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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Fürsorgeerziehung

Verhältnis nicht (die Unterbringung der Kinder bei Pflegeeltern auf Grund
privater Abmachungen zwischen den beiden Familien), während diesen so häufig
vorkommenden Fall sowohl der Lväö vivit wie das Preußische Allgemeine Land¬
recht berücksichtigt hat. Von den Hilfsorganen des Vormundschafts gerichts:
Gemeindewaisenräten und Armenbehörden, wird nachgewiesen, daß sie sehr
schlechte Gehilfen sind. Fälle von arger Verwahrlosung und Mißhandlung
erfahre der Vormundschaftsrichter eher noch von der Polizei als von den
Waisenräten; die Armenbehörden aber versagten aus Scheu vor den Kosten,
die aus der Fürsorge für verwahrloste und gefährdete Kinder erwachsen. Waisen¬
kinder und durch Richterspruch von ihren Eltern getrennte Kinder bringen sie
oft in ein und demselben Hause, ja in derselben Stube mit Landstreichern,
Trotteln und verkommnen Menschen unter und überlassen sie dort sich selbst
und dieser Sorte von Erziehern. Landsberg empfiehlt dringend allen Personen,
die mit der Armenpflege zu tun haben, die Lektüre von Oliver Toise. Bei den
Kreis- und Bezirksausschüssen finden die Armenbehörden meist Schutz in dem
passiven Widerstande, den sie den Anordnungen des Vormundschaftsgerichts
entgegenzusetzen Pflegen.

Die Waffen der Kämpfer sind die Gesetze. Es kommen in Betracht die
Paragraphen 1666, 1686 und 1833 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, der Ar¬
tikel 135 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche, der Para¬
graph 55 des Reichsstrafgesetzbuchs (der bestimmt, daß zur Besserung und
Erziehung von Kindern unter zwölf Jahren, die strafbare Handlungen begangen
haben, die geeigneten Maßregeln getroffen werden können) und die Zwangs-
erzichungsgesetze der Einzelstaaten, unter denen das preußische Gesetz über
Fürsorgeerziehung vom 2. Juli 1900 das wichtigste ist. Dieses Gesetz nun und
die drei Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die dem Vormundschafts¬
gericht Vollmacht erteilen, bei Gefährdung und Verwahrlosung der Kinder gegen
die natürlichen Erzieher einzuschreiten, werden als Waffen sehr verschiedner Art
charakterisiert. In den Fällen, wo Zwangs- oder Fürsorgeerziehung angeordnet
wird, "treten die privaten Erziehungsrcchte vollständig und grundsätzlich dauernd
außer Funktion, der Staat oder die von ihm abhängigen und dazu bestimmte"
Selbstverwaltungsorgane an seiner Statt nehmen die gesamten Erziehungsrechte
an sich. Im Gegensatze zu dieser radikalen Vernichtung der sämtlichen privaten
Erziehungsrechte steht der Eingriff des Vormundschaftsrichters auf Grund der
bezeichneten Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Hier werden die privaten
Erziehungsrechte nicht aufgehoben, sondern mit einer bestimmten Instruktion
belastet aufrecht erhalten, höchstens aber einem Privaten, der sie nicht richtig
gebrauchte, genommen und teilweise oder ganz an andre Private übertragen....
Der reichszivilrechtliche Eingriff des Vormundschaftsrichters hat als Grundlage
nur das private, persönliche Interesse des Mündels, auch wenn zur Wahrung
dieses Interesses auf öffentliche Mittel zurückgegriffen wird. Die Fürsorge¬
erziehung im Sinne des preußischen Gesetzes aber (ebenso die auf Grund des


Fürsorgeerziehung

Verhältnis nicht (die Unterbringung der Kinder bei Pflegeeltern auf Grund
privater Abmachungen zwischen den beiden Familien), während diesen so häufig
vorkommenden Fall sowohl der Lväö vivit wie das Preußische Allgemeine Land¬
recht berücksichtigt hat. Von den Hilfsorganen des Vormundschafts gerichts:
Gemeindewaisenräten und Armenbehörden, wird nachgewiesen, daß sie sehr
schlechte Gehilfen sind. Fälle von arger Verwahrlosung und Mißhandlung
erfahre der Vormundschaftsrichter eher noch von der Polizei als von den
Waisenräten; die Armenbehörden aber versagten aus Scheu vor den Kosten,
die aus der Fürsorge für verwahrloste und gefährdete Kinder erwachsen. Waisen¬
kinder und durch Richterspruch von ihren Eltern getrennte Kinder bringen sie
oft in ein und demselben Hause, ja in derselben Stube mit Landstreichern,
Trotteln und verkommnen Menschen unter und überlassen sie dort sich selbst
und dieser Sorte von Erziehern. Landsberg empfiehlt dringend allen Personen,
die mit der Armenpflege zu tun haben, die Lektüre von Oliver Toise. Bei den
Kreis- und Bezirksausschüssen finden die Armenbehörden meist Schutz in dem
passiven Widerstande, den sie den Anordnungen des Vormundschaftsgerichts
entgegenzusetzen Pflegen.

