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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Politik in der Schule

aufmerksam machen, mehr nicht. Den eigentlichen Kampf hat jeder selbst aus-
zufechten: wohl dem, der die scharfgeschliffne Waffe zu gebrauchen in der Jugend
gelernt hat. Doch ich sagte vorhin, das Leben hat auch seine heitere Seite,
das ist die Kunst. Man muß aber diese Kunst nicht verstehn als Ausübung
einer bestimmten Kunst, der Dichtkunst, Malerei, Musik usw. Das ist eine Sache
für sich. Die Kunstbetrachtung im engern Sinne, d. h. das persönliche Verhältnis
des einzelnen Menschen zu bestimmten Kunstwerken setzt technische Kenntnisse
voraus und beruht auf dem Problem, ob und wie es möglich ist, die Gestaltung
des innern Erlebnisses eines andern -- des Künstlers -- auf Grund besondrer
Kunstgesetze nachzuempfinden und es als Besitz eignen künstlerischen Erlebnisses
zu erwerben und zu verarbeiten. Hier haben wir es nur mit der künstlerischen
Betrachtung der Welt überhaupt zu tun. Den Inhalt der Kunst bildet (im
Gegensatz zur allgemeinen Wirklichkeit) das Reich der Ideen, d. h. der Bilder,
die wir als etwas durchaus Wesenhaftes und doch nicht Wirkliches, physisch
Existierendes anschauen. Diese Bilder erfüllen unsern anschauungsbedürftigen
innern Menschen mit einem zwar nicht definierbaren, aber nichtsdestoweniger
einzig wertvollen tiefen Inhalt, während wir zu den Dingen, den physischen
Gegenständen dieser Welt nur ein äußeres Verhältnis haben. Diese Ideen
empfangen wir aber nicht bloß aus den sogenannten Künsten, die kann uns,
wenn wir nur dafür empfänglich sind oder sein wollen, jedes Ding geben, das
kleinste Infusorium so gut wie das ganze Weltall. Nicht nur in einem
Goethischen Gedicht, einer Beethovenschen Sinfonie oder irgendeinem Werke
der bildenden Kunst usw., nein, auch in jeder Landschaft draußen vor unsrer
Stadt können wir jene Ideen genießen; ein einsamer Feldweg, ein Wald, ein
Palast, eine verfallne Hütte, eine Gruppe spielender Kinder, ein erregter Volks¬
haufe, die Anmut einer schönen Bewegung, die groteske Erscheinung eines
lustigen Vagabunden, alles das sind solche Bilder, oder sie können es doch
sein, und tausend und aber tausende solcher Bilder umgeben uns alle jeden
Tag. Ganz besonders aber gehört dahin der Eindruck, den eine harmonisch
entwickelte Persönlichkeit auf uns macht, die Freude an uns sympathischen
Menschen, denen wir flüchtig in der Unterhaltung und kurzer Bekanntschaft
nahe treten, oder mit denen wir durch dauernden Verkehr in Familie und
Freundschaft verbunden sind. Wir freuen uns, wie sich derselbe Lichtstrahl in
dem Prisma der Individualität verschiedenartig bricht, und die gegenseitige
Achtung und Liebe überzeugt uns, daß das rote Licht darum nicht weniger
wert ist als das grüne, weil die Strahlen, die jenes hervorbringen, langsamer
schwingen als bei diesen. Und noch einer gehört hierher, der unzertrennliche
Begleiter jeder künstlerischen Seele, der unerbittliche Feind jedes Philistertums:
der Humor, ein Kind, wie Euphorion, und ein Gewaltiger zugleich, der Herz
und Kopf, seine ewig feindseligen Eltern, immer wieder aufs neue zu versöhnen
weiß durch die verstandesgewürzte Sprache seines göttlichen Gemüts. Das
alles gehört zu einer künstlerischen Betrachtungsweise, mit ihr finden wir die


