Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Fürsorgeerziehung

Gesetzes entschuldigt wurden. Da der durch ein Rundschreiben zur Hilfe auf¬
geforderte Waisenrat vollständig versagte, hat sich Landsberg an die Volks¬
schullehrer gewandt mit der Bitte, ihm in der Fürsorge für die Jugend auch
über das schulpflichtige Alter hinaus beizustehn und ihm Fälle von Ausbeutung
der Kinder und der Jugendlichen anzuzeigen und dabei bemerkt, daß auch
strafbare Handlungen, die zur Kenntnis des Vormundschaftsrichters gebracht
werden, keineswegs als zur strafrechtlichen Behandlung angezeigt gelten.
Vielmehr werde sich der Vormundschaftsrichter bemühen, die Sachen mit den
ihm an die Hand gegebnen Machtmitteln lediglich im Interesse der Minder¬
jährigen zu behandeln. Der Verfasser schätzt die Zahl der in der Hausindustrie
zur Verkümmerung verurteilten Kinder (leibliche Verkümmerung macht eben
doch untüchtig) auf eine Viertelmillion. Natürlich sei es unmöglich, diese alle
ihren Eltern wegzunehmen und auf Staatskosten zu erziehen. Es müsse demnach
darauf hingearbeitet werden, diese volksverderblichen Erwerbsarten durch gesündere
zu ersetzen. Die Arbeit im Kohlenbergwerk, in der Grobeisenindustrie ernähre
nicht bloß ihren Mann, sondern auch dessen Familie. Warum überlasse so
mancher Deutsche diese Arbeit den Polen, Kroaten und Italienern und wähle
eine Beschäftigung, bei der er, wie er von vornherein wisse, die Familie nur
unter der Voraussetzung zu erhalten vermag, daß die Frau und die Kinder
mitarbeiten? Man wende ein, die seit Generationen körperlich entartete
Bevölkerung ganzer Gegenden sei zu harter und schwerer Arbeit nicht mehr
fähig. Das treffe jedoch glücklicherweise nicht im vollen Umfange zu. (Der
Verfasser hätte an dieser Stelle daran erinnern sollen, daß einen wesentlichen
Teil der Schuld die Verbildung des Geschmacks und des Ehrgefühls trägt,
die in schmutziger und schwerer Arbeit etwas Herabwürdigendes sieht und zum
Beispiel die Nadelarbeit für vornehmer hält als die Arbeit der ländlichen oder
der städtischen Dienstmagd; je mehr dieser Über- und Verbildungsprozeß fort¬
schreitet, desto weniger kann unsre Landwirtschaft, unsre Großindustrie der
slawischen und sonstiger ausländischer Arbeiter entbehren.) Bei jungen Leuten,
die das vierzehnte Lebensjahr überschritten haben, reicht die Schutzgesetzgebung
namentlich deswegen nicht aus, weil angenommen wird, daß sie dann imstande
seien, sich ihren Lebensunterhalt vollständig zuverdienen, und weil die Armen¬
verwaltung mit Berufung auf diesen vom Bundesamt für Heimatwesen an¬
erkannten Grundsatz das Gesuch der Vormundschaft um eine Beihilfe zum
Unterhalt und zur Erziehung ablehnen darf."

In dem Kapitel "Fehltritt und Laster wird auch der Verband für
Mutterschutz als Bundesgenosse im Kampfe gegen die Verwahrlosung begrüßt.
Man könne nicht alle Einzelbestrebungen des Verbandes billigen, aber im
Grundgedanken: der Fürsorge für das Wohl der unschuldig leidenden und durch
Vorurteil niedergedrückten Kinder, müsse man ihm beistimmen. Wie das Vor¬
urteil wirkt, wird an einem Falle gezeigt. Ein unehelich geborner Knabe, für
den aber seine bemittelten Verwandten gut sorgten, wird in Böhmen erzogen,


