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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Fürsorgeerziehung

nicht Sache des Strafrichters sei: ob der Angeklagte so verdorben sei, daß die
Gesellschaft vor ihm geschützt werden müsse, ob er dnrch das Gefängnis ge¬
bessert werden könne, und ob nicht sowohl die Besserung des jungen Menschen
wie der Schutz der Gesellschaft vor ihm weit eher von einer besonders für den
Zweck eingerichteten Erziehung zu erwarten sei. Es werden dann die mancherlei
Kompromisse besprochen, zu denen sich in der neusten Zeit die Gesetzgebung ver¬
standen hat, um das Erforderliche trotz der falschen Prinzipien des Strafrechts
einigermaßen zu erreichen, und es wird besonders das Strafaufschubverfahren
als durchaus unzulänglich charakterisiert. Übrigens sei auch bei diesem nicht
der Strafrichter sondern der Vormundschaftsrichter die Hauptperson, weil nur
dieser in der Lage sei, den Gewarnten zu überwachen. Neben den Erziehungs¬
berechtigten des Privatrechts aber spielt erst recht der Vormundschaftsrichter die
Hauptrolle, weil es sich ja um Fälle handelt, wo diese Berechtigten ihre Pflichten
nicht erfüllen. Dem Vormundschaftsgericht hat die neuste Gesetzgebung sehr
weitgehende Vollmachten erteilt. Lange Zeit, führt der Verfasser aus, hätten
doktrinäre Zweifel von kräftigem Eingreifen zurückgehalten. "Mit einer gewissen
resignierten Gleichgiltigkeit sah man zu, wie ganze Scharen von Kindern als
Rekruten des Verbrechens oder des Lasters heranwuchsen. Besonders scheute
mein sich, in die Rechte des Vaters einzugreifen. Die altersgeheiligte väterliche
Gewalt genoß, zwar nicht bei den entarteten Kindern, um so mehr aber beim
Staate, einen außerordentlichen Respekt. Schließlich hat man aber doch diese
Scheu über Bord geworfen und einsehen gelernt, daß einer untauglichen Familie
die Erziehung nicht überlassen werden darf. Immer mehr wurde die elterliche
Gewalt dem Charakter der bloß vormundschaftlichen angenähert. Und der
Staat stärkte seine Hand gegen Familien, die ihre Aufgaben nicht erfüllten.
Er stärkte sie bei dem Strafrichter, indem er da, wo eine Strafe noch nicht
eintreten kann, eine etwaigen weitern Strafttaten vorbeugende Erziehung ein¬
treten lassen kann. Er setzte den Vormundschaftsrichter zum Hüter über die
elterliche Gewalt und machte zugleich auch eine Reihe von staatlichen und
Sclbstverwaltungsorganen gegen die Verwahrlosung mobil, die bis dahin mit
der Erziehung nichts zu tun hatten. Die Hauptrolle aber fiel dem Vormund¬
schaftsgericht zu. Es ist nicht mehr bloß Überwachuugsorgan; unmittelbar greift
es in die Rechte und Schicksale der Beteiligten ein." Mit der Beschreibung
der Tätigkeit des Vormundschaftsgerichts und des Vormundschaftsrichters beginnt
nun das, was dieses Buch zu einem unentbehrlichen Lehrbuche macht. Das
läßt sich nicht in einem Auszuge wiedergeben. Wir greifen nur einige Punkte
heraus, die dem weniger Eingeweihten eine Ahnung von den mancherlei Dingen
geben mögen, die darin vorkommen.

