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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Fürsorgeerziehung

fast des ganzen romanischen Amerikas keineswegs ausgeschlossen ist. Ob, wann
und wie sich ein solches Ereignis aber einmal vollziehen wird, das hängt
von dem Zusammenspiel der mannigfaltigsten Umstände ab. In ihrer Ge¬
samtheit sind diese völlig unberechenbar.




Fürsorgeerziehung

MM! s begegnet dem Rezensenten nicht oft in diesen Tagen literarischer
Überproduktion, daß er freudig ausrufen kann: dieses Buch ist
nicht allein existenzberechtigt, uicht allein nützlich, es ist geradezu
notwendig! Bewahrung der Jugend vor dem Verderben, das
! einem ganz wesentlichen Teile der Sprößlinge des ärmern Volks
droht, gehört zu den allerdringendsten Staatsnotwendigkeiten. Soll aber die
Bewahrungs- und Nettungsarbeit mit einiger Aussicht auf Erfolg betrieben
werden, so müssen möglichst weite Kreise für die Teilnahme daran gewonnen,
und sie müssen über den Umfang und die Natur des Übels sowie über die zu
seiner Bekämpfung verfügbaren Mittel genau unterrichtet werden. Das leistet
I. F. Landsberg, Vormundschaftsrichter in Lennep, mit seinem Buche: Das
Recht der Zwangs- und Fürsorgeerziehung. (Berlin und Leipzig,
Or. Walther Rothschild, 1908.) Sein Inhalt ist aus reicher Erfahrung und
gründlicher Sachkenntnis geschöpft, ein warmes Herz hat es inspiriert, und ein
gesunder praktischer Verstand sorgt dafür, daß die Herzenswärme nicht irre¬
führt. Den zunächst berufnen: Vormundschaftsrichtern, Lehrern, Kreis- und
Gemeindebehörden, Pfarrern, Vormündern, Leitern von Wohltätigkeitsvereinen
bietet es sich als ein Führer durch ein verwickeltes Rechtsgebiet dar, den sie
bald unentbehrlich finden werden.

Im ersten Abschnitt werden "die Feinde" beschrieben, die das sittliche
Verderben anrichten, und wird zunächst erklärt, was darunter zu verstehn sei.
Um sich das klar zu machen, muß man einen praktischen Begriff von Sittlich¬
keit haben, und der Verfasser beweist nun, daß dieser Begriff keineswegs mit
den Definitionen der christlichen Kirchen zusammenfüllt, daß es darum irre leitet,
wenn in den Kommentaren zum preußischen Fürsorgegesetz und in den Aus¬
führungsbestimmungen des Ministers des Innern Sittlichkeit mit Religion
beinahe identifiziert wird. Das Christentum predige eine Sittlichkeit, die über
das für die bürgerliche Ordnung erforderliche hinausgeht und zu heroischen
Opfern im Dienste der Nächstenliebe befähigt. Aber diese Sittlichkeit, darin
geben wir ihm recht, ist nicht das, was einem verwahrlosten Kinde in seinem
eignen Interesse und in dem der Gesellschaft beigebracht werden soll und kann.
Und diese erhabne Sittlichkeit birgt zudem wirkliche Gefahren. Der Fall ist


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fast des ganzen romanischen Amerikas keineswegs ausgeschlossen ist. Ob, wann
und wie sich ein solches Ereignis aber einmal vollziehen wird, das hängt
von dem Zusammenspiel der mannigfaltigsten Umstände ab. In ihrer Ge¬
samtheit sind diese völlig unberechenbar.




Fürsorgeerziehung

MM! s begegnet dem Rezensenten nicht oft in diesen Tagen literarischer
Überproduktion, daß er freudig ausrufen kann: dieses Buch ist
nicht allein existenzberechtigt, uicht allein nützlich, es ist geradezu
notwendig! Bewahrung der Jugend vor dem Verderben, das
! einem ganz wesentlichen Teile der Sprößlinge des ärmern Volks
droht, gehört zu den allerdringendsten Staatsnotwendigkeiten. Soll aber die
Bewahrungs- und Nettungsarbeit mit einiger Aussicht auf Erfolg betrieben
werden, so müssen möglichst weite Kreise für die Teilnahme daran gewonnen,
und sie müssen über den Umfang und die Natur des Übels sowie über die zu
seiner Bekämpfung verfügbaren Mittel genau unterrichtet werden. Das leistet
I. F. Landsberg, Vormundschaftsrichter in Lennep, mit seinem Buche: Das
Recht der Zwangs- und Fürsorgeerziehung. (Berlin und Leipzig,
Or. Walther Rothschild, 1908.) Sein Inhalt ist aus reicher Erfahrung und
gründlicher Sachkenntnis geschöpft, ein warmes Herz hat es inspiriert, und ein
gesunder praktischer Verstand sorgt dafür, daß die Herzenswärme nicht irre¬
führt. Den zunächst berufnen: Vormundschaftsrichtern, Lehrern, Kreis- und
Gemeindebehörden, Pfarrern, Vormündern, Leitern von Wohltätigkeitsvereinen
bietet es sich als ein Führer durch ein verwickeltes Rechtsgebiet dar, den sie
bald unentbehrlich finden werden.