Grenzboten II 1908 SS
Fürsorgeerziehung

Gesetzes entschuldigt wurden. Da der durch ein Rundschreiben zur Hilfe auf¬
geforderte Waisenrat vollständig versagte, hat sich Landsberg an die Volks¬
schullehrer gewandt mit der Bitte, ihm in der Fürsorge für die Jugend auch
über das schulpflichtige Alter hinaus beizustehn und ihm Fälle von Ausbeutung
der Kinder und der Jugendlichen anzuzeigen und dabei bemerkt, daß auch
strafbare Handlungen, die zur Kenntnis des Vormundschaftsrichters gebracht
werden, keineswegs als zur strafrechtlichen Behandlung angezeigt gelten.
Vielmehr werde sich der Vormundschaftsrichter bemühen, die Sachen mit den
ihm an die Hand gegebnen Machtmitteln lediglich im Interesse der Minder¬
jährigen zu behandeln. Der Verfasser schätzt die Zahl der in der Hausindustrie
zur Verkümmerung verurteilten Kinder (leibliche Verkümmerung macht eben
doch untüchtig) auf eine Viertelmillion. Natürlich sei es unmöglich, diese alle
ihren Eltern wegzunehmen und auf Staatskosten zu erziehen. Es müsse demnach
darauf hingearbeitet werden, diese volksverderblichen Erwerbsarten durch gesündere
zu ersetzen. Die Arbeit im Kohlenbergwerk, in der Grobeisenindustrie ernähre
nicht bloß ihren Mann, sondern auch dessen Familie. Warum überlasse so
mancher Deutsche diese Arbeit den Polen, Kroaten und Italienern und wähle
eine Beschäftigung, bei der er, wie er von vornherein wisse, die Familie nur
unter der Voraussetzung zu erhalten vermag, daß die Frau und die Kinder
mitarbeiten? Man wende ein, die seit Generationen körperlich entartete
Bevölkerung ganzer Gegenden sei zu harter und schwerer Arbeit nicht mehr
fähig. Das treffe jedoch glücklicherweise nicht im vollen Umfange zu. (Der
Verfasser hätte an dieser Stelle daran erinnern sollen, daß einen wesentlichen
Teil der Schuld die Verbildung des Geschmacks und des Ehrgefühls trägt,
die in schmutziger und schwerer Arbeit etwas Herabwürdigendes sieht und zum
Beispiel die Nadelarbeit für vornehmer hält als die Arbeit der ländlichen oder
der städtischen Dienstmagd; je mehr dieser Über- und Verbildungsprozeß fort¬
schreitet, desto weniger kann unsre Landwirtschaft, unsre Großindustrie der
slawischen und sonstiger ausländischer Arbeiter entbehren.) Bei jungen Leuten,
die das vierzehnte Lebensjahr überschritten haben, reicht die Schutzgesetzgebung
namentlich deswegen nicht aus, weil angenommen wird, daß sie dann imstande
seien, sich ihren Lebensunterhalt vollständig zuverdienen, und weil die Armen¬
verwaltung mit Berufung auf diesen vom Bundesamt für Heimatwesen an¬
erkannten Grundsatz das Gesuch der Vormundschaft um eine Beihilfe zum
Unterhalt und zur Erziehung ablehnen darf."

In dem Kapitel „Fehltritt und Laster wird auch der Verband für
Mutterschutz als Bundesgenosse im Kampfe gegen die Verwahrlosung begrüßt.
Man könne nicht alle Einzelbestrebungen des Verbandes billigen, aber im
Grundgedanken: der Fürsorge für das Wohl der unschuldig leidenden und durch
Vorurteil niedergedrückten Kinder, müsse man ihm beistimmen. Wie das Vor¬
urteil wirkt, wird an einem Falle gezeigt. Ein unehelich geborner Knabe, für
den aber seine bemittelten Verwandten gut sorgten, wird in Böhmen erzogen,