Die Waffen der Kämpfer sind die Gesetze. Es kommen in Betracht die
Paragraphen 1666, 1686 und 1833 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, der Ar¬
tikel 135 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche, der Para¬
graph 55 des Reichsstrafgesetzbuchs (der bestimmt, daß zur Besserung und
Erziehung von Kindern unter zwölf Jahren, die strafbare Handlungen begangen
haben, die geeigneten Maßregeln getroffen werden können) und die Zwangs-
erzichungsgesetze der Einzelstaaten, unter denen das preußische Gesetz über
Fürsorgeerziehung vom 2. Juli 1900 das wichtigste ist. Dieses Gesetz nun und
die drei Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die dem Vormundschafts¬
gericht Vollmacht erteilen, bei Gefährdung und Verwahrlosung der Kinder gegen
die natürlichen Erzieher einzuschreiten, werden als Waffen sehr verschiedner Art
charakterisiert. In den Fällen, wo Zwangs- oder Fürsorgeerziehung angeordnet
wird, „treten die privaten Erziehungsrcchte vollständig und grundsätzlich dauernd
außer Funktion, der Staat oder die von ihm abhängigen und dazu bestimmte»
Selbstverwaltungsorgane an seiner Statt nehmen die gesamten Erziehungsrechte
an sich. Im Gegensatze zu dieser radikalen Vernichtung der sämtlichen privaten
Erziehungsrechte steht der Eingriff des Vormundschaftsrichters auf Grund der
bezeichneten Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Hier werden die privaten
Erziehungsrechte nicht aufgehoben, sondern mit einer bestimmten Instruktion
belastet aufrecht erhalten, höchstens aber einem Privaten, der sie nicht richtig
gebrauchte, genommen und teilweise oder ganz an andre Private übertragen....
Der reichszivilrechtliche Eingriff des Vormundschaftsrichters hat als Grundlage
nur das private, persönliche Interesse des Mündels, auch wenn zur Wahrung
dieses Interesses auf öffentliche Mittel zurückgegriffen wird. Die Fürsorge¬
erziehung im Sinne des preußischen Gesetzes aber (ebenso die auf Grund des


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[0280] Fürsorgeerziehung Verhältnis nicht (die Unterbringung der Kinder bei Pflegeeltern auf Grund privater Abmachungen zwischen den beiden Familien), während diesen so häufig vorkommenden Fall sowohl der Lväö vivit wie das Preußische Allgemeine Land¬ recht berücksichtigt hat. Von den Hilfsorganen des Vormundschafts gerichts: Gemeindewaisenräten und Armenbehörden, wird nachgewiesen, daß sie sehr schlechte Gehilfen sind. Fälle von arger Verwahrlosung und Mißhandlung erfahre der Vormundschaftsrichter eher noch von der Polizei als von den Waisenräten; die Armenbehörden aber versagten aus Scheu vor den Kosten, die aus der Fürsorge für verwahrloste und gefährdete Kinder erwachsen. Waisen¬ kinder und durch Richterspruch von ihren Eltern getrennte Kinder bringen sie oft in ein und demselben Hause, ja in derselben Stube mit Landstreichern, Trotteln und verkommnen Menschen unter und überlassen sie dort sich selbst und dieser Sorte von Erziehern. Landsberg empfiehlt dringend allen Personen, die mit der Armenpflege zu tun haben, die Lektüre von Oliver Toise. Bei den Kreis- und Bezirksausschüssen finden die Armenbehörden meist Schutz in dem passiven Widerstande, den sie den Anordnungen des Vormundschaftsgerichts entgegenzusetzen Pflegen. Die Waffen der Kämpfer sind die Gesetze. Es kommen in Betracht die Paragraphen 1666, 1686 und 1833 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, der Ar¬ tikel 135 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche, der Para¬ graph 55 des Reichsstrafgesetzbuchs (der bestimmt, daß zur Besserung und Erziehung von Kindern unter zwölf Jahren, die strafbare Handlungen begangen haben, die geeigneten Maßregeln getroffen werden können) und die Zwangs- erzichungsgesetze der Einzelstaaten, unter denen das preußische Gesetz über Fürsorgeerziehung vom 2. Juli 1900 das wichtigste ist. Dieses Gesetz nun und die drei Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die dem Vormundschafts¬ gericht Vollmacht erteilen, bei Gefährdung und Verwahrlosung der Kinder gegen die natürlichen Erzieher einzuschreiten, werden als Waffen sehr verschiedner Art charakterisiert. In den Fällen, wo Zwangs- oder Fürsorgeerziehung angeordnet wird, „treten die privaten Erziehungsrcchte vollständig und grundsätzlich dauernd außer Funktion, der Staat oder die von ihm abhängigen und dazu bestimmte» Selbstverwaltungsorgane an seiner Statt nehmen die gesamten Erziehungsrechte an sich. Im Gegensatze zu dieser radikalen Vernichtung der sämtlichen privaten Erziehungsrechte steht der Eingriff des Vormundschaftsrichters auf Grund der bezeichneten Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Hier werden die privaten Erziehungsrechte nicht aufgehoben, sondern mit einer bestimmten Instruktion belastet aufrecht erhalten, höchstens aber einem Privaten, der sie nicht richtig gebrauchte, genommen und teilweise oder ganz an andre Private übertragen.... Der reichszivilrechtliche Eingriff des Vormundschaftsrichters hat als Grundlage nur das private, persönliche Interesse des Mündels, auch wenn zur Wahrung dieses Interesses auf öffentliche Mittel zurückgegriffen wird. Die Fürsorge¬ erziehung im Sinne des preußischen Gesetzes aber (ebenso die auf Grund des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/280>, abgerufen am 24.07.2024.