschichtliche Bildung den orientalischen Kultur¬ völkern ein höheres Maß von Beachtung zuwenden müsse. Zwei Tatsachen legen diese neuen Forderungen auch dem allgemeinen Interesse nahe Durch die Erschließung der altorientalischen Denkmäler hat unser geschichtliches Gesamtbild eine tiefgreifende Umgestaltung erfahren. Die Völker des Orients haben nicht nur für sich betrachtet ein bedeutsames ge¬ schichtliches Leben geführt, sie haben auch auf die Anfänge der europäischen Kultur stark eingewirkt, sie haben unsre Geschichte mehrfach politisch wie kulturell nachhaltig beeinflußt und angeregt. Aber nicht nur die Erweiterung der ge¬ schichtlichen Forschung kann es nahelegen, die geschichtliche Bildung durch einen weitern Umblick. durch eine universale Betrachtung der Zusammenhange

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/371>, abgerufen am 24.07.2024.