Im ersten Abschnitt werden „die Feinde" beschrieben, die das sittliche
Verderben anrichten, und wird zunächst erklärt, was darunter zu verstehn sei.
Um sich das klar zu machen, muß man einen praktischen Begriff von Sittlich¬
keit haben, und der Verfasser beweist nun, daß dieser Begriff keineswegs mit
den Definitionen der christlichen Kirchen zusammenfüllt, daß es darum irre leitet,
wenn in den Kommentaren zum preußischen Fürsorgegesetz und in den Aus¬
führungsbestimmungen des Ministers des Innern Sittlichkeit mit Religion
beinahe identifiziert wird. Das Christentum predige eine Sittlichkeit, die über
das für die bürgerliche Ordnung erforderliche hinausgeht und zu heroischen
Opfern im Dienste der Nächstenliebe befähigt. Aber diese Sittlichkeit, darin
geben wir ihm recht, ist nicht das, was einem verwahrlosten Kinde in seinem
eignen Interesse und in dem der Gesellschaft beigebracht werden soll und kann.
Und diese erhabne Sittlichkeit birgt zudem wirkliche Gefahren. Der Fall ist


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[0274] Fürsorgeerziehung fast des ganzen romanischen Amerikas keineswegs ausgeschlossen ist. Ob, wann und wie sich ein solches Ereignis aber einmal vollziehen wird, das hängt von dem Zusammenspiel der mannigfaltigsten Umstände ab. In ihrer Ge¬ samtheit sind diese völlig unberechenbar. Fürsorgeerziehung MM! s begegnet dem Rezensenten nicht oft in diesen Tagen literarischer Überproduktion, daß er freudig ausrufen kann: dieses Buch ist nicht allein existenzberechtigt, uicht allein nützlich, es ist geradezu notwendig! Bewahrung der Jugend vor dem Verderben, das ! einem ganz wesentlichen Teile der Sprößlinge des ärmern Volks droht, gehört zu den allerdringendsten Staatsnotwendigkeiten. Soll aber die Bewahrungs- und Nettungsarbeit mit einiger Aussicht auf Erfolg betrieben werden, so müssen möglichst weite Kreise für die Teilnahme daran gewonnen, und sie müssen über den Umfang und die Natur des Übels sowie über die zu seiner Bekämpfung verfügbaren Mittel genau unterrichtet werden. Das leistet I. F. Landsberg, Vormundschaftsrichter in Lennep, mit seinem Buche: Das Recht der Zwangs- und Fürsorgeerziehung. (Berlin und Leipzig, Or. Walther Rothschild, 1908.) Sein Inhalt ist aus reicher Erfahrung und gründlicher Sachkenntnis geschöpft, ein warmes Herz hat es inspiriert, und ein gesunder praktischer Verstand sorgt dafür, daß die Herzenswärme nicht irre¬ führt. Den zunächst berufnen: Vormundschaftsrichtern, Lehrern, Kreis- und Gemeindebehörden, Pfarrern, Vormündern, Leitern von Wohltätigkeitsvereinen bietet es sich als ein Führer durch ein verwickeltes Rechtsgebiet dar, den sie bald unentbehrlich finden werden. Im ersten Abschnitt werden „die Feinde" beschrieben, die das sittliche Verderben anrichten, und wird zunächst erklärt, was darunter zu verstehn sei. Um sich das klar zu machen, muß man einen praktischen Begriff von Sittlich¬ keit haben, und der Verfasser beweist nun, daß dieser Begriff keineswegs mit den Definitionen der christlichen Kirchen zusammenfüllt, daß es darum irre leitet, wenn in den Kommentaren zum preußischen Fürsorgegesetz und in den Aus¬ führungsbestimmungen des Ministers des Innern Sittlichkeit mit Religion beinahe identifiziert wird. Das Christentum predige eine Sittlichkeit, die über das für die bürgerliche Ordnung erforderliche hinausgeht und zu heroischen Opfern im Dienste der Nächstenliebe befähigt. Aber diese Sittlichkeit, darin geben wir ihm recht, ist nicht das, was einem verwahrlosten Kinde in seinem eignen Interesse und in dem der Gesellschaft beigebracht werden soll und kann. Und diese erhabne Sittlichkeit birgt zudem wirkliche Gefahren. Der Fall ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/274>, abgerufen am 24.07.2024.