Grenzboten II 1908 SS
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0277" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311964"/>
          <fw type="header" place="top"> Fürsorgeerziehung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1182" prev="#ID_1181"> Gesetzes entschuldigt wurden. Da der durch ein Rundschreiben zur Hilfe auf¬<lb/>
geforderte Waisenrat vollständig versagte, hat sich Landsberg an die Volks¬<lb/>
schullehrer gewandt mit der Bitte, ihm in der Fürsorge für die Jugend auch<lb/>
über das schulpflichtige Alter hinaus beizustehn und ihm Fälle von Ausbeutung<lb/>
der Kinder und der Jugendlichen anzuzeigen und dabei bemerkt, daß auch<lb/>
strafbare Handlungen, die zur Kenntnis des Vormundschaftsrichters gebracht<lb/>
werden, keineswegs als zur strafrechtlichen Behandlung angezeigt gelten.<lb/>
Vielmehr werde sich der Vormundschaftsrichter bemühen, die Sachen mit den<lb/>
ihm an die Hand gegebnen Machtmitteln lediglich im Interesse der Minder¬<lb/>
jährigen zu behandeln. Der Verfasser schätzt die Zahl der in der Hausindustrie<lb/>
zur Verkümmerung verurteilten Kinder (leibliche Verkümmerung macht eben<lb/>
doch untüchtig) auf eine Viertelmillion. Natürlich sei es unmöglich, diese alle<lb/>
ihren Eltern wegzunehmen und auf Staatskosten zu erziehen. Es müsse demnach<lb/>
darauf hingearbeitet werden, diese volksverderblichen Erwerbsarten durch gesündere<lb/>
zu ersetzen. Die Arbeit im Kohlenbergwerk, in der Grobeisenindustrie ernähre<lb/>
nicht bloß ihren Mann, sondern auch dessen Familie. Warum überlasse so<lb/>
mancher Deutsche diese Arbeit den Polen, Kroaten und Italienern und wähle<lb/>
eine Beschäftigung, bei der er, wie er von vornherein wisse, die Familie nur<lb/>
unter der Voraussetzung zu erhalten vermag, daß die Frau und die Kinder<lb/>
mitarbeiten? Man wende ein, die seit Generationen körperlich entartete<lb/>
Bevölkerung ganzer Gegenden sei zu harter und schwerer Arbeit nicht mehr<lb/>
fähig. Das treffe jedoch glücklicherweise nicht im vollen Umfange zu. (Der<lb/>
Verfasser hätte an dieser Stelle daran erinnern sollen, daß einen wesentlichen<lb/>
Teil der Schuld die Verbildung des Geschmacks und des Ehrgefühls trägt,<lb/>
die in schmutziger und schwerer Arbeit etwas Herabwürdigendes sieht und zum<lb/>
Beispiel die Nadelarbeit für vornehmer hält als die Arbeit der ländlichen oder<lb/>
der städtischen Dienstmagd; je mehr dieser Über- und Verbildungsprozeß fort¬<lb/>
schreitet, desto weniger kann unsre Landwirtschaft, unsre Großindustrie der<lb/>
slawischen und sonstiger ausländischer Arbeiter entbehren.) Bei jungen Leuten,<lb/>
die das vierzehnte Lebensjahr überschritten haben, reicht die Schutzgesetzgebung<lb/>
namentlich deswegen nicht aus, weil angenommen wird, daß sie dann imstande<lb/>
seien, sich ihren Lebensunterhalt vollständig zuverdienen, und weil die Armen¬<lb/>
verwaltung mit Berufung auf diesen vom Bundesamt für Heimatwesen an¬<lb/>
erkannten Grundsatz das Gesuch der Vormundschaft um eine Beihilfe zum<lb/>
Unterhalt und zur Erziehung ablehnen darf."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1183" next="#ID_1184"> In dem Kapitel &#x201E;Fehltritt und Laster wird auch der Verband für<lb/>
Mutterschutz als Bundesgenosse im Kampfe gegen die Verwahrlosung begrüßt.<lb/>
Man könne nicht alle Einzelbestrebungen des Verbandes billigen, aber im<lb/>
Grundgedanken: der Fürsorge für das Wohl der unschuldig leidenden und durch<lb/>
Vorurteil niedergedrückten Kinder, müsse man ihm beistimmen. Wie das Vor¬<lb/>