Es werden Inhalt, Umfang und Grenzen der elterlichen Rechte und Pflichten
beschrieben sowie die Rechte und Pflichten der übrigen Erziehungsberechtigten:
der Vormünder, Pfleger und Beistände. Dabei wird auf eine Lücke des Bürger¬
lichen Gesetzbuchs aufmerksam gemacht; dieses kennt das einfache pflegeelterliche


Fürsorgeerziehung

nicht Sache des Strafrichters sei: ob der Angeklagte so verdorben sei, daß die
Gesellschaft vor ihm geschützt werden müsse, ob er dnrch das Gefängnis ge¬
bessert werden könne, und ob nicht sowohl die Besserung des jungen Menschen
wie der Schutz der Gesellschaft vor ihm weit eher von einer besonders für den
Zweck eingerichteten Erziehung zu erwarten sei. Es werden dann die mancherlei
Kompromisse besprochen, zu denen sich in der neusten Zeit die Gesetzgebung ver¬
standen hat, um das Erforderliche trotz der falschen Prinzipien des Strafrechts
einigermaßen zu erreichen, und es wird besonders das Strafaufschubverfahren
als durchaus unzulänglich charakterisiert. Übrigens sei auch bei diesem nicht
der Strafrichter sondern der Vormundschaftsrichter die Hauptperson, weil nur
dieser in der Lage sei, den Gewarnten zu überwachen. Neben den Erziehungs¬
berechtigten des Privatrechts aber spielt erst recht der Vormundschaftsrichter die
Hauptrolle, weil es sich ja um Fälle handelt, wo diese Berechtigten ihre Pflichten
nicht erfüllen. Dem Vormundschaftsgericht hat die neuste Gesetzgebung sehr
weitgehende Vollmachten erteilt. Lange Zeit, führt der Verfasser aus, hätten
doktrinäre Zweifel von kräftigem Eingreifen zurückgehalten. „Mit einer gewissen
resignierten Gleichgiltigkeit sah man zu, wie ganze Scharen von Kindern als
Rekruten des Verbrechens oder des Lasters heranwuchsen. Besonders scheute
mein sich, in die Rechte des Vaters einzugreifen. Die altersgeheiligte väterliche
Gewalt genoß, zwar nicht bei den entarteten Kindern, um so mehr aber beim
Staate, einen außerordentlichen Respekt. Schließlich hat man aber doch diese
Scheu über Bord geworfen und einsehen gelernt, daß einer untauglichen Familie
die Erziehung nicht überlassen werden darf. Immer mehr wurde die elterliche
Gewalt dem Charakter der bloß vormundschaftlichen angenähert. Und der
Staat stärkte seine Hand gegen Familien, die ihre Aufgaben nicht erfüllten.
Er stärkte sie bei dem Strafrichter, indem er da, wo eine Strafe noch nicht
eintreten kann, eine etwaigen weitern Strafttaten vorbeugende Erziehung ein¬
treten lassen kann. Er setzte den Vormundschaftsrichter zum Hüter über die
elterliche Gewalt und machte zugleich auch eine Reihe von staatlichen und
Sclbstverwaltungsorganen gegen die Verwahrlosung mobil, die bis dahin mit
der Erziehung nichts zu tun hatten. Die Hauptrolle aber fiel dem Vormund¬
schaftsgericht zu. Es ist nicht mehr bloß Überwachuugsorgan; unmittelbar greift
es in die Rechte und Schicksale der Beteiligten ein." Mit der Beschreibung
der Tätigkeit des Vormundschaftsgerichts und des Vormundschaftsrichters beginnt
nun das, was dieses Buch zu einem unentbehrlichen Lehrbuche macht. Das
läßt sich nicht in einem Auszuge wiedergeben. Wir greifen nur einige Punkte
heraus, die dem weniger Eingeweihten eine Ahnung von den mancherlei Dingen
geben mögen, die darin vorkommen.

