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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Fürsorgeerziehung

ja doch gar nicht selten, das; aus der Bergpredigt die Verwerflichkeit des
Kriegsdienstes gefolgert wird, und jedenfalls ist sie nicht geeignet, hingebende
Vaterlandsliebe und kriegerischen Mut einzuflößen. Außerdem werden im
Religionsunterricht Dogmen gelehrt, die geradezu Schaden anrichten; so wird
das Gerechtigkeitsgefühl untergraben, wenn die Kinder glauben müssen, daß die
Ungetauften verdammt werden, daß also die ewige Verdammnis über Unzählige
verhängt werde wegen eines Zufalls, deu abzuwenden nicht in ihrer Macht
stand. Was ein armer Junge braucht, um sich ehrlich fortzuhelfen und Konflikten
mit der Gesellschaft zu entgehn, das ist Rechtschaffenheit und Tüchtigkeit. Diese
beiden Eigenschaften sind unabhängig von der Konfession. Demgemäß dringen
Sachverständige auf Jnterkonfessionalität: "Die Kinder sollen erfahren und
lernen, was die Menschen verbindet, und nicht das, was sie ganz unnötiger¬
weise trennt. Es empfiehlt sich nach wie vor, bei der Erziehung der Kinder
Wert darauf zu legen, daß möglichst viele das Glück und den Halt des Gott¬
vertrauens kennen und bewahren lernen. Aber man hüte sich, diese Herzenssache
zur alleinigen Grundlage der sittlichen Erziehung zu machen. Durch solche
Verquickung schädigt man beides." Landsberg geht nicht so weit wie der
Verfasser einer Zuschrift an ihn, der geradezu fordert, man solle helle gro߬
städtische Sozialdemokratenkinder nicht frommen Familien in Pflege geben,
deren Ansichten und Gewohnheiten nur ihre Spottlust wecken würden, sondern
rechtschaffnen konfessionslosen Leuten. Bei dem heutigen Ansturm der Über¬
menschen, der Antimoralisten und der Vorkämpferinnen einer sogenannten
Reform der Sexualethik auf die Grundlagen der bürgerlichen Ordnung könnten
die Verteidiger dieser Ordnung des Beistandes der Geistlichen nicht entbehren.
Zudem handle es sich um Kinder, denen die elterliche Liebe fehle, für die des¬
wegen ein das Gemüt bereicherndes religiöses Ideal als Zugabe zu deu not¬
wendigen Eigenschaften, die anerzogen werden sollen, ein ganz besondres Glück
bedeute. (Man wird hinzufügen dürfen, daß für gewöhnlich nur der religiöse
Glaube den Erziehern fremder Kinder ein liebevolles Interesse für diese einflößt,
das die Elternliebe zu ersetzen vermag.) Aber mit alledem werde der Begriff
"religiös-sittlich" für den hier in Rede stehenden Zweck nicht praktisch ver¬
wertbar, und daß der religiöse oder konfessionelle Eifer, besonders der katholische,
diesem Zweck manchmal sogar entgegenarbeitet, dafür findet man in den spätern
Teilen des Buches manche Beweise. Nur einer der Fälle, die Landsberg zu
erzählen weiß, mag hier mitgeteilt werden. Ein Mädchen ist seinen unsittlich
lebenden Eltern weggenommen und in einem Kloster untergebracht worden.