urteil wirkt, wird an einem Falle gezeigt. Ein unehelich geborner Knabe, für<lb/>
den aber seine bemittelten Verwandten gut sorgten, wird in Böhmen erzogen,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1908 SS</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0277] Fürsorgeerziehung Gesetzes entschuldigt wurden. Da der durch ein Rundschreiben zur Hilfe auf¬ geforderte Waisenrat vollständig versagte, hat sich Landsberg an die Volks¬ schullehrer gewandt mit der Bitte, ihm in der Fürsorge für die Jugend auch über das schulpflichtige Alter hinaus beizustehn und ihm Fälle von Ausbeutung der Kinder und der Jugendlichen anzuzeigen und dabei bemerkt, daß auch strafbare Handlungen, die zur Kenntnis des Vormundschaftsrichters gebracht werden, keineswegs als zur strafrechtlichen Behandlung angezeigt gelten. Vielmehr werde sich der Vormundschaftsrichter bemühen, die Sachen mit den ihm an die Hand gegebnen Machtmitteln lediglich im Interesse der Minder¬ jährigen zu behandeln. Der Verfasser schätzt die Zahl der in der Hausindustrie zur Verkümmerung verurteilten Kinder (leibliche Verkümmerung macht eben doch untüchtig) auf eine Viertelmillion. Natürlich sei es unmöglich, diese alle ihren Eltern wegzunehmen und auf Staatskosten zu erziehen. Es müsse demnach darauf hingearbeitet werden, diese volksverderblichen Erwerbsarten durch gesündere zu ersetzen. Die Arbeit im Kohlenbergwerk, in der Grobeisenindustrie ernähre nicht bloß ihren Mann, sondern auch dessen Familie. Warum überlasse so mancher Deutsche diese Arbeit den Polen, Kroaten und Italienern und wähle eine Beschäftigung, bei der er, wie er von vornherein wisse, die Familie nur unter der Voraussetzung zu erhalten vermag, daß die Frau und die Kinder mitarbeiten? Man wende ein, die seit Generationen körperlich entartete Bevölkerung ganzer Gegenden sei zu harter und schwerer Arbeit nicht mehr fähig. Das treffe jedoch glücklicherweise nicht im vollen Umfange zu. (Der Verfasser hätte an dieser Stelle daran erinnern sollen, daß einen wesentlichen Teil der Schuld die Verbildung des Geschmacks und des Ehrgefühls trägt, die in schmutziger und schwerer Arbeit etwas Herabwürdigendes sieht und zum Beispiel die Nadelarbeit für vornehmer hält als die Arbeit der ländlichen oder der städtischen Dienstmagd; je mehr dieser Über- und Verbildungsprozeß fort¬ schreitet, desto weniger kann unsre Landwirtschaft, unsre Großindustrie der slawischen und sonstiger ausländischer Arbeiter entbehren.) Bei jungen Leuten, die das vierzehnte Lebensjahr überschritten haben, reicht die Schutzgesetzgebung namentlich deswegen nicht aus, weil angenommen wird, daß sie dann imstande seien, sich ihren Lebensunterhalt vollständig zuverdienen, und weil die Armen¬ verwaltung mit Berufung auf diesen vom Bundesamt für Heimatwesen an¬ erkannten Grundsatz das Gesuch der Vormundschaft um eine Beihilfe zum Unterhalt und zur Erziehung ablehnen darf." In dem Kapitel „Fehltritt und Laster wird auch der Verband für Mutterschutz als Bundesgenosse im Kampfe gegen die Verwahrlosung begrüßt. Man könne nicht alle Einzelbestrebungen des Verbandes billigen, aber im Grundgedanken: der Fürsorge für das Wohl der unschuldig leidenden und durch Vorurteil niedergedrückten Kinder, müsse man ihm beistimmen. Wie das Vor¬ urteil wirkt, wird an einem Falle gezeigt. Ein unehelich geborner Knabe, für den aber seine bemittelten Verwandten gut sorgten, wird in Böhmen erzogen, Grenzboten II 1908 SS

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/277
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/277>, abgerufen am 24.07.2024.