Es werden Inhalt, Umfang und Grenzen der elterlichen Rechte und Pflichten
beschrieben sowie die Rechte und Pflichten der übrigen Erziehungsberechtigten:
der Vormünder, Pfleger und Beistände. Dabei wird auf eine Lücke des Bürger¬
lichen Gesetzbuchs aufmerksam gemacht; dieses kennt das einfache pflegeelterliche


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[0279] Fürsorgeerziehung nicht Sache des Strafrichters sei: ob der Angeklagte so verdorben sei, daß die Gesellschaft vor ihm geschützt werden müsse, ob er dnrch das Gefängnis ge¬ bessert werden könne, und ob nicht sowohl die Besserung des jungen Menschen wie der Schutz der Gesellschaft vor ihm weit eher von einer besonders für den Zweck eingerichteten Erziehung zu erwarten sei. Es werden dann die mancherlei Kompromisse besprochen, zu denen sich in der neusten Zeit die Gesetzgebung ver¬ standen hat, um das Erforderliche trotz der falschen Prinzipien des Strafrechts einigermaßen zu erreichen, und es wird besonders das Strafaufschubverfahren als durchaus unzulänglich charakterisiert. Übrigens sei auch bei diesem nicht der Strafrichter sondern der Vormundschaftsrichter die Hauptperson, weil nur dieser in der Lage sei, den Gewarnten zu überwachen. Neben den Erziehungs¬ berechtigten des Privatrechts aber spielt erst recht der Vormundschaftsrichter die Hauptrolle, weil es sich ja um Fälle handelt, wo diese Berechtigten ihre Pflichten nicht erfüllen. Dem Vormundschaftsgericht hat die neuste Gesetzgebung sehr weitgehende Vollmachten erteilt. Lange Zeit, führt der Verfasser aus, hätten doktrinäre Zweifel von kräftigem Eingreifen zurückgehalten. „Mit einer gewissen resignierten Gleichgiltigkeit sah man zu, wie ganze Scharen von Kindern als Rekruten des Verbrechens oder des Lasters heranwuchsen. Besonders scheute mein sich, in die Rechte des Vaters einzugreifen. Die altersgeheiligte väterliche Gewalt genoß, zwar nicht bei den entarteten Kindern, um so mehr aber beim Staate, einen außerordentlichen Respekt. Schließlich hat man aber doch diese Scheu über Bord geworfen und einsehen gelernt, daß einer untauglichen Familie die Erziehung nicht überlassen werden darf. Immer mehr wurde die elterliche Gewalt dem Charakter der bloß vormundschaftlichen angenähert. Und der Staat stärkte seine Hand gegen Familien, die ihre Aufgaben nicht erfüllten. Er stärkte sie bei dem Strafrichter, indem er da, wo eine Strafe noch nicht eintreten kann, eine etwaigen weitern Strafttaten vorbeugende Erziehung ein¬ treten lassen kann. Er setzte den Vormundschaftsrichter zum Hüter über die elterliche Gewalt und machte zugleich auch eine Reihe von staatlichen und Sclbstverwaltungsorganen gegen die Verwahrlosung mobil, die bis dahin mit der Erziehung nichts zu tun hatten. Die Hauptrolle aber fiel dem Vormund¬ schaftsgericht zu. Es ist nicht mehr bloß Überwachuugsorgan; unmittelbar greift es in die Rechte und Schicksale der Beteiligten ein." Mit der Beschreibung der Tätigkeit des Vormundschaftsgerichts und des Vormundschaftsrichters beginnt nun das, was dieses Buch zu einem unentbehrlichen Lehrbuche macht. Das läßt sich nicht in einem Auszuge wiedergeben. Wir greifen nur einige Punkte heraus, die dem weniger Eingeweihten eine Ahnung von den mancherlei Dingen geben mögen, die darin vorkommen. Es werden Inhalt, Umfang und Grenzen der elterlichen Rechte und Pflichten beschrieben sowie die Rechte und Pflichten der übrigen Erziehungsberechtigten: der Vormünder, Pfleger und Beistände. Dabei wird auf eine Lücke des Bürger¬ lichen Gesetzbuchs aufmerksam gemacht; dieses kennt das einfache pflegeelterliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/279>, abgerufen am 24.07.2024.