Politik in der Schule

aufmerksam machen, mehr nicht. Den eigentlichen Kampf hat jeder selbst aus-
zufechten: wohl dem, der die scharfgeschliffne Waffe zu gebrauchen in der Jugend
gelernt hat. Doch ich sagte vorhin, das Leben hat auch seine heitere Seite,
das ist die Kunst. Man muß aber diese Kunst nicht verstehn als Ausübung
einer bestimmten Kunst, der Dichtkunst, Malerei, Musik usw. Das ist eine Sache
für sich. Die Kunstbetrachtung im engern Sinne, d. h. das persönliche Verhältnis
des einzelnen Menschen zu bestimmten Kunstwerken setzt technische Kenntnisse
voraus und beruht auf dem Problem, ob und wie es möglich ist, die Gestaltung
des innern Erlebnisses eines andern — des Künstlers — auf Grund besondrer
Kunstgesetze nachzuempfinden und es als Besitz eignen künstlerischen Erlebnisses
zu erwerben und zu verarbeiten. Hier haben wir es nur mit der künstlerischen
Betrachtung der Welt überhaupt zu tun. Den Inhalt der Kunst bildet (im
Gegensatz zur allgemeinen Wirklichkeit) das Reich der Ideen, d. h. der Bilder,
die wir als etwas durchaus Wesenhaftes und doch nicht Wirkliches, physisch
Existierendes anschauen. Diese Bilder erfüllen unsern anschauungsbedürftigen
innern Menschen mit einem zwar nicht definierbaren, aber nichtsdestoweniger
einzig wertvollen tiefen Inhalt, während wir zu den Dingen, den physischen
Gegenständen dieser Welt nur ein äußeres Verhältnis haben. Diese Ideen
empfangen wir aber nicht bloß aus den sogenannten Künsten, die kann uns,
wenn wir nur dafür empfänglich sind oder sein wollen, jedes Ding geben, das
kleinste Infusorium so gut wie das ganze Weltall. Nicht nur in einem
Goethischen Gedicht, einer Beethovenschen Sinfonie oder irgendeinem Werke
der bildenden Kunst usw., nein, auch in jeder Landschaft draußen vor unsrer
Stadt können wir jene Ideen genießen; ein einsamer Feldweg, ein Wald, ein
Palast, eine verfallne Hütte, eine Gruppe spielender Kinder, ein erregter Volks¬
haufe, die Anmut einer schönen Bewegung, die groteske Erscheinung eines
lustigen Vagabunden, alles das sind solche Bilder, oder sie können es doch
sein, und tausend und aber tausende solcher Bilder umgeben uns alle jeden
Tag. Ganz besonders aber gehört dahin der Eindruck, den eine harmonisch
entwickelte Persönlichkeit auf uns macht, die Freude an uns sympathischen
Menschen, denen wir flüchtig in der Unterhaltung und kurzer Bekanntschaft
nahe treten, oder mit denen wir durch dauernden Verkehr in Familie und
Freundschaft verbunden sind. Wir freuen uns, wie sich derselbe Lichtstrahl in
dem Prisma der Individualität verschiedenartig bricht, und die gegenseitige
Achtung und Liebe überzeugt uns, daß das rote Licht darum nicht weniger
wert ist als das grüne, weil die Strahlen, die jenes hervorbringen, langsamer
schwingen als bei diesen. Und noch einer gehört hierher, der unzertrennliche
Begleiter jeder künstlerischen Seele, der unerbittliche Feind jedes Philistertums:
der Humor, ein Kind, wie Euphorion, und ein Gewaltiger zugleich, der Herz
und Kopf, seine ewig feindseligen Eltern, immer wieder aufs neue zu versöhnen
weiß durch die verstandesgewürzte Sprache seines göttlichen Gemüts. Das
alles gehört zu einer künstlerischen Betrachtungsweise, mit ihr finden wir die


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[0182] Politik in der Schule aufmerksam machen, mehr nicht. Den eigentlichen Kampf hat jeder selbst aus- zufechten: wohl dem, der die scharfgeschliffne Waffe zu gebrauchen in der Jugend gelernt hat. Doch ich sagte vorhin, das Leben hat auch seine heitere Seite, das ist die Kunst. Man muß aber diese Kunst nicht verstehn als Ausübung einer bestimmten Kunst, der Dichtkunst, Malerei, Musik usw. Das ist eine Sache für sich. Die Kunstbetrachtung im engern Sinne, d. h. das persönliche Verhältnis des einzelnen Menschen zu bestimmten Kunstwerken setzt technische Kenntnisse voraus und beruht auf dem Problem, ob und wie es möglich ist, die Gestaltung des innern Erlebnisses eines andern — des Künstlers — auf Grund besondrer Kunstgesetze nachzuempfinden und es als Besitz eignen künstlerischen Erlebnisses zu erwerben und zu verarbeiten. Hier haben wir es nur mit der künstlerischen Betrachtung der Welt überhaupt zu tun. Den Inhalt der Kunst bildet (im Gegensatz zur allgemeinen Wirklichkeit) das Reich der Ideen, d. h. der Bilder, die wir als etwas durchaus Wesenhaftes und doch nicht Wirkliches, physisch Existierendes anschauen. Diese Bilder erfüllen unsern anschauungsbedürftigen innern Menschen mit einem zwar nicht definierbaren, aber nichtsdestoweniger einzig wertvollen tiefen Inhalt, während wir zu den Dingen, den physischen Gegenständen dieser Welt nur ein äußeres Verhältnis haben. Diese Ideen empfangen wir aber nicht bloß aus den sogenannten Künsten, die kann uns, wenn wir nur dafür empfänglich sind oder sein wollen, jedes Ding geben, das kleinste Infusorium so gut wie das ganze Weltall. Nicht nur in einem Goethischen Gedicht, einer Beethovenschen Sinfonie oder irgendeinem Werke der bildenden Kunst usw., nein, auch in jeder Landschaft draußen vor unsrer Stadt können wir jene Ideen genießen; ein einsamer Feldweg, ein Wald, ein Palast, eine verfallne Hütte, eine Gruppe spielender Kinder, ein erregter Volks¬ haufe, die Anmut einer schönen Bewegung, die groteske Erscheinung eines lustigen Vagabunden, alles das sind solche Bilder, oder sie können es doch sein, und tausend und aber tausende solcher Bilder umgeben uns alle jeden Tag. Ganz besonders aber gehört dahin der Eindruck, den eine harmonisch entwickelte Persönlichkeit auf uns macht, die Freude an uns sympathischen Menschen, denen wir flüchtig in der Unterhaltung und kurzer Bekanntschaft nahe treten, oder mit denen wir durch dauernden Verkehr in Familie und Freundschaft verbunden sind. Wir freuen uns, wie sich derselbe Lichtstrahl in dem Prisma der Individualität verschiedenartig bricht, und die gegenseitige Achtung und Liebe überzeugt uns, daß das rote Licht darum nicht weniger wert ist als das grüne, weil die Strahlen, die jenes hervorbringen, langsamer schwingen als bei diesen. Und noch einer gehört hierher, der unzertrennliche Begleiter jeder künstlerischen Seele, der unerbittliche Feind jedes Philistertums: der Humor, ein Kind, wie Euphorion, und ein Gewaltiger zugleich, der Herz und Kopf, seine ewig feindseligen Eltern, immer wieder aufs neue zu versöhnen weiß durch die verstandesgewürzte Sprache seines göttlichen Gemüts. Das alles gehört zu einer künstlerischen Betrachtungsweise, mit ihr finden wir die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/182>, abgerufen am 24.07.2024.