Fünfzehnjährig, wird es als Dienstmädchen in ein gutes Haus gegeben. Die
Nonnen verbieten ihm jeden Ausgang, die Dienstherrschaft dagegen erlaubt den
sonntäglichen Besuch des Jungfrauenvereins. Weil das Mädchen dort einmal
ein Unwetter abgewartet hat und erst nach Einbruch der Dunkelheit, in an¬
stündiger Gesellschaft übrigens, heimgegangen ist, erscheint bald darauf eine
Nonne in Begleitung zweier handfester Männer bei der Dienstherrschaft, und


Fürsorgeerziehung

ja doch gar nicht selten, das; aus der Bergpredigt die Verwerflichkeit des
Kriegsdienstes gefolgert wird, und jedenfalls ist sie nicht geeignet, hingebende
Vaterlandsliebe und kriegerischen Mut einzuflößen. Außerdem werden im
Religionsunterricht Dogmen gelehrt, die geradezu Schaden anrichten; so wird
das Gerechtigkeitsgefühl untergraben, wenn die Kinder glauben müssen, daß die
Ungetauften verdammt werden, daß also die ewige Verdammnis über Unzählige
verhängt werde wegen eines Zufalls, deu abzuwenden nicht in ihrer Macht
stand. Was ein armer Junge braucht, um sich ehrlich fortzuhelfen und Konflikten
mit der Gesellschaft zu entgehn, das ist Rechtschaffenheit und Tüchtigkeit. Diese
beiden Eigenschaften sind unabhängig von der Konfession. Demgemäß dringen
Sachverständige auf Jnterkonfessionalität: »Die Kinder sollen erfahren und
lernen, was die Menschen verbindet, und nicht das, was sie ganz unnötiger¬
weise trennt. Es empfiehlt sich nach wie vor, bei der Erziehung der Kinder
Wert darauf zu legen, daß möglichst viele das Glück und den Halt des Gott¬
vertrauens kennen und bewahren lernen. Aber man hüte sich, diese Herzenssache
zur alleinigen Grundlage der sittlichen Erziehung zu machen. Durch solche
Verquickung schädigt man beides." Landsberg geht nicht so weit wie der
Verfasser einer Zuschrift an ihn, der geradezu fordert, man solle helle gro߬
städtische Sozialdemokratenkinder nicht frommen Familien in Pflege geben,
deren Ansichten und Gewohnheiten nur ihre Spottlust wecken würden, sondern
rechtschaffnen konfessionslosen Leuten. Bei dem heutigen Ansturm der Über¬
menschen, der Antimoralisten und der Vorkämpferinnen einer sogenannten
Reform der Sexualethik auf die Grundlagen der bürgerlichen Ordnung könnten
die Verteidiger dieser Ordnung des Beistandes der Geistlichen nicht entbehren.
Zudem handle es sich um Kinder, denen die elterliche Liebe fehle, für die des¬
wegen ein das Gemüt bereicherndes religiöses Ideal als Zugabe zu deu not¬
wendigen Eigenschaften, die anerzogen werden sollen, ein ganz besondres Glück
bedeute. (Man wird hinzufügen dürfen, daß für gewöhnlich nur der religiöse
Glaube den Erziehern fremder Kinder ein liebevolles Interesse für diese einflößt,
das die Elternliebe zu ersetzen vermag.) Aber mit alledem werde der Begriff
„religiös-sittlich" für den hier in Rede stehenden Zweck nicht praktisch ver¬
wertbar, und daß der religiöse oder konfessionelle Eifer, besonders der katholische,
diesem Zweck manchmal sogar entgegenarbeitet, dafür findet man in den spätern
Teilen des Buches manche Beweise. Nur einer der Fälle, die Landsberg zu
erzählen weiß, mag hier mitgeteilt werden. Ein Mädchen ist seinen unsittlich
lebenden Eltern weggenommen und in einem Kloster untergebracht worden.
Fünfzehnjährig, wird es als Dienstmädchen in ein gutes Haus gegeben. Die
Nonnen verbieten ihm jeden Ausgang, die Dienstherrschaft dagegen erlaubt den
sonntäglichen Besuch des Jungfrauenvereins. Weil das Mädchen dort einmal
ein Unwetter abgewartet hat und erst nach Einbruch der Dunkelheit, in an¬
stündiger Gesellschaft übrigens, heimgegangen ist, erscheint bald darauf eine
Nonne in Begleitung zweier handfester Männer bei der Dienstherrschaft, und


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[0275] Fürsorgeerziehung ja doch gar nicht selten, das; aus der Bergpredigt die Verwerflichkeit des Kriegsdienstes gefolgert wird, und jedenfalls ist sie nicht geeignet, hingebende Vaterlandsliebe und kriegerischen Mut einzuflößen. Außerdem werden im Religionsunterricht Dogmen gelehrt, die geradezu Schaden anrichten; so wird das Gerechtigkeitsgefühl untergraben, wenn die Kinder glauben müssen, daß die Ungetauften verdammt werden, daß also die ewige Verdammnis über Unzählige verhängt werde wegen eines Zufalls, deu abzuwenden nicht in ihrer Macht stand. Was ein armer Junge braucht, um sich ehrlich fortzuhelfen und Konflikten mit der Gesellschaft zu entgehn, das ist Rechtschaffenheit und Tüchtigkeit. Diese beiden Eigenschaften sind unabhängig von der Konfession. Demgemäß dringen Sachverständige auf Jnterkonfessionalität: »Die Kinder sollen erfahren und lernen, was die Menschen verbindet, und nicht das, was sie ganz unnötiger¬ weise trennt. Es empfiehlt sich nach wie vor, bei der Erziehung der Kinder Wert darauf zu legen, daß möglichst viele das Glück und den Halt des Gott¬ vertrauens kennen und bewahren lernen. Aber man hüte sich, diese Herzenssache zur alleinigen Grundlage der sittlichen Erziehung zu machen. Durch solche Verquickung schädigt man beides." Landsberg geht nicht so weit wie der Verfasser einer Zuschrift an ihn, der geradezu fordert, man solle helle gro߬ städtische Sozialdemokratenkinder nicht frommen Familien in Pflege geben, deren Ansichten und Gewohnheiten nur ihre Spottlust wecken würden, sondern rechtschaffnen konfessionslosen Leuten. Bei dem heutigen Ansturm der Über¬ menschen, der Antimoralisten und der Vorkämpferinnen einer sogenannten Reform der Sexualethik auf die Grundlagen der bürgerlichen Ordnung könnten die Verteidiger dieser Ordnung des Beistandes der Geistlichen nicht entbehren. Zudem handle es sich um Kinder, denen die elterliche Liebe fehle, für die des¬ wegen ein das Gemüt bereicherndes religiöses Ideal als Zugabe zu deu not¬ wendigen Eigenschaften, die anerzogen werden sollen, ein ganz besondres Glück bedeute. (Man wird hinzufügen dürfen, daß für gewöhnlich nur der religiöse Glaube den Erziehern fremder Kinder ein liebevolles Interesse für diese einflößt, das die Elternliebe zu ersetzen vermag.) Aber mit alledem werde der Begriff „religiös-sittlich" für den hier in Rede stehenden Zweck nicht praktisch ver¬ wertbar, und daß der religiöse oder konfessionelle Eifer, besonders der katholische, diesem Zweck manchmal sogar entgegenarbeitet, dafür findet man in den spätern Teilen des Buches manche Beweise. Nur einer der Fälle, die Landsberg zu erzählen weiß, mag hier mitgeteilt werden. Ein Mädchen ist seinen unsittlich lebenden Eltern weggenommen und in einem Kloster untergebracht worden. Fünfzehnjährig, wird es als Dienstmädchen in ein gutes Haus gegeben. Die Nonnen verbieten ihm jeden Ausgang, die Dienstherrschaft dagegen erlaubt den sonntäglichen Besuch des Jungfrauenvereins. Weil das Mädchen dort einmal ein Unwetter abgewartet hat und erst nach Einbruch der Dunkelheit, in an¬ stündiger Gesellschaft übrigens, heimgegangen ist, erscheint bald darauf eine Nonne in Begleitung zweier handfester Männer bei der Dienstherrschaft, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/275>, abgerufen am 24.07.2024.